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Читать книгу: «Wenn wir die Masken fallen lassen», страница 2

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4

Geräusche. Ein Presslufthammer dröhnte ununterbrochen. Und die Stimme der alten Dame. Dominant. Monoton. Sie schob sich in Roberts Gehörgang. Sie drängte die Bilder beiseite.

Dabei wollte er den Tagtraum wieder hervorholen. Das Bild der Schaukeln, die unaufhörlich in Bewegung sind. Immer wieder – vor und zurück. Vor und zurück. Du sitzt auf. Du pendelst. Ohne Schwung zu holen. Bis du schwebst. Was für ein befreiendes Gefühl! Angeschoben werden. Aufsteigen. Mit den Füßen nach dem Himmel greifen. Die grenzenlose Weite in sich aufnehmen. Dann der große Augenblick der Wende. Sich fallenlassen. Sich hingeben. Schwerelos sein, aber doch den Boden berühren können. Und erneut aufsteigen. Ganz von selbst. Bis man in die Wolken taucht. Bis man Zeit und Raum vergisst. Eine Vision: Im ganzen Land schwingen Schaukeln. Unzählige Perpetua mobilia. Wer abheben möchte, springt einfach auf. Dann steigt er höher und höher. Dann fliegt er. Ein ganzes Volk im Schwebezustand. – Nicht, wie die Menschen da draußen. Sie stapfen voran. Volle Tragetaschen, um die Freude nach Hause zu schleppen. Schwerstarbeit für ein bisschen Heiterkeit. Dabei wäre es so leicht: Aufsteigen, hochschwingen, schweben. Und loslassen. Alles, was war, hinter sich lassen. Nur der Moment zählt. Gewohntes wird fremd. Und das Geheimnisvolle, das Unvorhersehbare bahnt sich seinen Weg.

„Kalimera.“ Der Kellner des griechischen Restaurants holte Robert in die Realität zurück. „Einen griechischen Kaffee und einen doppelten Ouzo wie immer?… Du lange nicht hier.“ – „Aber ich komme doch immer wieder. Ach, schön dich zu sehen, Kostas. Wie geht`s euch?“ – „Ich haben viel Arbeit. Jeden Tag Gäste. Alexía zu Hause… In Kreta jetzt alles blüht. Schönste Zeit im Jahr.“ – „Ich weiß. Es duftet dann überall so geheimnisvoll.“ Robert lächelte. Er hatte einmal vor Jahren Kostas` Familie besucht. Es war Frühling. Ein Frühling, anders als in Deutschland. Heller und heiterer. Und wärmer. An jenem Abend gab es ein Dorffest. Auf dem Platz vor der Kirche spielte eine Kapelle. Die Dorfbewohner tanzten im Kreis. Ausgelassen. Zügellos. Robert schloss sich ihnen an. Er hüpfte und sprang im Klang der Gitarren und Bouzoukis. Wie ein Zorbas. Wie ein Heros des Sirtakis. Auf dem Heimweg tanzte er weiter. Er tanzte auf der holprigen Dorfstraße und hielt María, Kostas` Schwester, in den Armen. Der Sirtaki dauerte bis in die Morgenstunden.

Robert tanzte von jeher mit Leidenschaft. Er liebte es, sich zu bewegen. Frei und zwanglos. Und er liebte die Momente der Selbstvergessenheit. Aus sich herauszugehen, sich zu öffnen und sich zuzuwenden. „Denn das Tanzen hat mit Nähe zu tun… Und mit Berührung. Wenn man mit einer Frau tanzen kann, kommt man auch mit ihr durchs Leben“, erklärte Robert unlängst seiner Freundin Josi. „Denn… Ist das Leben nicht ein Tanz?“ – „Dann hättest du wohl erst mit Hella tanzen sollen.“ – Er hatte es versucht. Vergeblich. Was Hella fehlte, war die Lebensfreude. Meist schien sie Robert unbeweglich–unbewegt. So musste er von Anfang an mit anderen durchs Leben tanzen. „Weißt du noch?“, fragte er Josie „Die Nacht nach dem Dozentenkonzert? Wir konnten nicht aufhören, uns zu drehen… Mein Gott, ist das lange her. Meinst du, ich hätte damals um dich kämpfen sollen?“ – „Ich sag‘ dir mal was: Es ist schwer, dich zu halten“, entgegnete Josi. Denn Robert suchte die neue Erfahrung. Das Prickeln. Die Spannung. Und die Glut.

Doch mit Hella war das Feuer endgültig erloschen. Vielleicht hatte es nie wirklich in ihm gebrannt. Vor einigen Tagen holte Robert seine letzten Sachen ab. In der Wohnungstür war das Schloss ausgetauscht. Er musste den Schlüsseldienst rufen. Zum Glück war dann niemand zu Hause. Doch der Blick in das leere Kinderzimmer tat weh. Und Robert beschlich in jenem Moment eine Ahnung. Etwas stand ihm bevor. Besorgniserregend. Bedrohlich. Wie Hellas Worte auf seinem Anrufbeantworter. Einen Teil der Nachrichten hatte er gelöscht. Den anderen Teil überspielte er auf ein altes Band. Er bewahrte es auf. Sicher ist sicher. Vielleicht würde er es noch einmal brauchen.

Im Restaurant war es still geworden. Die alte Dame hatte gezahlt und war gegangen. Den Presslufthammer hörte Robert schon eine ganze Weile nicht mehr. – Er schaut aus dem Fenster. Draußen strömt der Fluss dahin. Nebelschwaden verdecken die Sicht. Am gegenüberliegenden Ufer ist der Dom in graue Schleier gehüllt. Sie geben ihm etwas Rätselhaftes. Etwas beinahe Ätherisches. Im Griechischen bedeutet Äther „Weite des Himmels“. Robert taucht seinen Blick in den Nebel. Er taucht ihn in das scheinbar Unsichtbare, die verborgene Weite. In das Unbekannte, das doch erkennbar ist. Für den, der durch schaut, der durchschaut.

Robert lächelte vor sich hin. Er kippte seinen Anisschnaps in den Kaffee. Dann prostete er Kostas von weitem mit der Kaffeetasse zu: „Jia mas.“ – Er würde wiederkommen. Eines Tages. Dann wird er in seinem neuen Leben längst angekommen sein. Ganz bestimmt. Als Robert ging, umarmte er Kostas: „Mach`s gut. Heute ist mein letzter Tag hier. Ich geh‘ weg. Für immer. … Sag María schöne Grüße.“

5

Katharina hatte ihr schönstes Kleid angezogen. Dazu trug sie rote Schuhe. Sie waren ein Geschenk. Ein Geschenk eines verflossenen Verehrers. Er hatte Katharina dann nie in den Schuhen gesehen. „Schenke keine Schuhe, sonst läuft der Träger eines Tages in ihnen davon“, sagte Katharinas Großmutter einmal vor Jahren. Mit einem Augenzwinkern. Doch Katharinas Glaube blieb unerschütterlich. Sie glaubte auch an eine Wiederbegegnung mit Robert. Schon damals, als er sie kurz vor der Ankunft in K. nach ihrer Telefonnummer fragte. Seitdem waren ein paar Wochen vergangen. Wochen einer zögerlichen Annäherung. Allzu zögerlich. Katharina war sich nicht sicher, aber etwas Wesentliches in Roberts Leben blieb ungesagt. Eine andere Frau? Sie musste es herausfinden. Heute Abend noch. Heute Abend nach dem Konzert.

Es war Roberts erstes Konzert nach ihrer Begegnung auf dem Bahnsteig. Die Einladung hatte Katharina erst vorgestern erhalten. „Wirst du kommen? Ich spiele nur für dich“, stand auf einem Zettelchen, das in der gefalteten Eintrittskarte lag. Auf der Karte klebte ein gelblich leuchtender Mondstein. „Mondsteine beeinflussen die weibliche Gefühlswelt und stärken hellsichtige Fähigkeiten“, erfuhr Katharina aus dem Lexikon. Robert hielt also auch am Klischee fest.

„Er befürchtet, ich könnte ihn durchschauen“, erklärte Katharina einmal ihrer Freundin Annette am Telefon. „Wahrscheinlich fühlt er sich nackt. Nackt und mir völlig ausgesetzt … Ohne Geheimnisse.“ – „Ist er denn wenigstens hübsch?“, fragte Annette. „Die Menschen werden ja ohnehin immer hässlicher… Ja, und außerdem: Musiker haben doch nie Geld.“ – “Na und? … Ich brauch‘ doch keine Villa.” – “Wenn du mich fragst … Ich hätte nichts dagegen.” Und so suchte Annette. Pausenlos. Ihre großen, dunklen Augen blickten ständig in die Ferne. Als winkte ihr von dort das Glück zu. Das Glück in Gestalt eines schönen Prinzen im Cabriolet.

Aber war Katharina nicht selbst auf der Suche? Und es kam ihr so vor, als wäre sie bisher nur ein kleines Stück ihres Weges vorangekommen. Nicht, dass es sie ruhelos von Ort zu Ort trieb. Nein, es war eher ein inneres Suchen. Wonach? Das ließ sich schwer beschreiben. Etwas trieb sie um: „Ich glaube, es sind Einsichten. Lebenseinsichten, die ich aufspüren will. Nennen wir sie doch einfach Erfahrungen“, stand in Katharinas Schreibbuch. „Archetypen von Erfahrungen. Wie es sie in den Märchen und Mythen gibt.“

Katharina schrieb hin und wieder selbst Geschichten. Auch für Robert hatte sie vor einigen Tagen ein Märchen geschrieben. Über einen armen Flötenspieler, der eine Prinzessin seine Kunst lehrt. Am Ende befreit er sie von ihrem Hochmut und ihrer Kälte. Robert gefiel das Märchen. Katharina musste es ihm zweimal vorlesen. „Ich höre dir gern zu“, sagte er. „Deine Stimme klingt wie das Rascheln eines Seidentuchs.“ Katharina versuchte danach vergeblich, sich das Geräusch eines Seidentuchs vorzustellen. „Weil du eben nicht Ohren wie eine Fledermaus hast“, erklärte Robert. „Fledermäuse haben nämlich ein ganz sensibles Gehör.“ – Ohren wie eine Fledermaus! Bei dieser Vorstellung konnte sich Katharina nicht mehr halten vor Lachen.

So, wie in dem Moment, als sie sich daran erinnerte. Sie saß in der Aula der Musikhochschule und fing an loszuprusten. Keiner beachtete sie. Denn es war ohnehin ziemlich laut um sie herum. Alle fieberten Roberts Auftritt entgegen. Und Katharina fieberte mit. Sie saß gleich in der ersten Reihe. Ihr sollte kein Ton entgehen. Kein Ton und keine Nuance seiner Mimik. Und sie wollte Roberts Händen zuschauen. Seinen Fingern, wie sie die Klappen des Saxophons berührten. Katharina zupfte an ihrem Kleid herum. Dann blickte sie auf ihre Schuhe. Rot war Roberts Lieblingsfarbe. Einmal würde er sicher zu ihr herüber blicken. Einmal mindestens.

Als Robert, begleitet von einer jungen Pianistin, die Bühne betrat, wurde es beinahe lautlos im Zuschauerraum. Nur ganz hinten hüstelte jemand verhalten. Dann begann jemand zu klatschen. Andere schlossen sich an, bis der ganze Saal bebte. Die beiden Musiker verbeugten sich. Erst, nachdem der erste Ton erklungen war, verebbte der Beifallssturm.

Katharina schließt die Augen und lauscht. Hin und wieder blickt sie auf. Sie schaut zu, wie Klänge erschaffen werden. Wie vier Hände Musik erzeugen. Aus dem Impuls des Augenblicks. Musik – sie erfüllt den Raum. Auch Katharina ist erfüllt von ihr. Und sie nimmt wahr. Sie fühlt sich ein. Sie spürt, wie die Künstler harmonieren. Zwei völlig ungleiche Interpreten, die im perfekten Einklang sind. Katharina hat längst die Musik ausgeblendet. Sie stellt ihre Sinne ganz auf das Betrachten ein. Auf das Sehen und die Einsicht.

Stunden später, als sie längst zu Hause war, schrieb sie in ihr Schreibbuch: „Musik. Zaghaft beginnt der Ton. Dann stirbt er ab. Er verendet lautlos, wie er gekommen ist. Ein zweiter erklingt – lockend, einschmeichelnd. Behutsam greift die junge Frau in die Tasten. Dann lauscht sie dem Echo, dessen Timbre sie ausgelöst hat. Das Klavier wird ihre Partnerin. Es spricht aus, was sie ihm einflüstert. Sie streichelt die Tasten. Zaghaft und verhalten. Als erahne sie nur die Dynamik, die in den Rhythmen und Tönen ruht. – Schrill setzt er ein, aufreizend. Es folgt eine Salve exzentrischer Töne. Sein Saxophon kreischt und ächzt. Es donnert und grunzt. Dann heult es auf und bricht jäh ab. So, als wäre es erschrocken, zu viel gewagt zu haben.

Sie lauscht, bäumt sich auf. Und wieder setzt sie an. Sie lässt die Tasten reagieren. Sie lässt sie loshämmern. Abgehackte Töne, die ganz am Ende in schwebende Klänge übergehen. – Wieder hakt sein Saxophon ein. Es zwängt sich dazwischen. Fordernd und einfühlsam, aufstachelnd und zurückhaltend, drängend und beschwichtigend. Wie ein Meister der Verführungskunst.

Die Instrumente treiben ein duales Spiel. Sie suchen ihren Ausdruck im Jetzt, das gerade war und im nächsten Moment entrückt. Klänge werden zum Gleichnis für Geist und Instinkt. Sie bahnen sich ihren Weg. Spielerisch-ringend: Harmonisch und dissonant, regelhaft und anarchisch, zukunftsweisend und dekadent. Ein musikalisches Liebesspiel. Bis es in ekstatischer Stille verklingt.“

Katharina hatte das Konzert vorzeitig verlassen. Mitten in der Aufführung. Es lag nicht an der Musik. Denn Roberts Art zu spielen, zu improvisieren, hatte etwas beinahe Magisches. – Und doch. Es war anders. Dieses Mal war es anders. Eine neue Facette kam hinzu. Eine neue Spielart. Etwas Intimes. Zuwendung, von der sie, Katharina, ausgeschlossen war. Blicke, die nicht ihr galten. Nicht ein einziges Mal.

„Musik ist wie eine Beziehung…. Oder wie ein Liebesakt“, hatte Robert ihr vor kurzem erklärt. „Man umgarnt sie. Man schmeichelt ihr. Bis sie sich öffnet und dir hingibt. Als Rhythmus. … Als Klang. … Oder Harmonie. Es ist, als ob man verschmilzt: Musiker und Musik.“

Katharina war fast den ganzen Weg zu ihrer Wohnung barfuß gelaufen. Nein, nicht gelaufen, gerannt war sie. Ihre Füße brannten. Sie schmerzten bis zum Kopf. Als sie an einem Papierkorb vorbeikam, warf sie ihre Schuhe hinein. Nun war sie wieder in ihnen davongerannt. Zum letzten Mal. Als Katharina zu Hause ankam, klingelte das Telefon. Hastig lief sie ins Wohnzimmer und ergriff den Hörer. Doch der Anrufer hatte bereits aufgelegt.

6

Lena fror. Sie stand in der Küche und rührte. Draußen tobte der erste Sommersturm. Hin und wieder ließ er das angekippte Küchenfenster zuknallen. Dann zuckte Lena zusammen. Sie lauschte. Dorthin, woher er kommen musste. Doch die herbeigesehnten Schritte blieben aus. Später blendeten sich die Raumgeräusche wieder ein. Vordergründig. Sie drückten auf die Ohren. Lena wollte das so. Die Teller im Geschirrspüler klapperten. Auf dem Herd kochte zischend das Wasser über. Die Stimme im Radio – sie ging im Rauschen unter.

Lena horchte und rührte. Sie rührte einen Pfannkuchenteig. Einen Teig, wie ihn ihr Vater immer zubereitete. Lena quirlte die klumpige Masse wie besessen und bekam Schluckauf dabei. „Schluckauf kriegst du immer, wenn jemand intensiv an dich denkt“, hatte ihr Großvater öfter zu ihr gesagt. Vor Jahren, als er noch lebte. Dabei lag dann so etwas Merkwürdiges in seinem Blick. Etwas Geheimnisvolles. Selbst die alte Küchenuhr tickte plötzlich auf rätselhafte Weise.

Jemand dachte also an Lena. Ihr Freund Markus? Mutter? Nein, dann doch lieber Vater. Vater. Wie sehr sie ihn vermisste. Seine Arbeit in L. musste eigentlich längst abgeschlossen sein. Doch sie hatte schon seit längerem nichts mehr von ihm gehört. Obwohl sie ihm ein paar Mal geschrieben hatte. – Keine Antwort. Das tat weh. ‚Vielleicht hat Mutter… Ach, was. So etwas würde sie niemals tun!‘ – Neulich erzählte Markus, dass sein Vater ihn jeden zweiten Sonntag zu sich holte. In sein neues Zuhause. Das teilte er mit einer sehr jungen Frau. Markus mochte sie. „Und dein Vater?“ Ruft er dich an?“ – „Ja, erst gestern“ log Lena und fühlte sich schlecht dabei.

‚Ach, Vater. Wo steckst du eigentlich? Und warum meldest du dich nicht mehr bei mir? – Aber sicher wird er bald wieder da sein. Bisher ist er doch immer wiedergekommen. Auch wenn Mutter und er gestritten hatten.‘ Und die beiden stritten oft. Meistens gleichzeitig. Jeder drängte sich vor, um sich zu behaupten. Mit Worten, die man später bereut. Hauptsache lautstark und eindringlich. Lena stand dann zwischen den beiden. Sie hielt sich die Ohren zu. Sie drückte so fest, dass ihre Ohren rauschten. Lena tat das, um die Worte abzubremsen. Damit sie nicht eindrangen. Damit sie sich nicht ausbreiteten. Nicht ausbreiteten bis an ihr Herz. Manchmal ließ sie auch das Radio dröhnen. So wie heute.

Meistens hörte ihr Vater dann auf zu streiten. Entweder fand er die Worte, die Lenas Mutter beschwichtigten, oder er ging. Tür zu. Weg war er. Auch tagelang. Doch wenn er zurückkam, buk er fast jedes Mal Pfannkuchen. Leckere Pfannkuchen. Mit viel Zucker. Der spülte den bitteren Geschmack des Kummers weg.

Lena durfte beim Backen immer zusehen. Manchmal half sie auch dabei. Dann rührten sie gemeinsam. Und sie lachten. Sie lachten viel. Lenas Vater war einfach cool. Der lustigste Pfannkuchen-Bäcker auf der ganzen Welt. Er machte eine Show für Lena. Eine Pfannkuchen-Jonglier-Show. Er warf den halbgaren Kuchen in die Luft. Eine Drehung. Und der Kuchen landete wieder mitten in der Pfanne. Mit der gebackenen Seite nach oben. Jedes Mal: Wurf – Drehung – Landung. Lenas Vater war ein Meister darin. Ein Meister der Umkehrung. Er stellte die Dinge vom Kopf auf die Füße und andersherum. Mit einem einzigen Wurf.

Lena musste dann Beifall klatschen. Das tat sie gern. Ihr Vater war eben genial. Ein genialer Verdreher. Anders als ihre Mutter. Für die müssen die Dinge so bleiben, wie sie sind. Einmal angefangen, wird eine Sache zu Ende geführt. Ohne Kompromiss. Auch wenn es so ungerecht ist. – Die Stimme ihrer Mutter drängte sich abrupt in Lenas Gedanken. Sie durchbrach die Geräuschkulisse: „… Frauen haben ihren Stolz. Mädchen auch. Sie kommen ohne Männer aus. Und ohne Väter…. Vor allem, wenn die Väter ihre Töchter sowieso nicht wollen …. Jetzt lass doch mal diese alberne Backerei. Das bringt ihn auch nicht zurück.“ – „Das ist nicht wahr! Ich glaub dir gar nichts! Du lügst!“

Lena stürmte aus der Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Sie verkroch sich in ihrem Zimmer. Eine Ewigkeit lang. Ihre Tränen schmeckten süß. Süß wie Vaters Pfannkuchen. Sie glaubte fest daran. Ganz fest. – Plötzlich zog Brandgeruch durch die Ritzen der Tür. Lena sprang auf und stürmte in die Küche. Sie schaltete den Herd ab und warf den verkohlten Kuchen in den Müll. Dann starrte sie auf die Herdplatte. Auf die leere Herdplatte. Was fehlte, war Vaters Jonglier-Show. Und es fehlte der Wurf. Der großartige Wurf, der alles umkehrte.

Doch weshalb musste Lenas Vater die Dinge dauernd ändern? Er wollte verdrehen. Umformen und umgestalten. Er baut auf und wirft um. Ständig. Aufbauen, umwerfen. Aufbauen, umwerfen. ‚Vater zerstört. Er ist ein Zerstörer. Deshalb ist er jetzt weg.‘ Was bleibt, liegt verkohlt im Müll. – ‚Diese verdammten Pfannkuchen! Sie von einer Seite zu backen, hätte auch genügt.‘

7

Sie verbrachten ein langes Wochenende im Norden. Robert hatte Katharina zu dem Urlaub eingeladen. Er kannte die Gegend gut. Sie war wie eine Heimat für ihn. Ein vertrauter Ort, wohin es ihn hin und wieder zog: das kleine, stille Dorf am Haff. Robert liebte diese Landschaft. Die weite Ebene, die sich vor ihm ausbreitete. Den Bodden am Horizont. Und die verlassenen Fischerhäuser mit ihren reetgedeckten Dächern. Im Sommer war es am schönsten hier oben. Wenn das Korn reifte. Wenn an den Feldrainen die Mohnblumen und die Gräser blühten. Und wenn sich die Abenddämmerung über das Land legte und den Himmel färbte.

Robert suchte an diesem Ort die Einsamkeit. Hier oben kam er zu sich selbst. Und er hatte die Ruhe und Muße, die er in der Stadt nicht fand. Oft saß er am Wasser. Er schaute auf die Wellen, die leise wippten, und lauschte. Er hörte den Möwen zu und dem Schilf im Sommerwind. Und er lauschte in sich hinein. In seinem Innern schuf er Musik. Harmonien und Dissonanzen. Stimmungen, die auftraten und sich verflüchtigten. Je nach den Launen der Natur. Und seinen eigenen. Meistens zog Robert Stifte und Papier hervor und schrieb. Oder er malte. Um die Klänge festzuhalten. Um sich zu Hause zu erinnern. So schuf er Landschaften auf seine Weise. Bildhafte Lautpoesie. Klangbilder aus Punkten, Linien, Kreuzen und Spiralen. Dazwischen setzte er farbige Worte. Spontan. Aus einem jähen Impuls heraus: Muscheln, Salz, Ostinato, Blau. Und in seiner Vorstellung sangen die Instrumente. Ihre Klänge schwollen an und verebbten wieder. So wie das Meer. Das Meer, das manchmal still und manchmal tosend ist.

Doch dieses Mal kam Robert nicht allein. Er wollte Katharina diesen Landstrich zeigen. Sie teilhaben lassen an der Langsamkeit. Und sie sollte bei ihm sein. Damit sie mit ihm gemeinsam die Zeit vergaß. „Hier oben braucht man nämlich keine Uhr“, erklärte er nach ihrer Ankunft. – „Was? Ich soll ohne Uhr durch‘s Leben geh‘n? … Nie und nimmer!“ – „Hey, nur dieses Wochenende. Versuch`s doch mal…. Komm…. Gib sie schon her. Deine Zeit ist bei mir gut aufgehoben.“ Robert hatte Katharina tatsächlich noch nie ohne Uhr gesehen. Selbst nachts behielt sie sie am Handgelenk. Als ihr einziges Kleidungsstück, wie sie es nannte. „Das gibt mir so ein Gefühl von Sicherheit“, meinte sie, als sie das erste Mal über Nacht bei ihm blieb.

Aber Robert war auf der Suche nach der Zeitlosigkeit. Wenn er ihr begegnete, zelebrierte er sie. Er gab sich ihr hin. Wie einem Ritus. Einer Zeremonie. – Es gab da eine einsame Stelle: Ein unscheinbarer Aussichtspunkt am Fluss in K. Dorthin war er früher öfter gefahren. Fast jeden zweiten Tag. Er setzte sich auf die alte, morsche Bank und schloss die Augen. Dann lauschte er dem Rauschen des Stadtverkehrs, das aus der Ferne tönte. Er saß da – eine Ewigkeit lang. Wie in der Trance. Verharrend und in sich ruhend. Wie damals – der Marokkaner.

Robert sah einmal auf einer Reise diesen alten Mann. Mitten in der Einöde. Im Nirgendwo. Der Mann saß auf einem Felsblock – bewegungslos – und schaute in die Ferne. Vielleicht blickte er aber auch in sich hinein. – „Dieses Bild … Ich hab’s nie vergessen. Kennst du das? Einfach abschalten. Du kümmerst dich um nichts….. Bis du wieder auftauchst… Und auf einmal siehst du die Welt … Du siehst sie mit ganz anderen Augen.“ – „Ja, das ist schön… Wie eine Reise. Eine Reise nach Innen.“ – „Aber man muss es auch wollen.“ – „…Und wagen…Ich glaube, viele haben Angst vor sich selbst.“ – „Wir nicht … Vor uns selbst nicht … und auch nicht vor dem andern.“

Sie schlugen ihr Zelt an einer schmalen Badestelle auf. Als es draußen kühl und dämmerig wurde, machten sie ein Feuer. Sie hörten dem Knacken des Holzes zu. Und sie lauschten den Geräuschen des Abends und der einbrechenden Nacht. Die beiden wärmten ihre Hände am Feuer und blickten in die Glut. Die Flammen warfen Schatten auf ihre Gesichter. Sie machten sie fremd und geheimnisvoll. Robert und Katharina redeten und träumten: Wie sie auf den Wellen schaukeln. Wie sie sich treiben lassen. „Ohne Ziel?“ – „Wofür? … Wir werden schon ankommen. … Irgendwo.“

Denn manchmal fühlt sich Robert wie ein Blatt im Wind. Das sich davontragen lässt. Tänzelnd und schwebend. Bis der Wind es nicht weiterträgt. Dann kommt der große Moment. Der Augenblick, der endlos wird. Das Blatt gleitet langsam hinab. Bis es landet. An einem geheimnisvollen Ort. Und irgendwann fliegt es weiter. – „Aber jetzt ist‘s anders. Mit dir, Katharina … Ich hab das Gefühl, dass ich angekommen bin … Das erste Mal.“ – Katharina sah ihn fragend an. – „He, glaubst mir etwa nicht?“ – „Vielleicht… Vielleicht auch nicht ….Es gibt da so ein Sprichwort … Warte mal … Ah, jetzt fällt’s mir wieder ein: Wer vor der Versuchung flieht, hofft heimlich, dass sie ihn einholt.“ – „Ich? Ich fliehe doch nicht! … Na, sagen wir: nicht mehr. Und … Was mal war, hab ich vergessen. Alles weg … Meine ganze Vergangenheit.“– „Meinst du, das geht? … Ne, ehrlich. Das ist ja illusorisch. Völlig illusorisch.“

Robert zögert. Die Gegenwärtigkeit gerät ins Wanken. Eine Sekunde lang. Für einen Moment, der alles umkehren kann. Doch Robert greift nach dem Augenblick. Er hält ihn fest. Fest umklammert. Und die Worte – die vertrauten Worte – kommen wie von selbst: „Du bist schön. Schöner als die Sterne da oben. … Hast du schon mal unter freiem Himmel geschlafen?“

***

Am nächsten Morgen nieselte es. Robert und Katharina liehen sich Räder und fuhren ins Nachbardorf. Sie hielten am kleinen Hafen an. Ein paar Boote waren am Steg befestigt. Sie lagen da – fast regungslos. Neben der Anlegestelle stand ein einsames Künstlerhaus. Es war in dünne Nebelschleier getaucht. Robert und Katharina liefen über den Bootssteg. Sie schauten dem Nieselregen zu, wie er malte. Wie er auf der Wasseroberfläche Kreise zog. Das Dach des Hauses spiegelte sich im Brackwasser wider. Es bewegte sich auf und ab, als der Regen stärker wurde. Weiter draußen wiegte sich das Schilf im leichten Wind. Robert und Katharina schauten in die Ferne. Dorthin, wo das Wasser und der Himmel ineinander übergehen. Wo sie verschmelzen. – „Komm, Katharina. Du musst unbedingt jemanden kennen lernen.“

Sie liefen durch das nasse Gras. Bis sie auf den Hof des Künstlerhauses. Dort schauten sie sich um. Ein Schild wies zum Eingang des Nebengelasses. Seine Aufschrift – grau und verblichen: Atelierhaus heute offen. Robert klopfte an die Fensterscheibe. Drinnen bellte ein Hund. Ein bärtiger Mann im bunt bemalten Kittel erschien in der Tür. „Robert! …. Mit dir hab‘ ich nicht gerechnet…. Ist tatsächlich schon wieder ein Jahr rum? Lass dich umarmen, mein Freund.“ – „Katharina, das ist Thomas. Und das ist Katharina….. Na, nun lass sie mal wieder los.“ – „Schön, dass wir uns endlich kennen lernen. Robert hat mir schon von Ihnen erzählt… Übrigens sind Sie seine erste Frau, die ich zu sehen bekomme. Und? Gefällt‘s Ihnen bei uns?“ – „Ja, sehr. Ich genieße die Ruhe. Und die Weite. … Wenn’s nicht grad‘ nebelig ist. … Sie haben sich wirklich ein schönes Fleckchen Erde ausgesucht.“ – „Ich bin vor Jahren hierher gezogen. Gleich zur Wende. Nach einem Urlaub. … Da bin ich einfach dageblieben. … Aber kommt doch rein. Wenn euch das Chaos nichts ausmacht.“

Sie gingen in das Atelier. Ein riesiger Raum mit Blick auf das Haff. Ein paar Sonnenstrahlen schienen durch die schmutzigen Fensterscheiben. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. In der Mitte des Ateliers stand ein langer Tisch. Ein struppiger Hund hatte sich darunter ausgestreckt. Er schnarchte. Auf dem Tisch lagen bunte Aquarelle. „Seht mal, das haben meine Studenten gemacht… Letztes Jahr….. In der Sommerakademie…. Aber schaut euch doch um. Ich freue mich immer, wenn sich jemand für meine Bilder interessiert.“ Sie füllten den Raum. In Stapeln lagen sie übereinander. Andere lehnten einfach an der Wand: Leinwände mit Bildern und Ölgemälden. Zeichnungen und Skizzen. Sie enthielten bizarre Strukturen. Eigenwillige Formen. Ansichten, denen der Betrachter eine ureigene Bedeutung verleiht. Einen eigenen Sinn.

„Schön“, sagte Robert. „Und heute wirken sie auf einmal ganz anders auf mich. Völlig anders als letztes Jahr.“ – „Du bist ja auch ein anderer geworden… Was ist schon absolut? … Nicht mal die Wahrheit. “ – „Ihr könnt ja richtig philosophisch sein.“ Thomas lachte und zündete sich eine Zigarre an. Der Qualm kroch durch den Raum. „Wollt ihr auch eine?“ Die beiden verneinten. „Echte Havanna. Mein Onkel hat sie mir vererbt…Hm, wie sie duften! Na, willst du doch?“ Aber Robert hatte sich das Rauchen abgewöhnt. Erst unlängst. Er wusste nicht, zum wievielten Mal. „Mensch, Junge, weißt du noch? Damals, als wir Studenten waren? Wir haben geraucht und gesoffen… Fast jede Nacht… Tja, wir sind älter geworden…. Und jedes Mal, wenn du kommst, ist schon wieder ein Jahr vorbei.“ – „Irgendwie hab ich das Gefühl… Also, die Zeit … Sie vergeht immer schneller. Deshalb bin ich ja da. Dass sie mal still steht. … Ich glaube, bei euch haben die Uhren keine Zeiger.“ – „Doch. Meine schon…Und sie tickt. Ständig. … Und laut.“

Es schlug zwei, als Robert und Katharina gingen. Im Atelier war die Luft inzwischen stickig geworden. Eine Wolke aus dickem Qualm schwebte im Raum. Der Aschenbecher quoll über. Ein paar Zigarrenstummel waren auf dem Boden verstreut. Es stank nach abgestandenem Rauch. Als Thomas die Tür öffnete, stürmte der Hund ins Freie. „Warte, Dicker. So warte doch. … Er holt mich nämlich hier raus… Ohne ihn wäre ich ständig am Malen.“ Thomas rannte dem Tier nach. Bevor er hinter dem Schilf verschwand, rief er Robert und Katharina noch einmal zu: „Ciao, macht`s gut. Und kommt bald mal wieder… Spätestens in einem Jahr.“ Am Ausgang wies Robert auf ein schwarz-rotes Bild: „Sieh mal. Das hat Thomas gemalt, als wir noch Studenten waren: das Zeichen für Yin und Yang…. Aber die Worte sind neu. Er muss sie erst vor kurzem geschrieben haben.“ – Leben – jetzt. Und etwas schaffen, was bleibt. – „Er hatte einen Tumor letztes Jahr. Die Ärzte meinen, er sei ausgeheilt… Doch man weiß ja nie…“

Auf dem Rückweg hing jeder seinen Gedanken nach. An einem abgeernteten Kornfeld hielt Robert an. „Warte mal, Katharina.“ Er pflückte eine Mohnblume am Feldrain und steckte sie in Katharinas Haar. „Eine Blume – schöner als die andere.“ Lachend fuhren die beiden weiter. Sie radelten an Wiesen und Kornfeldern vorbei. Ihre Räder holperten über den steinigen Pfad. Ganz am Ende bog der Weg in einen alten Gutshof ab. Ein paar Kinder tobten auf dem Gelände umher. Die Wirtin stand in der Tür und wartete. Als Robert und Katharina den Hof betraten, lief sie auf die beiden zu. Sie reichte Robert die Hand: „Moin-moin… Ich kenn‘ Sie doch. Sie waren schon mal hier.“ – „Ich komme jedes Jahr. Weil’s so schön ist hier oben.“ – „Die Gäste bleiben uns treu. Zum Glück! Aber die jungen Leute … Die gehen weg von hier … Meine Kinder sind alle woanders.“ – „Vielleicht kommen sie wieder. Vielleicht zieht‘s sie irgendwann hierher zurück.“ – „Dann gibt‘s dieses Dorf längst nicht mehr. Schau‘n Sie sich doch mal um: Hier wohnen ja nur noch alte Leute. … Haben Sie Kinder?“

Sie klingen nach. Drei Worte. Nur drei Worte. Und die Zeit dreht sich zurück. Was gestern war, versinkt im Jetzt und im Danach. Du kannst ihm nicht entkommen. Es ist ein Teil von dir. Ein Stück gelebtes Leben. Deine Vergangenheit – du trägst sie mit dir. Sie ist dein stummer Schatten. Deine Identität. …

Die Antwort lag wie Blei auf Roberts Lippen. Doch seine Worte klangen, als seinen sie leicht dahingesagt: „Doch. Ich hab‘ ein Kind … Sie heißt Lena. Meine Tochter ist dreizehn Jahre alt … Komm Katharina. Geh‘n wir rein…. Ich glaub, ich muss dir viel erzählen…“

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22 декабря 2023
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150 стр. 1 иллюстрация
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9783960086239
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