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Schimmel und Rappe

Annette von Droste-Hülshoff und die »Rheingräfin« Sibylle Mertens-Schaaffhausen

DAS Münsterland für eine Weile zu verlassen, werde ihr sicher gut bekommen. Sobald sie nur die Trübsal des Alltags hinter sich gelassen habe, werde sich auch ihr gesundheitliches Befinden verbessern. Die Frau, der dieser ärztliche Ratschlag erteilt wurde, war nur 28 Jahre alt, litt aber schon an so vielen Gebrechen, dass einmal eine Freundin davon absah, sie alle aufzuzählen, und statt dessen lieber von einer einzigen Krankheit sprechen wollte, »für die man keinen rechten Namen findet«.42 Annette von Droste-Hülshoff wurde fortwährend von Migräneattacken heimgesucht, die sie tagelang aufs Krankenlager zwangen. Stand sie wieder auf den Beinen, setzten ihr Ohnmachtsanfälle zu, die von einer chronischen Tuberkulose herrührten. Schlaflosigkeit machte ihr die Nächte zur Qual, Schwermut verdunkelte ihre Tage. Da hoffte sie auf Erleichterung, als sie die heimatliche, bei Münster gelegene Burg Hülshoff, ihre »Jammerhöhle«43, endlich für einige Zeit verlassen durfte. Ein »Vormund und Geschäftsführer«, ohne den Annette nach Meinung ihrer Mutter »gar nicht in der Welt bestehen«44 könne, war bald ausfindig gemacht. Der Kölner Regierungsrat Werner von Haxthausen, ein Stiefbruder der Mutter, erklärte sich bereit, Annette für einige Zeit bei sich aufzunehmen. Nur wenige Monate zuvor hatte er eine deutlich jüngere Frau geheiratet. Elisabeth, genannt »Betty«, von Harff stammte aus einer hochangesehenen Kölner Familie und hatte neben einem großen Vermögen auch ihr feuriges Temperament in die Ehe eingebracht.

Haxthausen erhoffte sich von dem Besuch seiner Nichte, deren dezente Noblesse auf seine junge Frau abfärben zu sehen. Aber daraus wurde nichts: Kaum war Annette im Oktober 1825 in Köln eingetroffen, verließ sie mit ihrem, wie sie es nannte, »Herzenstäntchen« ein ums andere Mal das Haus in der Johannisstraße, um durch die besten Salons und Feiergesellschaften der Stadt zu ziehen. Um Annette für derlei Unternehmungen einzukleiden, schenkte Betty ihr zu Weihnachten ein »sehr schönes Ballkleid, nämlich weiß atlaßnes Unterkleid, und PETINET Ueberkleid, sehr schön mit Blumen besetzt« und »ein paar sehr schöne BRAÇELETS mit Amethisten«. Denn, so Annette an ihre Schwester Jenny, »Du glaubst überhaupt nicht, wie ELEGANT ich hier seyn muß. Die Tante geht in alle Gesellschaften, und da muß ich fast immer weiße Schuhe und seidne Strümpfe tragen.«45 Schon bald wurden die beiden Frauen in Köln zum Stadtgespräch. Die allseits bekannte Betty und der, wie Annette sich selbst einmal nannte, »Blaustrumpf von Stande«,46 der aber höchst unterhaltsam vorzusingen verstand und spannende Geschichten zu erzählen wusste – das machte Sensation. Das Adelsfräulein aus dem Münsterland dürfte auf die Kölner einen seltsamen Eindruck gemacht haben: Sie war von kleiner, zierlicher Gestalt und fiel auf durch ihren blassen Teint. Über der breiten und hohen Stirn quollen hellblonde, sorgfältig gebrannte Ringellocken hervor. Ihre Nase war lang und schmal, darunter überraschte ein kleiner, üppiger Mund. Den Kopf beugte sie stets etwas vor, um, ihrer Kurzsichtigkeit trotzend, den Gesprächspartner besser sehen zu können – gelegentlich behalf sie sich mit einer Lorgnette, um jenen Makel auszugleichen. Einen auffälligen Blickfang bildeten ihre leicht hervorstehenden hellblauen Augen, die einen merkwürdigen Widerspruch zu ihrer zurückhaltenden Gesamterscheinung signalisierten: Ein kraftvoller Wille zeigte sich darin. »Ob ich sie hübsch nenne?«, fragte sie einmal im Selbstgespräch. Um zu antworten: »Sie ist es zwanzig Mal im Tage und eben so oft wieder fast das Gegentheil.«47

Annette fühlte sich bei ihren Streifzügen mit Tante Betty ausnehmend wohl: Ihr Herz hüpfte. Sie konnte sich gut vorstellen, länger in Köln zu bleiben: »Wenn ich«, so schrieb sie an ihre Mutter, »noch Etwas von meinen niedlichen Sachen in dem Koffer (mit den bestellten Kleidern) mitbekommen könnte, um meine Zimmer auszuzieren z. B. das Kästchen von der Thielemann oder Eins von meinen schönen EAU-DE-COLOGNE-Gläsern, das wäre recht hübsch, doch wenn es nicht g a n z g u t geht, so ist es ganz einerlei. Aber vor Allem muß ich Etwas Noten haben – (die zwei neuesten Sachen, nämlich die von CARAFFA, die Variationen von Rode verlange ich nicht, denn ich weiß sie auswendig und bin sonst vielleicht gezwungen, sie an Jemand, den ich nicht kenne, auszuleihen.) und sonst noch Etwas, was ich noch nicht recht einstudirt habe, auch das Generalbaßbuch von Onkel Max.«48

Annette ließ sich außerdem ein Manuskript nachschicken, das sie schon seit sechs Jahren unter der Feder hatte: »Ledwina«, so lautete der Titel eines Romans, in dessen Mittelpunkt eine junge Frau aus dem Münsterland stand. Die an Handlung arme Erzählung sollte Annette nie vollenden, doch sie schuf mit Ledwina, die »so farblos wie eine Schneeblume« war,49 ein genaues Abbild ihrer selbst und ihrer seelischen Befindlichkeit. »In ihrer Brust arbeitete ein schweres, unruhiges Leben in tiefen Zügen«, so heißt es dort.50 Ledwina wird von ihrer eigenen Nervosität nahezu aufgezehrt. Zugleich erlebt sie aber ein großes Glück, weil sie durchlässig ist für die Regungen der sie umgebenden Welt.

Bevor es ans Schreiben ging, machte Annette in Köln noch weitere aufregende Erfahrungen: Ein neues Dampfschiff namens »Friedrich Wilhelm« sollte vom Stapel laufen. Hatte man bis vor kurzem nur große, dem Transport von Holz dienende Flöße oder auch von Pferden gezogene Schiffe, sogenannte Treidelkähne, den Rhein befahren sehen, so sorgten jetzt die Dampfschiffe für Aufsehen. Man erblickte in ihnen das Fanal einer neuen Zeit. Annette und ihre Gastgeber sahen das Schiff vorüberfahren »mit einer Schnelligkeit, die Einen schwindeln macht«. An ihre Mutter schrieb sie weiter: »Ein so großes Dampfschiff ist Etwas höchst Imposantes, man kann wohl sagen, Fürchterliches – Es wird, wie Du wohl weißt durch Räder fortbewegt, die, verbunden mit dem Geräusch des Schnellsegelns ein solches Gezisch verursachen, daß es auf dem Schiffe schwer halten muß, sich zu verstehen. Doch dieses ist nicht das eigentlich Ängstliche. Aber im Schiffe steht eine hohe dicke Säule, aus der unaufhörlich der Dampf hinausströmt in einer grauen Rauchsäule mit ungeheurer Gewalt und einem Geräusch wie das der Flamme bei einem brennenden Hause. Wenn das Schiff stille steht, oder wenn der Dampf so stark wird, daß er die Sicherheitsventile öffnet, so fängt das Ding dermassen an zu brausen und zu heulen, daß man meint, es wollte sogleich in die Luft fliegen. Kurz das Ganze gleicht einer Höllenmaschine, doch soll gar keine Gefahr dabei sein, und ich möchte diese schöne Gelegenheit wohl benutzen, um nach Koblenz zu kommen, was in fünf Stunden möglich sein soll.«51

Außerdem zeigte Annette sich noch von einer weiteren Besonderheit des Rheinlands fasziniert. Sie warf sich mit Schwung in den Karneval, den die Kölner erst drei Jahre zuvor, nach einem Verbot durch die französische Besatzungsmacht, zu neuem Leben erweckt hatten. Auf Initiative einiger Patrizier hatte sich ein sogenanntes Festordnendes Comité gegründet, das den Karneval, der zuvor ein höfisches Fest des Kurfürsten war, gleichsam auf die Straße holte. Der Rosenmontagszug wurde eingeführt, welcher am Abend in einen großen Ball überging. Mit Masken und farbigen Geckenkappen bekleidet, tanzte man den Mummenschanz. »Die Bälle«, so Annette an ihre Mutter, »sind hier äußerst BRILLANT […] und am Carneval-Montag wurde auf dem Kaufhause, genannt der G ü r z e n i c h, getanzt, wo mehrere tausend Menschen auf der REDOUTE waren, – es war wieder ein großer Aufzug, wie in den vorigen Jahren, der König Carneval hatte sich eine Braut aus dem Monde geholt.« Sie habe »einige Bälle besucht, wo ich aber den Leuten den Aberglauben, daß ich von wegen meiner SUBTILEN Figur, gut tanzen müßte, gelassen habe, nämlich dadurch, daß ich gar nicht getanzt habe, als allenfalls nurmahl herum gewalzt«.52

Die Unlust am Tanze dürfte vor allem der Zurückhaltung geschuldet gewesen sein, mit der Annette dem anderen Geschlecht begegnete. Annette war, so eine Freundin, »in der Jugend fast abstoßend gegen die Männerwelt«.53 Nur schwer konnte sie sich anderen Menschen mitteilen; sie fühlte sich dazu verurteilt, einsam zu sein. Ihr schien es nicht vergönnt, wie gewöhnliche Menschen den vorgezeichneten Entwicklungswegen zu folgen. Schon als Mädchen hatte sie sich von den anderen Kindern oft entfernt. Statt mit ihnen zu spielen, war sie lieber allein durch die Felder gestreift. Dabei hatte sie mit großer Hingabe Insekten bei ihrer Arbeit zugesehen oder die Adern eines vom Baum gewehten Blattes bis in seine feinsten Verästelungen betrachtet. Wenn sie Wolken beobachtete, die vor einem Gewitter aufzogen, dann ließ sie sich von diesem Schauspiel zutiefst berühren.

Wie schmerzhaft das Zusammensein mit anderen Menschen für Annette sein konnte, hatte sie als Jugendliche vor allem bei ihren regelmäßigen Sommeraufenthalten in Bökendorf bei Paderborn erfahren, wo die Großeltern der Mutterseite ein Anwesen besaßen. Dort traf man sich regelmäßig im großen Kreis der Familie – mit den Geschwistern der Mutter, den Vettern und Cousinen –, um miteinander zu musizieren, sich gegenseitig vorzulesen, zu spielen und Gäste zu empfangen. Offen und gelöst mit den anderen Familienmitgliedern umzugehen, wurde Annette allerdings verleidet, waren doch ihre herausragenden geistigen Gaben den übrigen Anwesenden ein Dorn im Auge. Eine junge, unverheiratete Frau durfte die Männer nicht an Intellekt übertreffen! Sie sollte sich gefälligst unterordnen, so wie die anderen Frauen in Bökendorf. Noch Jahre später erinnerte sie sich daran, »wie wir sämmtlichen COUSINEN Haxthausischer BRANCHE durch die bittere Noth gezwungen wurden, uns um den Beyfall der Löwen zu bemühn, die die ONCLES von Zeit zu Zeit mitbrachten, um ihr Urteil danach zu REGULIREN, wo wir dann nachher einen Himmel oder eine Hölle im Hause hatten, nachdem diese uns hoch oder niedrig gestellt. – Glauben Sie mir, wir waren arme Thiere, die ums liebe Leben kämpften […]. Ich war damals sehr jung, sehr trotzig, und sehr unglücklich, und that was ich konnte um mich durchzuschlagen.«

Manchen Mann lehrte Annette sogar das Fürchten. So erging es zum Beispiel dem Sprachforscher Wilhelm Grimm. Er war nach Bökendorf gekommen, um für die »Kinder- und Hausmärchen«, die er gemeinsam mit seinem Bruder Jacob herausgab, Stoffe zu sammeln. Die Haxthausensche Familie lieferte nicht weniger als 75 jener insgesamt 200 Märchen. Auch Annette wollte Grimm behilflich sein, doch stieß dieser sie brüsk zurück. Er habe, so Annette, »mir durch sein Misfallen jahrelang den bittersten Hohn und jede Art von Zurücksetzung bereitet, so daß ich mir tausendmahl den Tod gewünscht habe«.54 Grimm fand es »schade, daß sie etwas vordringliches und unangenehmes in ihrem Wesen hat, es war nicht gut, mit ihr fertig zu werden«.55 Es plagte ihn sogar ein Alptraum, in dem ihm Annette begegnete: »Sie war ganz in eine dunkle Purpurflamme gekleidet und zog sich einzelne Haare aus und warf sie in die Luft nach mir; sie verwandelten sich in Pfeile und hätten mich leicht blind machen können.«56

In Bökendorf musste Annette auch jene Erfahrung machen, die die Droste-Forschung später als »Jugendkatastrophe« bezeichnen sollte. Als die Dreiundzwanzigjährige erstmals in ihrem Leben ihre Fühler nach einem Mann ausstreckte, bestellte eine Tante gleich einen weiteren Liebhaber, dessen Werben Annette sich nur kurz hingab. Die Intrige war perfekt: Beide Liebhaber zogen sich von Annette zurück, und für die Familie war der Beweis geführt, dass das Adelsfräulein ein Flittchen ist, das sich allen Männern in die Arme wirft. Das Ereignis hinterließ bei ihr tiefe seelische Verwundungen. So schwer es ihr vorher gefallen war, sich Männern zu nähern, so unmöglich war es ihr künftig. Sie zog für sich den Schluss daraus, dass Liebe und Ehe ihr Los niemals sein können. Die Schuld aber suchte sie allein bei sich selbst. Ledwina ließ sie sagen: »Doch mein loses thörichtes Gemüth hat so viele scharfe Spitzen und dunkle Winkel, das müßte eine wunderlich gestaltete Seele seyn, die da so ganz hinein passte«, um zu schließen: »Wir suchen doch alle einmahl, […] aber ich habe aufgehört, denn ich weiß, daß ich nicht finde.«57

Gleichwohl erwies sich der Aufenthalt am Rhein für Annette als eine Lockerungsübung mit wohltuender Wirkung auf ihren Gesundheitszustand. Fern der Mutter ließ es sich ganz unbeschwert leben! Aber nicht nur das, ihr gelang es, im Rheinland ihren Gesichtskreis in einer Weise zu erweitern, wie es ihr in der engen Münsterschen Welt niemals möglich gewesen wäre. Sie lernte August Wilhelm Schlegel kennen, der als Professor für Literatur und Kunstgeschichte an der neuen Bonner Universität tätig war. Ständig tuschelten die Bonner über den berühmten Übersetzer der Werke Shakespeares und Calderons. Der Bruder des Philosophen und Schriftstellers Friedrich Schlegel sei ein »alter eitler Geck, der sich überall zum Narren halten ließ«,58 schrieb sein Bonner Student Heinrich Heine.

Wenn Schlegel, in eine Parfümwolke gehüllt und mit Glacéhandschuhen bekleidet, seine Vorlesungen hielt, dann mussten die entzündeten Kerzenleuchter, die auf dem Rednerpult postiert waren, fortwährend von einem Bediensteten poliert werden. Aber auch Annette kam auf ihre Kosten: » Schlegel hat einen schönen Ring vom König bekommen, und ist schrecklich eitel damit, ist überhaubt lächerlich eitel, trotz seines vielen Verstandes […]. Neulich ist ein Fleischer mit einer schweren Last Fleisch auf dem Rücken grade vor Schlegel gefallen, so daß man geglaubt hat, es wäre kein Stück von ihm ganz geblieben, er hat indessen, wunderbarer Weise, Nichts dabey gelitten, außer dem Verlust seines besten Röckchens, was überher eine andere Farbe bekommen hat.«59

Gewinn zog Annette auch aus den Gesprächen mit Eduard d’Alton, ebenfalls Lehrer an der Universität und ein vielseitiger Mann: Er war nicht nur gelernter Kupferstecher, sondern machte sich auch als Anatom, Archäologe und Zeichner einen Namen. Mit dem liebenswürdigen, zerstreuten Gelehrten verband Annette eine Leidenschaft für das Sammeln von Gemälden, Kupferstichen und Radierungen. Auch machte sie die Bekanntschaft des aus Südtirol stammenden Joseph Ennemoser, eines Professors für – wie es hieß – »Thierischen Magnetismus«. Ennemoser beschäftigte sich intensiv mit der Heilmethode der Magnetopathie, woraus sich für Annette, die ihre Krankheiten ausschließlich homöopathisch behandeln ließ, nutzvolle Gesprächsmöglichkeiten ergaben. Schließlich lernte sie auch die Brüder Sulpiz und Melchior Boisserée, die beiden berühmten Kunstsammler, kennen und tauchte mit ihnen in Gespräche nicht nur über die Geschichte der christlich-sakralen Kunst ein.

Annettes Loyalität gegenüber ihrer fordernden Mutter, besonders jedoch das schlechte Gewissen, mit dem die Vergnügungen im Rheinland fast zwangsläufig für sie behaftet waren, zerrten so sehr an ihr, dass sie nach einem guten halben Jahr, im April 1826, wieder in das Münsterland zurückkehrte. An Tante Betty schrieb sie: »Ich habe mich unbeschreiblich schwer von Cöln getrennt« und »als ich so mit meinem münsterischen Fuhrmann immer weiter fortfuhr, da war mir so zu Muthe, daß ich mir immer vorsagen musste ›du kömmst ja zu deinen Eltern‹, um nicht den ganzen Tag zu weinen.«60

Sie wurde nun wieder von der drückenden Welt ihrer Herkunft eingeholt. Das strenge, standesverhaftete Leben des katholischen westfälischen Adels ließ ihre Lebensfreude bald wieder erlahmen. Die Mutter, der, um mit Ledwina zu sprechen, »eine völlige Herrschaft über alle unpassenden Ausbrüche innerer Bewegungen in Handlungen und Worten« zu eigen war, führte ein strenges Regiment.61 Die nüchterne Frau unterstützte die literarischen Ambitionen Annettes nur in begrenztem Maße. Wichtiger war ihr, dass ihre Tochter sich am Haushalt beteiligte – eine gute Ehefrau sollte trotz ihres fortgeschrittenen Alters schon noch aus ihr werden!

Annette, die ihre Briefe an die Mutter als »deine gehorsame Tochter Nette« unterschrieb,62 strengte sich nach Kräften an, sich dem Willen der Mutter zu fügen. Aber wenn sie ihre Wünsche lange genug dem Willen der Mutter geopfert hatte, und wenn sie dem inneren Druck nicht mehr standhalten konnte, dann entlud sich ihre Wut in zügellosen Ausbrüchen. Um ihr erregtes Gemüt wieder abzukühlen, strich Annette daraufhin tagelang durch die Wiesen und Felder ihrer flachen Heimat. Dieses Streunen, von der Mutter Ledwinas abwertend als »bequemer Gedankenschlender« bezeichnet,63 gab Annette neue Kraft, um den Zuständen in ihrer »Jammerhöhle« wieder für eine Weile standhalten zu können.

Im gleichen Maß, wie Annettes Mutter das Hauswesen beherrschte, zog sich ihr Vater ins Schöngeistige zurück. Ihn hatte sie bei ihrer Rückkehr aus dem Rheinland »ganz verklärt neben seinen Orchisbeeten, wo einige nagelneue Sorten aus der Schweiz blühen«, angetroffen.64 Dieser hochgebildete, musische und weltfremde Mann, der wenig auf seine klangvollen weltlichen Ehrenämter gab – er war Offizier, später Rittmeister bei der Münsterschen Kavallerie –, vermittelte seiner Tochter wichtige geistige Anregungen. Ohne die Gespräche mit ihrem Vater, ohne den Austausch teils wahrer, teils erfundener Geschichten wäre Annette sicher nicht Dichterin geworden. In ihrem Prosafragment »Bei uns zu Lande auf dem Lande« hat sie ihren Vater anschaulich beschrieben: »Ich halte es für unmöglich diesen Mann nicht lieb zu haben – seine Schwächen selbst sind liebenswürdig. – Schon sein Aeußeres. Denkt Euch einen großen stattlichen Mann, gegen dessen breite Schultern und Brust fast weibliche Hände und der kleinste Fuß seltsam abstechen, ferner eine sehr hohe, freie Stirn, überaus lichte Augen, eine starke Adlernase und darunter Mund und Kinn eines Kindes, die weißeste Haut, die je ein Männergesicht entstellte und der ganze Kopf voll Kinderlöckchen, aber grauen, und das Ganze von einem Strome von Milde und gutem Glauben überwallt, daß es schon einen Viertelschelm reizen müßte ihn zu betrügen und doch einem doppelten es fast unmöglich macht; gar adlig sieht der Herr dabei aus, gnädig und lehnsherrlich, trotz seines grauen Landrocks, von dem er sich selten trennt […]. Der Herr liest viel, täglich mehre Stunden und immer Belehrendes, Sprachliches, Geschichtliches, zur Abwechselung Reisebeschreibungen, wo seine naive Phantasie immer den Autor überflügelt und er heimlich auf jedem Blatte ein neues Eldorado oder die Entdeckung des Paradiesgartens erwartet […]. Sonst hat der Herr noch viele Liebhabereien alle von der kindlichsten Originalität, zuerst eine lebende ORNITHOLOGIE (denn der Herr greift Alles wissenschaftlich an) neben seiner Studirstube ist ein Zimmer mit fußhohem Sand und grünen Tannenbäumchen, die von Zeit zu Zeit erneuert werden. Die immer offenen Fenster sind mit Draht verwahrt und darin piept und schwirrt das ganze Sängervolk des Landes von jeder Art ein Exemplar von der Nachtigall bis zur Meise; es ist dem Herrn eine Sache von Wichtigkeit, die Reihe vollständig zu erhalten: der Tod eines Hänflings ist ihm wie der Verlust eines Blattes aus einem naturhistorischen Werke.«65

So traf es Annette schwer, als ihr Vater schon kurz nach ihrer Rückkehr aus dem Rheinland, im Juli 1826, starb. Neben der Trauer über diesen Verlust hatte sie weiteres Ungemach zu gewärtigen: Da Annettes älterer Bruder Werner nach den Gepflogenheiten des westfälischen Adels den Stammsitz allein für sich und seine Familie beanspruchen durfte, musste sie gemeinsam mit der Mutter und ihrer älteren Schwester Jenny die Burg Hülshoff verlassen und in einen Witwensitz, das kleinere, eine Fußstunde entfernte Rüschhaus, umziehen. Der Mutter und den Töchtern blieb nur eine kärgliche Leibrente aus den Hülshoffschen Einkünften. Annette musste nun noch mehr im Haushalt aushelfen als zuvor. So war ihr für ihre literarischen Vorhaben noch weniger Zeit als früher gegeben. Die »Ledwina« musste immer wieder liegen bleiben. Das Zusammenleben auf engstem Raum wie auch Annettes Abhängigkeit von der Mutter verursachten fortwährend atmosphärische Spannungen.

Es sollte Annette jedoch bald wieder gelingen, in das Rheinland zu reisen. Dabei spann sie Freundschaft mit einer Frau an, die sie bereits bei ihrem ersten Besuch in Köln kennengelernt hatte: Sibylle Mertens-Schaaffhausen. Es war Tante Betty, die ihr die Patentante einer ihrer Töchter vorstellte. Mit der Tochter eines hochmögenden Patriziers und Bankiers verbanden Annette viele Gemeinsamkeiten. Nicht nur waren beide Frauen im Jahr 1797 geboren, sie hatten auch beide die für jene Zeit charakteristische Erziehung höherer Töchter erhalten. Beide komponierten und spielten nahezu virtuos Klavier, beide zeichneten gut und beherrschten mehrere Fremdsprachen. Annette wie Sibylle sammelten mit Vorliebe alte Münzen, Gemmen und Kupferstiche. Während Annette aufgrund ihrer beschränkten finanziellen Mittel dazu verurteilt war, eine begeisterte Dilettantin zu bleiben, konnte Sibylle das Vermögen ihrer Familie dazu verwenden, ihre Sammlung zu einem kleinen Museum auszubauen. Aber damit nicht genug, sie bildete sich durch Privatstudien zu einer Gelehrten in Archäologie und Kunstgeschichte weiter, vor deren Expertise selbst Universitätsprofessoren großen Respekt hatten. Die Freundinnen waren beide zudem ausgesprochene »Vatertöchter«: Zu ihren schöngeistigen Interessen waren sie durch die Anregungen ihrer Väter gelangt.

Für Sibylle, deren Mutter kurz nach ihrer Geburt gestorben und die in kühler Distanz zur Stiefmutter und den sechs jüngeren Halbgeschwistern geblieben war, wurde der Vater zum inneren Fixstern. Abraham Schaaffhausen war ein kunstsinniger und hochgebildeter Mann, der seine älteste Tochter gerne an seinen Gedanken und Interessen teilhaben ließ. Schon früh hatte die kleine Sibylle die anregende Atmosphäre, die von ihm ausging, aufgesogen. Wenn etwa der Kunstsammler Ferdinand Franz Wallraf bei Familie Schaaffhausen in der Kölner Trankgasse zu Gast war und mit dem Hausherrn über Archäologie und Kunstgeschichte sprach, dann saß, so eine Beobachterin, die kleine Tochter »mit einem Folianten oder einer Hand voll ›Heideköpp‹ (alte Münzen) am Boden, Bilder besehend oder mit letzteren spielend«.66

Sibylles wie auch Annettes Vater starben annähernd zur gleichen Zeit – für die Töchter eine schmerzhafte Erfahrung, über die sich beide intensiv ausgetauscht haben dürften.

Die gemeinsamen Prägungen und Interessen bildeten zweifellos den Wurzelgrund dieser Freundschaft. Wenn es zwischen den beiden Frauen aber mehrfach zu schweren Auseinandersetzungen kam – oft mit der Folge jahrelangen Kontaktabbruchs –, dann lag dies gerade an den unterschiedlichen Persönlichkeiten und auch an den gegensätzlichen Wünschen, mit denen sich beide konfrontierten. Ein unentwirrbares Knäuel einander widerstrebender Gefühle verstrickte sie miteinander: »mein liebes böses garstiges Herz« – so nannte Annette Sibylle einmal.67 Auf der einen Seite das blonde, auf den ersten Blick entrückt wirkende Adelsfräulein aus dem Münsterland, auf der anderen Seite die heißblütige Kölnerin, deren dunkle Augen jeden Menschen sofort für sich einzunehmen wussten. Wenn man aber die eine wie die andere näher kennenlernte, sollte in beiden Fällen der erste Eindruck bald durch gegenteilige Züge korrigiert werden: Während bei Annette dann die weichen und einfühlsamen Seiten hervortraten, traf man, wie ein Zeitzeuge bemerkte, bei Sibylle auf einen »Willen von fast männlicher Entschiedenheit«, eine Persönlichkeit »mit Ecken und Schärfen«, die »manches Strenge und Harte« hatte.68

Beide Frauen stellten sich der Aufgabe, ihre außerordentlichen Talente in einer Zeit zu entfalten, die der Entwicklung selbstbewusster, intellektueller Frauen engste Grenzen steckte – doch dabei gingen sie ganz unterschiedliche Wege: Einerseits Annette, die sich äußerlich in die Erwartungen ihrer Familie fügte und mit häuslicher Krankenpflege und praktischer Hausarbeit genau das tat, was von einer nicht verheirateten adligen Frau erwartet wurde. Sie verhielt sich, wie es in einem ihrer Gedichte heißt, »gleich einem artigen Kinde«, dem sie den Satz in den Mund legt: »und darf nur heimlich lösen mein Haar«.69 Sich selbst in der Dichtung Ausdruck zu verleihen – das sollte Annettes Weg in die Freiheit sein. Sibylle dagegen wählte ein ganz anderes Vorgehen. Sie zweifelte ständig an ihrer Ehe und trug schwer daran, Mutter von sechs Kindern zu sein. Sie entschied sich dafür, den Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellte, offen zu trotzen. Sibylle gab sich, wie ihre französische Freundin George Sand, gerne als Mann. Ihre Leidenschaft galt nicht Männern, sondern Frauen: Sie praktizierte die, wie man es nannte, antike Liebe und machte, im engeren Kreis zumindest, daraus keinen Hehl. In ihrem Salon sammelte sie Menschen um sich, die unkonventionell dachten und die Lebensweise der Gastgeberin achteten, wenn nicht sogar bewunderten. Sibylle suchte ihre Freiheit in der Extravaganz – diese auszuleben, war ihr als Inhaberin eines literarischen Salons nicht nur möglich, sondern es wurde geradezu von ihr verlangt.

Es war Annettes dritter, von September 1830 bis Juni 1831 währender Aufenthalt am Rhein, der ganz im Zeichen der Freundschaft zu Sibylle stand. Man traf sich auf dem Auerhof, einem großen Anwesen, das in dem südlich von Bonn gelegenen Plittersdorf lag. Hier verbrachte Sibylle regelmäßig die Sommermonate, nachdem sie das ehemalige Klostergut von ihrem Vater geerbt hatte. Der Auerhof bestand aus einem Gutshaus, das nah am Rhein lag, und einem weitläufigen, Äcker, Wiesen, Weingärten und Stallungen umfassenden Areal. Dieses Refugium war, wie Annette berichtete, Sibylles »Bijoux und Herzblatt«.70 Hier tauchte die Hausherrin in einen völlig unbeschwerten Zustand ein: »Ober mir prangt der Himmel im glänzendsten Azur, hin und wieder segeln kleine, leichte Herbstwölkchen, die Sonne sendet ihre blendenden Strahlen und färbt mit goldnen Tinten Rasen, Bäume und Feld. Die durchsichtigsten Schleier jenes Nebelflors […] fliegen spielend um die Turmruine des Drachenfelsen, und ganz fernher scheint in der Täuschung des brechenden Lichtes Rolandseck mir einen Gruß zuzunicken.«71 Im Auerhof konnte Sibylle ihre Neigung zu praktischer Betätigung ausleben. Sie liebte es, ihren Garten zu gestalten, zahlreiche Obst- und Gemüsesorten zu kultivieren und den Angestellten an Fleiß und Ausdauer nicht nachzustehen.

Annette hat ein literarisches Porträt ihrer Freundin angefertigt, und zwar in ihrer bereits erwähnten Erzählung »Bei uns zu Lande auf dem Lande«. Darin erzählt die Dichterin von ihrer Familie und verleiht ihrer Mutter Sibylles Züge – besser hätte sie den Wunsch, der Freundin nahe zu sein, wohl nicht zum Ausdruck bringen können. Die Hausherrin »mit ihrer südlichen Färbung, dunkeln Haaren, dunkeln Augen« wirke im Münsterland »wie eine Burgundertraube, die in einen Pfirsichkorb gerathen ist«. Sie sei eine »kluge, rasche, tüchtige Hausregentin, die dem Kühnsten wohl zu imponiren versteht«. Sie »hat Blut wie ihre Reben, sie ist heftig, ich habe sie sogar schon sehr heftig gesehen, wenn sie bösen Willen voraussetzt, aber sie faßt sich schnell und trägt nie nach«.72

Sibylle machte den Auerhof auch zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt, was ihr schon zu Lebzeiten die ehrenvolle Bezeichnung »Rheingräfin« einbrachte: Man trank Tee und aß Gebäck, rezitierte aus bekannten Schriften oder las aus eigenen Texten vor. Es wurde gesungen und Klavier gespielt. Und natürlich tauschte man den neuesten Bonner Klatsch aus. Professoren wie Eduard d’Alton und August Wilhelm Schlegel, der Düsseldorfer Akademiedirektor Wilhelm Schadow oder Sulpiz Boisserée waren gerngesehene Gäste. Der Dichter und Publizist Ernst Moritz Arndt schaute gelegentlich vorbei und bekannte sich in seinen »Wanderungen rund um Bonn und Godesberg ins rheinische Land« zur Schönheit des Ortes. Wer die Spuren Gottes in der Natur zu lesen wisse, »der setze sich in den Park der Frau Mertens […] hin und lasse die Herrlichkeit und Schönheit dieser irdischen Welt ruhig auf sich spielen. Ich wüßte dieser Stelle am ganzen Rhein nichts zu vergleichen.«73

Allerdings hatte Annette gar nicht geplant, ihre Zeit am Rhein ausschließlich auf dem Auerhof zu verbringen. Vielmehr beabsichtigte sie, oft in Bonn zu sein und dort aus dem Vollen zu schöpfen. Sie meldete sich zu regelmäßigen Besuchen beim Friseur an, erwarb ein Abonnement für das Bonner Theater und trat dem musikalischen Kränzchen der bekannten Komponistin Johanna Mockel, der späteren Ehefrau des Theologen und Kunsthistorikers Gottfried Kinkel, bei. Doch dann kam alles anders. Sibylle stürzte schwer und verletzte sich lebensgefährlich am Kopf. Mit ihrem Ehemann Louis, laut Annette »en Ochs und en Esel in eine Person, und en Elephant dazu«,74 war als Helfer nicht zu rechnen, Sibylles Geliebte Adele Schopenhauer, die Schwester des Philosophen, wegen Krankheit außer Gefecht gesetzt und die Kammerjungfer kurz zuvor wegen Trunksucht vom Dienst suspendiert. Also erklärte Annette sich bereit, die Freundin zu versorgen und den Haushalt zu organisieren. Sie trug dabei »viel Last […], soviel wie in meinem Leben noch nicht«. Sie ging bis an die Grenzen ihrer körperlichen Möglichkeiten. »Ich thue das Alles herzlich gern und befinde mich wohl dabei, aber müde bin ich oft, wie ein Postpferd.«75

Auch Sibylles sechs Kinder zogen Gewinn aus Annettes Anstrengungen. Eine der Töchter berichtete später, dass Annette »uns Kindern dann am Krankenbett sitzend die reizendsten Märchen erzählte, dieselben über dem Erzählen erfindend und weiter spinnend«.76

Damit aber nicht genug der Mühsal, die Annette auf sich nahm. Sie musste sich eifersüchtiger Angriffe von Sibylles Geliebter Adele Schopenhauer erwehren. Außerdem ließ Annettes Mutter nicht davon ab, aus dem fernen Münster beharrlich ihre Ansprüche zu stellen. Die Tochter solle umgehend nach Hause zurückkehren, da sie, die Mutter, der Unterstützung weit mehr bedürfe als Sibylle.

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22 декабря 2023
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