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Soll ich Ihnen mal sagen, was ich vom Leben halte? Ehrlich gesagt, nicht viel. Wenn Sie nicht ganz oben mitschwimmen bei den Großen und Reichen, haben Sie keine Chance. Man ist der letzte Dreck. Wenn Sie den Mund aufmachen, hört Ihnen kein Mensch zu. Wo finden Sie denn heutzutage noch Halt? Was sind Werte wert? Die hohen Politiker schaufeln in die eigene Tasche. Die Pastoren predigen Wasser und saufen Wein. Freunde verraten dich an den Erstbesten, der vorüberläuft. Ja, Freundschaft, diesen Zustand können Sie komplett vergessen. Kennen Sie das nicht auch, das Gefühl, durch alles alleine durchzumüssen? Kennen Sie nicht? Aber ich. Auf nichts ist Verlass.

7

Wolf hatte es sich in der Küche neben Erwin Kanter gemütlich gemacht. Es war Mittag geworden und der Pegel der Flasche Genever näherte sich stetig dem Flaschenboden. Allerdings hatten die beiden daran nicht allein gearbeitet. Auch andere Pensionsgäste hatten ihre Köpfe durch die Tür gesteckt und sich nicht lange bitten lassen.

»Ist das schön, wieder hier zu sein. Die paar Tage habe ich auch bitter nötig.« Wolf lehnte seinen Kopf an die Rückwand des blauen Ostfriesensofas, das mit seiner elegant-gemütlichen Form der Blickpunkt der Küche war. »Was gibt es denn im Bootsclub Neues?«, fragte er mit halb geschlossenen Augen seinen Wirt, der nebenbei auch 1. Vorsitzender des Vereins war.

»Ach, nichts, eigentlich«, antwortete Kanter. »Der Bootshafen ist im Moment voll mit Gastliegern, vornehmlich aus Niedersachsen und Holland. Die meisten bleiben nur eine Nacht und werden wie in den letzten zwei Jahren von Klaas Bengen >bewacht<. Es ist uns zwar noch nicht gelungen, ein Mindestmaß an Freundlichkeit aus ihm herauszulocken, aber er versieht seine Arbeit gewissenhaft. Bis wir einen Neuen finden, müssen wir halt mit ihm vorliebnehmen. Zurzeit ist er besonders knurrig. Sein Bootsmotor ist kaputt und er hat wohl kein Geld für die Reparatur. Er ist so ein richtiger Einzelgänger, aber harmlos. Wäre doch noch ein Job für dich. Im Sommer hier, im Winter in Bremen.« Erwin Kanter lachte.

»Du, ich könnte mir schon vorstellen, hier ein paar Monate im Jahr zu verbringen, aber sowohl mein Kundenstamm als auch meine Familie würden definitiv Einspruch erheben. So, schenk uns man noch einen ein, und dann geh ich an die frische Luft. Mal sehen, ob sich Jannis irgendwo herumtreibt.« Wolf hielt seinem Gastgeber auffordernd sein leeres Glas entgegen.

Der Wirt nahm die Flasche aus dem Gefrierschrank, und es ertönte ein sattes Gluckern, als er die beiden Gläser füllte. »Auf eine gute Saison!« Die beiden stießen an.

In diesem Moment steckte Henriette Kanter den Kopf zur Tür herein. »Jetzt hat mein Fahrrad doch schon wieder einen Platten. Erwin, los, sei so freundlich. Ich muss gleich ganz schnell in den Insel-Markt und auch noch zum Rathaus. Ich brauche dringend neue Veranstaltungskalender, und mit deinem Herrenrad kann ich einfach nicht fahren. Ich habe ja immer gesagt, kauf dir ein Damenrad, aber du …«

»Ja, Henriette, natürlich, Henriette, wird sofort erledigt, meine Süße.« Mit einer eleganten Schlenkerbewegung stand Erwin Kanter auf. »Lieber Wolf, wie du hörst, die Pflicht ruft. Ich schätze, wir müssen unsere gemütliche Runde auflösen.«

Auch Wolf blieb nichts anderes übrig, als seinen inneren Schweinehund zu ignorieren und sich an der frischen Luft zu regenerieren. So nahm er den direkten Weg zur Haustür, obwohl seine Beine den Weg die Treppe hinauf in sein Zimmer bei Weitem vorgezogen hätten.

Als er die Tür öffnete, blendete ihn die kräftige Sonne. Er legte seine Hände über die Augen und blickte über den Hafen. Dahinter konnte er bei klarster Sicht die Seehunde auf der Sandbank am Norderneyer Ostende als winzige Punkte ausmachen. Müssten bald auch die ersten Jungen dort liegen, dachte er. Spätestens im Juni sollte es so weit sein.

Er beschloss, um die Strandmauer zu laufen. Als er auf die Uferpromenade bog, musste er sich mit einem beherzten Sprung vor zwei Fahrradfahrern retten. In ein fröhlich lautes Gespräch vertieft, hatten sie sämtliche Verbotsschilder und auch ihn völlig ignoriert. Aber er hatte sie erkannt. Der Chef seines Lieblingsrestaurants nebst Gattin! Und das zu dieser Uhrzeit! Mittags! Da sollten die doch wohl besser in der Küche stehen. Mindestens, solange er sich auf dieser Insel befand! Da wollte er gleich mal Tacheles reden. Er machte sich auf den Weg zum Restaurant Bliev Sitten, das als letztes Haus im Ostdorf versteckt in den Dünen lag.

Er war schon ein gutes Stück gelaufen, als vor ihm zwei Männer auftauchten. Selbst aus der Ferne bot der eine von ihnen eine imposante Gestalt – groß gewachsen, rötliche Haare – und Wolf irgendwie vertraut. Je näher die beiden kamen, desto sicherer wurde er. Es war tatsächlich Roland Lütjens, 1. Hauptkommissar aus Bad Zwischenahn, der sich dort locker lachend auf ihn zubewegte.

Als Wolf ihn das letzte Mal getroffen hatte, war die Situation völlig anders gewesen. Einer seiner Klienten war während eines Aufenthaltes in Bad Zwischenahn umgebracht worden. Im Zuge der Ermittlungen war Roland Lütjens auf Wolfs Detektei gestoßen, und so hatten sie sich kennengelernt. Die Fotos, die Wolf von der Gattin des Opfers mit ihrem Freund geschossen hatte, hatten dem Kommissar damals sehr geholfen. Ihre Beziehung hatte damals auf gegenseitiger Akzeptanz gefußt, und zuweilen hatte sogar etwas wie Sympathie durchgeblitzt. Aber nachdem der Fall abgeschlossen und die Frau überführt gewesen war, hatten sie sich nicht wieder gesehen.

8

Roland Lütjens stutzte. Den Mann kannte er. Dienstlich, das war ihm klar, und darauf hatte er jetzt und hier keinen Bock. Zumal er seinem alten Freund Hendrik noch nicht von seinem Job erzählt hatte. Nicht, dass er seinen Beruf nicht mochte, das ganz und gar nicht. Er hatte nur einfach keine Lust auf die ständig wiederkehrende Reaktion bei der Nennung seines Berufes. »Mensch, Kommissar, bei der Kripo, erzähl doch mal, muss ja spannend sein. Hast du denn auch schon mal einen richtigen Mord gelöst? Wie sieht so einer denn aus, so ’n richtiger Mörder? Hast du schon mal geschossen?« Immer die gleichen blödsinnigen Fragen und immer die gleichen Antworten. Das hätte er gerne vermieden. Aber jetzt würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als Hendrik reinen Wein einzuschenken. Schon sah er den Mann winkend auf sich zukommen.

9

»Roland Lütjens, wenn das mal nicht eine Überraschung ist. Ich grüße Sie.« Lachend begrüßte Wolf seinen Bekannten. »Was führt Sie hierher?«

»Ein Tag Urlaub von der Familie«, erwiderte Roland Lütjens und wandte sich an den Mann, der neben ihm stand. »Hendrik, das ist Wolf Arnken, wir kennen uns beruflich.«

»Auch in der Verwaltung tätig?«, fragte Lütjens’ Bekannter neugierig.

Der Detektiv erkannte erstaunt, dass dieser Hendrik nichts von Lütjens’ Beruf wusste. Wolf würde ihn darüber nicht aufklären. Der Kommissar hatte Gründe für sein Schweigen, und irgendwann kam vielleicht der Zeitpunkt, an dem sich Lütjens daran erinnerte, dass Wolf in dieser Situation zu schweigen gewusst hatte. »Nee, ich arbeite in der freien Wirtschaft«, antwortete Wolf. »Wir haben uns mal in Bad Zwischenahn getroffen.« Was nicht gelogen war.

Schnell wandte sich das Gespräch dem Inselleben zu. »Kommt, Leute, es gibt nichts, was wir nicht auch im Sitzen erzählen könnten!« Wolf steuerte die nächste Bank an, ohne auf die beiden anderen zu warten. Die vielen kleinen Genever in seinem Körper verlangten dringend nach einem Päuschen.

Er verdrehte genießerisch die Augen, als er erfuhr, dass Hendriks Zuhause im Bootshafen lag. »Auf einem Schiff zu wohnen, stelle ich mir wildromantisch vor. Dazu mit einer schönen Frau, äh, natürlich mit meiner schönen Frau, nachts im Mondschein auf einem Boot, das sich im Takt der Wellen bewegt … was kann es Großartigeres geben.«

»Hast recht«, sagte Hendrik. Alle drei waren schnell zum vertrauten ›Du‹ übergegangen. »Ich habe den Wahrheitsgehalt deiner Worte gestern Nacht noch ausprobiert. Leider ist meine Angebetete heute Morgen verschwunden, noch bevor ich sie Rolle vorstellen konnte. Ich verstehe wirklich nicht, dass Britta sich nicht mal bei ihrem Team abgemeldet hat. Ich muss doch gleich noch mal zurück zur Mehrzweckhalle und nachsehen, ob sie eingetroffen ist. Wer soll mir denn sonst die Nacht versüßen?«

»Bei der Lösung dieses Problems kann ich dir leider auch nicht helfen.« Wolf lachte. »Aber vielleicht findet sich im Zweifelsfall noch eine andere nette Dame bereit, die Nacht auf dem Boot mit dir zu teilen.«

»Na ja, eigentlich nicht, aber … ach, vergessen wir’s«, druckste Hendrik herum, bevor er sich an Roland Lütjens wandte. »Wann fährt eigentlich deine Fähre zurück, Rolle?«

»Um siebzehn Uhr, ich will aber vorher noch ins Heimatmuseum, mich dort ein bisschen bilden.«

»Und ich werde mich nun auf den Weg ins Ostdorf machen und dem Bliev Sitten einen Besuch abstatten.« Wolf erhob sich. »Mach’s gut, Rolle, auf irgendwann. Und Hendrik, wir könnten doch mal zusammen ein Bier trinken gehen. Ich wohne im Haus Marianne bei Kanters. Mein Sohn hat sowieso Vollbeschäftigung, also, wenn du Lust hast …«

»Gerne, und falls du dir mal das Boot von innen ansehen willst, jederzeit. Komm einfach vorbei.«

»Auch nachts zum romantischen Mondscheinschauen?«

»Untersteh dich, da bist du einer zu viel.«

»Verstehe ich nicht. Du würdest also tatsächlich Britta den Vorzug vor einer nächtlichen gemütlichen Männerrunde geben?« Lachend schüttelte Wolf den Kopf, winkte den beiden zum Abschied und war in Gedanken bereits bei einem leckeren Essen in seinem Lieblingsrestaurant.

10

»Netter Mann, dein Kollege«, sagte Hendrik. »Solche Stammgäste sind Gold wert für diese Insel. Komm, ich bring dich noch zum Heimatverein, Rolle, und dann werde ich mal wieder zum Boot schauen.«

Einträchtig liefen die beiden zum alten Bummert, der die Ausstellung des Heimatvereins beherbergte. Vor der Tür verabschiedeten sie sich. Sie tauschten ihre Handynummern aus und beschlossen, sich nicht wieder aus den Augen zu verlieren.

Auf dem Weg zum Hafen versuchte Hendrik noch einmal, Britta zu erreichen. Diesmal hatte er Glück.

Sie meldete sich sofort nach dem ersten Klingelton, aber ihre Stimme klang ganz klein und belegt. Hendrik merkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ganz und gar nicht in Ordnung. »Britta, was ist los? Wo warst du die ganze Zeit? Ist was passiert?«

Er hörte Britta leise atmen, dann sagte sie: »Ach, Hendrik, ich musste mal kurz abtauchen. Mein Ex hat angerufen und gedroht, auf die Insel zu kommen. Und das wäre eine mittlere Katastrophe. Er lässt einfach nicht locker und wenn der seine Eifersuchtsanfälle kriegt, dann Gnade uns Gott. Ich bin gleich heute Morgen ganz früh aus dem Haus und um die Insel gelaufen. Damit mein Kopf wieder klar wurde. Ich habe nur der Chefin vom Küchenteam Bescheid gesagt, und die hat das leider nicht weitergegeben. Ich bin jetzt wieder in der Halle, da fühle ich mich sicher mit den ganzen Menschen um mich rum.«

Hendrik wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte, fragte dann aber: »Soll ich kommen?«

»Nee, lass man, ich habe heute den ganzen Tag so viel zu tun, wir treffen uns um neun bei dir auf dem Boot. Fünf Uhr schaffe ich nicht.«

Hendrik war froh, nicht ihre Probleme teilen zu müssen. Spaß haben war gut, aber Beziehungskisten? Davon hatte er die Nase gestrichen voll.

Am Anleger war Ruhe eingekehrt. Einige Wattwanderer saßen mit bloßen Füßen vor dem Verhungernix und warteten auf den Wattführer, der ihnen bei Niedrigwasser die Geheimnisse des trocken gefallenen Landstriches zwischen Insel und Festland näherbringen wollte.

Am Steg sah Hendrik sein Boot träge in der Sonne dümpeln. Gleich daneben lag die Achteran.

Aus der Ferne konnte er keine Bewegung auf dem Boot ausmachen. Aber je näher er kam, desto deutlicher schälte sich ein Paar endlos langer Beine heraus, die sich in ihrer Bräune deutlich vom Weiß des Vordecks abhoben. Hendrik dachte an Wolfs Frage nach ›einer anderen netten Dame‹, mit der er eine Nacht auf der Antje hätte teilen mögen. Ob da wohl so eine Art Vorsehung drin gelegen hatte? Tatsächlich war in dem Moment vor seinem geistigen Auge das verheißungsvolle Lächeln von Hedda Kuhlmann erschienen. Genannt Schnucki. Vorsichtig näherte er sich, bemüht, die Planken des schmalen Steges nur ein klein wenig ins Wanken zu bringen. Sozusagen gerade genug, dass Schnucki die Augen aufschlug, jedoch ihre laszive Körperhaltung ansonsten nicht veränderte. Er hatte Glück. Schnucki hatte keinerlei Hemmungen, sich von ihrem Bootsnachbarn ausgiebig betrachten zu lassen.

»Ist es nicht herrlich ruhig hier?«, seufzte sie nach einer Weile. »Klaus ist an Land und hat Wuffel mitgenommen. Welch ein erholsamer Nachmittag. Jetzt noch eine Tasse Kaffee und mein Glück wäre perfekt.«

Eines begriff Hendrik sofort: Dies war eine Aufforderung zum Tanz, wie sie deutlicher nicht sein konnte. »Kein Problem, in zehn Minuten bei mir auf dem Boot, einverstanden?«

»Bring den Kaffee doch lieber hier rüber. Ist gemütlicher.«

In diesem Moment kam Klaas Bengen angeschlürt. »Ist Ihr Mann da? Er wollte mir einen ganz speziellen Schraubendreher ausleihen! Komme schon zum zweiten Mal!«

Hedda Kuhlmann schüttelte den Kopf. »Nein, der ist erst heute Abend wieder auf der Insel. Du kommst am besten morgen noch mal vorbei.«

Klaas Bengen nickte, drehte sich um und verschwand wieder.

»Komischer Kerl«, sagte sie. »Hätte ich ihm ja auch geben können, aber wenn er sich so stur anstellt, bitteschön. Gott sei Dank sind nicht alle Männer so, der eine oder andere würde sich schon von mir was geben lassen, oder? Na, was ist, wo bleibt der Kaffee?«

Hendrik legte einen Zahn zu und verschwand unter Deck.

Oh Mann, oh Mann, dachte er, das ist ja vielleicht ’ne Granate. Ich will doch nur einen Kaffee mit ihr trinken und nicht auch noch die Koje auf der Achteran ausprobieren. Nachts Britta und tags Hedda, das schafft auch der stärkste Schipper nicht. Ich bin gespannt, wie ich aus der Nummer wieder rauskomme. Aber andererseits, wo liegt das Problem? Ich werde ganz cool das Getränk zu mir nehmen und dann abhauen. Termine, und so … kennt man ja. Auf der anderen Seite, wenn sich die Gelegenheit bietet, solch ein Superweib mal aus der Nähe, ganz aus der Nähe, und ohne lästigen Ehemann kennen zu lernen, wie blöd müsste ich dann wohl sein, diese Gelegenheit nicht zu ergreifen, dachte er, während das Wasser langsam durch den Filter sickerte.

Er hatte sich so auf Britta gefreut heute. Dann war sie einfach abgetaucht, hatte sich nicht gemeldet, und nun das: ein aggressiver Ex. Hendrik wollte eine richtig nette Beziehung ohne Verpflichtung, Altlasten und dem ganzen Kram.

Nach dem Kaffeestündchen mit Schnucki würde er aber vielleicht doch noch mal in die Halle schauen. Und Kaffeestündchen war auch so gemeint. So und nicht anders. Das war ihm in diesem Moment völlig klar geworden.

Vorsichtig stellte er die Kanne, Milch, Zucker und zwei Becher auf ein Plastiktablett und jonglierte es auf das Nachbarschiff.

»Komm rein, es muss nicht jeder seine neugierigen Blicke auf uns werfen.« Hedda hatte sich während seiner Abwesenheit ein Nichts von einem Top übergeworfen und winkte ihn in die Kajüte.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie hinter ihm die Tür zum Niedergang schloss.

11

Wolf machte sich auf den Weg zum Ostdorf. Links lag schützend der Deich und rechts von ihm auf den Hellerwiesen genossen einige Pferde ihre Ruhepausen, bevor sie vor den Kutschen wieder ihren Dienst versehen mussten. Zwischen ihnen flogen Möwen, laut kreischend auf der Suche nach Futter. Kurz hinter dem Hotel Dünenschlösschen erreichte er den Friedhof. Er bog ab und öffnete die schwere schmiedeeiserne Tür. Es war für ihn eine gute Tradition, das Grab der alten Familie Kanter zu besuchen. Es befand sich im hinteren Bereich in der Nähe einiger Soldatengräber. Hier lagen die Männer, deren Minensucher vor der Baltrumer Küste auf eine Mine gelaufen und untergegangen war. Alles junge Leute, so hatte man ihm erzählt. Der Gedanke, dass Jannis auch einmal so etwas passieren könnte, verursachte ihm jedes Mal Übelkeit. Seine Familie war ihm wichtiger als alles auf der Welt. Oft genug bekam er in seinem Beruf als Detektiv Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen mit, die er auch seinem ärgsten Feind nicht wünschte. Und schon gar nicht seiner Frau und Jannis.

Er setzte sich auf die kleine Bank und dachte nach. Viel Zeit hatten Anke und er im Alltag nicht zusammen. Aber wenn sie gemeinsam frei hatten, dann nutzten sie diese Stunden, füllten sie mit Leben. Das war nicht immer so gewesen. Vor einigen Jahren hatten sie sich fast auseinandergelebt, aber dann doch noch rechtzeitig die Notbremse gezogen. Was für ein Glück, dachte er, und lächelte, während er aufstand und weiterging.

Im Restaurant Bliev Sitten, oder auch »das letzte Haus vor Langeoog«, wie es der Besitzer Bernhard Ebeling liebevoll nannte, war jeder Platz besetzt. Das war kein Wunder, denn in dem kleinen Gastraum standen nur eine Handvoll Tische. Fröhliches Gemurmel schlug Wolf entgegen, als er eintrat. Das Licht, das durch die breiten Fenster fiel, umflutete die geschmackvolle Tischdekoration.

Eine Speisekarte suchte man hier vergebens. Drei Gerichte gab es täglich, immer wechselnd. Je nachdem, was der Ökohof hinterm Deich in Nesse oder die Netze der Fischerboote in Dornumersiel hergaben.

Dies alles hatte natürlich seinen Preis. Aber für Wolf waren Qualität und Ambiente in diesem Haus unschlagbar. Und das wollte was heißen, war er aus Bremen doch eine ganze Reihe guter Restaurants gewohnt. Dazu kam die Freundlichkeit der Besitzer. Bernhard Ebeling und seine Familie betrieben das Haus in der dritten Generation, und bald würde die vierte das Restaurant übernehmen.

Suchend schaute Wolf sich um. Keine Ebelings weit und breit. Das war noch nie vorgekommen, solange er sich erinnern konnte.

Doch dann konnte er mit einem Blick auf die Schwingtür zur Küche beruhigt aufatmen. Die massige Gestalt des Chefs, angetan mit einer blauen langen Schürze, balancierte drei Teller mit appetitlich angerichteten Seezungen in den Gastraum.

»Ja, ist denn das die Möglichkeit!« Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem breiten Lachen. »Da trudeln alle wieder ein, die mir liebe Gäste sind.«

»Auch wenn du nichts Besseres zu tun hast, als sie auf der Strandmauer über den Haufen zu fahren. Aber das klären wir noch.« Wolf blieb abwartend im Gastraum stehen, während der Wirt mit ein paar freundlichen Worten die Seezungen servierte und dann wieder zu ihm kam.

»Tut mir leid, wir haben dich echt nicht gesehen«, sagte Ebeling. »Das muss ich doch gleich mal Doro erzählen und unser Missgeschick mit einem besonders gelungenen Mittagessen wiedergutmachen. Setz dich eben draußen auf die Holzbank. Gleich wird ein Tisch für dich frei.«

Wolf tat wie ihm geheißen und genoss die Sonne. Sein Alkoholpegel hatte sich inzwischen einigermaßen reduziert, so dass dem Genuss einer exquisiten Mahlzeit nichts im Wege stand.

Zwar hatte er seinem Sprössling ein warmes Abendessen im Hotel Fresena versprochen, aber dem schaute er gelassen entgegen. Heute war Urlaub. Nächste Woche konnte das Fitnessstudio wieder an ihm verdienen.

»Möchtest du auch Seezunge?«, fragte Ebeling. Wolf zuckte zusammen. Er war fast eingenickt. »Oder ist dir das ostfriesische Deichlamm lieber? Als dritte Möglichkeit kann ich dir Spargel mit Norderneyer Seeluftschinken anbieten. Außerdem ist drinnen jetzt ein Tisch für dich frei geworden.«

Wolf folgte seinem Gastgeber und setzte sich an einen der massiven hellen Eichentische, jeder für sich ein Unikat in diesem Gastraum. Von seinem Platz aus hatte er einen herrlichen Blick in die Dünen. Fasane mit ihren halbwüchsigen Küken und Horden von Karnickeln zeigten unbekümmerte Futterlaune und ließen sich auch von den Gästen nicht aus der Ruhe bringen, die manchmal unerlaubt vom Wege abwichen und ihre Fährten kreuzten.

Er hatte Spargel gewählt, und es dauerte nicht lange, bis die weißen Stangen, auf den Punkt gegart, zusammen mit hauchdünn geschnittenem Schinken den Weg zu seinem Platz fanden. Kleine, goldgelbe Kartoffeln und Buttersoße rundeten sein Essen ab. Was kann es Schöneres geben, dachte er, als bei solch einem Wetter auf dieser Insel zu sein, fünfe gerade sein zu lassen und ein perfektes Essen vor sich zu haben?

»Schmeckt es denn?«, hörte Wolf eine dunkle Stimme hinter sich aus Richtung der Küche, und seine Rückenmuskeln zogen sich wie unter einem leichten Elektroschock zusammen. Diese Stimme konnte nur Doro Ebeling gehören, dunkel und heiser von unzähligen braunen Stumpen, die sie zu jeder Tageszeit in ihrer Nähe liegen hatte und mit Genuss rauchte. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er wegen genau dieser Stimme den langen Weg ins Ostdorf auf sich genommen hatte.

Gut, nicht nur dieser Stimme wegen. Auch Bernhard war ein Supertyp, das Essen einfach genial und die Einrichtung wunderschön. Ach ja, natürlich auch der Blick in die Dünen. Aber das i-Tüpfelchen war eben diese verqualmte, erotische, Wunder versprechende Stimme von Doro Ebeling.

Wolf versuchte gleichzeitig, die Spargelstange herunterzuwürgen, die sich zur Hälfte in seinem Mund befand, die Freude in seinem Gesicht in einigermaßen neutrale Bahnen zu lenken und das Wasserglas abzustellen. So ziemlich alles ging bei diesem Versuch gründlich in und auf die Hose. Dass Doro Ebelings maßloses, unbändiges Lachen einzig und allein seinem Missgeschick galt, machte die Situation nicht besser.

»Nun pass mal auf, dass du dich nicht auch noch verschluckst, sonst hätten wir dich heute bereits zum zweiten Mal auf dem Gewissen, und das ist nicht gut fürs Image.« In ihren grünen, von Lachfalten und von einem dicken schwarzen Kajalstrich eingerahmten Augen blitzte der Schalk. »Wir haben im Rathaus unsere Personalausweise und Pässe verlängern lassen. Warum, erzähle ich dir gleich. Dann dachten wir, wir tun etwas ganz Verruchtes und fahren mit unseren Rädern verbotenerweise über die Strandmauer nach Hause.« Doro Ebeling lachte. »Wir haben die ganze Zeit gehofft, dass der Inselsheriff uns nicht erwischt, und damit waren wir so beschäftigt, dass wir nichts anderes mehr im Blick hatten. Und wenn es dich getroffen hätte, hätte ich mir das natürlich niemals verzeihen können.« Ihre Stimmlage hatte sich um mindestens eine Oktave gesenkt und ihre Augen schienen sich in seinen zu verlieren.

Wolf hatte das Gefühl, vom Kopf an abwärts bis zu den Zehenspitzen gelähmt zu sein. Mit einer Ausnahme vielleicht.

Dies alles dauerte jedoch nur bis zu dem Moment, als Doro Ebeling fragte: »Und, was macht deine Frau? Schnippelt sie immer noch an der Menschheit herum?«

Schlagartig ließ das Lähmungsgefühl nach und er nahm seine Umgebung wieder in ihrer Gesamtheit wahr. »Leider, sie hat Dienst. Sie kommt demnächst aber mal und ich bin sicher, dass ihr erster Weg hierher führen wird.«

»Dann sollte sie sich aber mit dem Kommen beeilen, lieber Wolf. Wir machen es hier nicht mehr lange. Unsere Kinder werden nach der Saison den Laden übernehmen, und wir – ja, wir werden die Welt umsegeln für ein Jahr. Stell dir das mal vor! Daher auch unser Besuch im Rathaus, du verstehst? Das Boot wird gerade bei Abeking und Rasmussen gebaut. In Lemwerder. Der Paul, unser Koch, bleibt. Das ist schon mal eine sichere Bank, und so hoffen wir, auch wenn die beiden noch jung sind, dass das alles hier in unserem Sinne weiterläuft.«

Wolf merkte, wie ihn eine Welle der Enttäuschung durchlief. Baltrum ohne Doro und Bernhard. Das war nicht richtig. Er gönnte es ihnen ja, aber das war wie … ach, er wusste auch nicht wie. Es war einfach nicht fair.

Sie hatte wohl gemerkt, wie schwer es Wolf fiel, diese Neuigkeit zu verdauen. »Wir könnten euch ja in Bremen besuchen, wenn wir unser Schiff abholen. Was hältst du davon?«

»Ist gebongt. Und wenn ihr wiederkommt auch, bitteschön. Wir dürfen uns doch nicht aus den Augen verlieren. Das würde auch Anke nicht gefallen. Aber sag mal, das kostet doch bestimmt eine schöne Stange Geld, wenn ihr bei solch einer renommierten Werft bauen lasst.«

»Das ist richtig. Die Germania ist sündhaft teuer, aber genau richtig für unsere Ansprüche und wunderschön. Sie wird exakt nach unseren Vorstellungen gebaut. Wir haben da mein Erbe reingesteckt. Sonst wäre das auch nicht gegangen. Von einem Esslokal auf Baltrum kann man dieses Schiff nämlich nicht bezahlen. So, jetzt muss ich wieder in die Küche. Die nächsten Menüs warten auf mich. Wir sehen uns später. Bis dann.«

Nachdem Doro wieder verschwunden war, gelang es Wolf, sein restliches köstliches Essen mit Anstand zu verzehren. Bernhard blieb kurz an seinem Tisch stehen und sie verabredeten sich für den Abend im Strandcafé.

Wolf blieb noch eine Weile sitzen, genoss den Augenblick und beschloss, den Nachmittag faul in der Sonne liegend am Strand zu verbringen.

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18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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253 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839264249
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