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Absurder Balken in Buddhas Auge

Mankhaliputta Goschala – Samana-Guru, Fatalist, Kauz (ca. 550–501 v. Chr.)

Er kam als Sohn eines Bänkelsängers in einem Goschala (Sanskrit: Kuhstall) zur Welt (wie ein halbes Jahrtausend später Jesus von Nazaret) und wurde 524 v. Chr. vom luftgekleideten Furtbereiter und Extrem-Asketen Vadahamana, dem späteren Nigantha Naataputta, dessen Schüler er unbedingt werden wollte, abgewiesen. Trotzdem setzte er ab sofort dessen Lehre in seinen Lebensalltag um, legte alle Kleider ab und wanderte, ebenfalls luftgekleidet, als Nackt-Samana weiter, lief diesem Nigantha Naataputta, dem nachmaligen Mahavira, also dem späteren Dschainismus-Stifter (557–485 v.Chr.), ständig wieder über den Weg und wurde von diesem Meister, dessen Lehre sich inhaltlich von Buddhas Lehre fast überhaupt nicht unterschied, dann doch noch als Schüler akzeptiert. Jahrelang teilte das Asketen-Duo alle Entsagungen besitz- und hauslosen Lebens. Durchdrungen von der Ansicht, daß alles a priori unrüttelbar festgelegt sei, ließ sich auch das nähere Schicksal voraussehen. Man wetteiferte als Prophetenpaar. Naataputta eilte im Sektor Zukunftsschau Mankhaliputta weit voraus; seine Voraussagen, z. B. daß heute eine gefälschte Münze im Bettelnapf landen werde, trafen oft sogar dann ein, wenn Mankhaliputta das Eintreffen einfallsreich zu verhindern suchte. Wer diesem Bettler nichts gab, dem weissagte er, daß sein Haus abbrennen werde, was dann sogar derart oft tatsächlich geschah, daß der Verdacht aufkam, der Bettelmann würde seinen Prognosen nachhelfen. Öfters vertrimmt ward er, weil er prahlte, Streiche spielte oder allzu offen bei einem Hochzeitszug auf die optische Unschönheit von Bräutigam und Braut anspielte. Weil Naataputta ihm nicht gegen die Prügel der Trauzeugen half, verließ Mankhaliputta seinen Meister und stieß später doch wieder zu ihm. Nächster Eklat: Mankhaliputta frug Naataputta, ob dieses blühende Sesamkraut wohl Frucht tragen würde. Der bejahte; da riß Mankhaliputta, zuungunsten der Prognose, die Pflanze hinterrücks aus. Später kamen sie nochmal dort vorbei, da hatte das Kraut nochmal ausgeschlagen und gab Naataputta recht, der seinen kauzigen Schüler nun endgültig davonjagte, um 517 v.Chr.

Jahre verbrachte Mankhaliputta auf Wanderschaft. Zur Regenzeit kehrte er stets in Savatthi im Haus einer Töpferin ein, vervollkommnete magische Fertigkeiten, mäßigte seinen Fopptrieb, baute seine Weltsicht zu einem enzyklopädischen Weltsystem aus, fand Laienschüler, beeindruckte sogar den Kosala-König und den Buddha-Freund Pasenadi. Den Begriff Karma wies er zurück, im Gegensatz zu den Wunschdenkern Mahavira und Buddha. Er durchschaute die Hindu-Doktrin, durch eigene Mühe und Übung aus der Illusion unzumutbaren Geburtenrecyclings herauszutreten, selber als Illusion. Unerbittlich betonte er den starren, völlig unbeeinflußbaren Weltlauf. Auf solcher Negativität ließ sich keine ethische Weltordnung bauen. Mankhaliputta verkündete: Nach 84.000.000 Weltperioden werde jeder, ob töricht oder weise, einerlei, was er vorher tat oder sein ließ, automatisch von jeglichem Leiden erlöst. Im 24. Jahr seines Samana-Seins versammelte Mankhaliputta seine sechs Hauptjünger um sich, um seine Fatalismuslehre zu kodifizieren. Gautama Buddha aber wies das System seines spirituellen Rivalen als allerschlimmste Irrlehre zurück. Allen anderen Religionslehren seiner Zeit gegenüber verhielt sich Buddha akzeptierend, ja, sozusagen tolerant; nie schimpfte er auf seine vielen Rivalen und Abweichlinge; einzig Mankhaliputta Goschala, dem er nie über den Weg lief, außer einmal beinahe, wurde ihm zum Dorn im Auge, zum Stein des Anstoßes, zur Zielscheibe verurteilender Rede.

Nach Jahren traf Goschala seinen Jugendfreund wieder, den inzwischen gewaltig aufgestiegenen Mahavira, der aber leider Goschalas Jugendnarreteien und tückische Prophetien weder vergessen noch verziehen hatte. Goschala beteuerte ihm, er sei nicht mehr der von damals; mehrere geistige Wiedergeburten hätten einen ganz anderen Menschen aus ihm gemacht. Mahavira aber reagierte spöttisch; da wallte und schäumte Mankhaliputta wutschnaubend auf: „Sei durchbohrt von meiner Zaubermacht! In sechs Monaten wirst du an Fieber sterben!“ Mahavira erwiderte unbeeindruckt: „Aber vorher du – und zwar bereits nach sieben Nächten!“ Mankhaliputta zog sich eingedüstert in die Töpferei von Savatthi zurück und begann fast sofort zu kränkeln, redete wirr, tanzte, sang, fieberte, kühlte den kochenden Leib mit nassem Lehm, delirierte, bereitete seine möglichst pomphafte Einäscherung vor, bereute seine Verstöße gegen den asketischen Kodex, gestand seinen Anhängern, er sei nicht erleuchtet und sterbe jetzt am Rückstoß seiner Verfluchung, widerrief seine Anordnungen zu bombastischer Beisetzung und verlangte umgekehrt, seine Leiche zu entweihen, zu bespucken und durch die Stadt zu schleifen, was die Schüler dann nur symbolisch ausführten, auf einem gezeichneten Grundriß der Stadt Savatthi. Verliefen dieses Verwünschungsduell und sein unrühmliches Ende tatsächlich so? Im buddhistischen Überlieferungsstrom verankerte sich davon nichts. Aber in der dschainistischen Tradition, die natürlich Naataputta pausenlos als großen Helden Mahavira verherrlicht, ward Mankhaliputta tendenziöserweise nur als abtrünniger Mahavira-Jünger gehandelt und entsprechend frühzeitig abgewertet, nämlich als wahnsinnig und krank. Vermutlich, ja sicherlich gab es damals vor Ort – wie in den Fällen Caligula, Herodes, Simon Magus oder Peregrinus Proteus – noch andere Versionen und ganz andere Tatsachen.

Die Adschvika-Schule, deren namhafteste Schuloberhäupter Mankhaliputta Goschala und Purana Kassapa hießen, starb in Nordindien im 2. Jh. v.Chr. aus. In Südindien hielt sie sich bis ins 14. Jh. n.Chr. Originalschriften erhielten sich so wenig wie von den Vorsokratikern, alles nur überaus lückenhaft rekonstruierbar aus Zitaten gegnerischer Schulen. Goschalas Erlösungslehre zeigte Querbezüge zur Lehre, wie sie separat im Abendland, siebenhundert Jahre nach ihm, von Origenes entwickelt wurde. Goschala stand unterbelichtet und düster in der Geistesgeschichte als konsequentester und frühester Pessimist, goldgrundloser als spätere Gnostiker, auswegloser als später der Theosoph, Synthetiker, Endzeitdenker und epochale Weltreligionsstifter Mani, aus arsakidischem Geschlecht im Partherreich, der Vater des Manichäismus (216–276 n.Chr.), und alle anderen Sektenchefs, Religionsstifter und Denkschulen. Goschalas Lehre wurde von späterem Okzident Fatalismus und Determinismus genannt, subsumierbar unter erkenntnistheoretischem Skeptizismus. Bis ins Jahr 2012 n.Chr. hatte es Goschala (Gosala) noch nicht geschafft, wenigstens in den Google hineinzukommen.

Worte von Mankhaliputta Goschala: Glück und Leid sind wie mit Scheffeln zugemessen, und der Kreislauf der Seelenwanderung hat seine vorherbestimmte Gesamtdauer. Nichts kann abgekürzt oder verschoben, keine Schuld verkleinert und keine Erlösung vorverlegt werden. Wie ein hingeschleudertes Garnknäuel abläuft, nur indem es sich abwickelt, geradeso werden Toren wie Weise, einfach indem ihre Seelen wie vorgesehen im Kreis wandern, das Leiden beenden.

Andere über Mankhaliputta Goschala: Ich kenne keinen, der so vielen Leuten zum Unheil, Schaden und Unglück wirkt wie Mankhaliputta, der Verrückte. Wie von allen gewebten Gewändern, die es gibt, ein härenes Gewand das schlechteste heißt – ein härenes Gewand, ihr Jünger, ist in der Kälte kalt, in der Hitze heiß, von schmutziger Farbe, übelriechend, rauh anzufühlen –, so, ihr Jünger, heißt von jeglichen Lehren der anderen Asketen und Brahmanen des Mankhaliputta Lehre die schlechteste. (Gautama Buddha)

Ein Hund, der kranken Wohlgeruch umarmte

Apemantus – Kyniker, Misanthropos, Parasit (17. Jh. n. Chr. bzw. ca. 415 v. Chr.)

Herkunft unbekannt, bzw. kann sie sich Shakespeares Timon von Athen nur so erklären, daß ein Lumpenhund in einem Anstoß von Brunst irgendeine Bettlerin überfallen und ihn zusammengeflickt habe; karamasowisch gesagt: Er entsprang der Nässe der Badstube; deftiger Volksmund nannte so einen gern „Hurensohn“. Demgemäß lautete eins von Apemantus’ späteren Lieblingsschimpfworten: „Bastard“, zu deutsch: Wechselbalg (seit entthrontem Adel und entthronter Rassenkunde kein Thema mehr, zeitweise). Schwere Kindheit gehabt zu haben umschrieb sich bei Shakespeare etwas poetischer: Nie umschlang ihn der weiche Arm des Glücks. Keiner schmeichelte ihm je; keiner brauchte ihn je. Ihn härtete die Zeit. Alles verwarf er; nichts fand er seines Denkens wert. Das Bett der Wollust winkte selten oder nie. Er hatte bestenfalls nur die Wahl, Schmeichler oder Schurke zu werden, und neigte bald der kynischen Philosophie zu, als Churlish Philosopher. Doch seine Mittel reichten kaum hin, sich einen Hund zu halten. So lief er selber als Hund herum und umarmte kranken Wohlgeruch. Seine fiese Eloquenz öffnete ihm dann den Zugang zu privaten Festivitäten oder sogar Sympathien des freigebigen Gastgebers Timon. Begrüßte dieser ihn in guten Zeiten mit „mein art’ger Apemantus“, replizierte dieser schlagfertig: „Spar, bis ich artig werde, deinen Gruß!“ Der philosophische Grobian begab sich immer wieder zu Timons Gelagen, weniger um zu schmausen, laut Selbstaussage, als sich dran zu weiden, wie Speise Schurken mästet und der Wein den Narren zu Kopf steigt: Alles nur hohler Pomp und Pasteten bloß – Fraß. Weder einem Schwur glaubte er, noch der Träne einer Dirne, noch einem scheinbar schlummernden Hund. Im geselligen Prosit witterte er bereits Verrat. Im getrunkenen Wein sah er die zu trinkenden Tränen und im Freudentanz das Herumtrampeln auf z.B. ihm. Hofetikette durchschaute er als lieblose Schleimerei – plädierte er etwa indirekt für Liebe und Ehrlichkeit? Eleganten Feldherren wie Alkibiades wünschte Apemantus (der Schmerzfreie) die Gicht an den Hals. Lords, die ihn nach der Zeit fragten und damit Uhrzeit meinten, antwortete er auf anderer Zeitebene: „Zeit ist’s zur Ehrlichkeit.“ Auch Leute, die er nicht kannte, nannte er Schufte, allein weil es sich um Athener handelte. Einmal kokettierte er damit, einem solchen das Gehirn einschlagen zu gehn; als man ihn erinnerte, daß darauf Todesstrafe steht, sagte er: „Ja, wenn auf Nichtstun Todesstrafe steht.“ Wären Menschen Hunde gewesen, hätte er sie etwas weniger gehaßt. Verglich man den Kyniker und Parasiten mit Hunden, antwortete er: „Der Köter, wenn der Esel ausschlägt, trollt sich.“ Er war sogar stolz drauf, nicht Timon zu sein, so als wenn dies eine Leistung oder Lösung gewesen wär. Andere Eigenschaften als pausenlos absolut alles absolut madig zu machen schien er nicht zu haben. Saß jemand im Elend, tröstete er ihn nicht, sondern riet ihm, endlich zu sterben. Gefragt „Wie gefällt dir dieses Gemälde, Apemantus?“ antwortete er: „Gut, weil es nichts Böses tut“, nicht nur ein superber Binnenreim, auch der raffinierteste, rahmensprengendste Trick, ästhetischen Smalltalk innerhalb einer Sekunde auf moralisches Feld umzuleiten. Zum Frieden, Freude, Eierkuchen bzw. Wein, Weib und Gesang bzw. Jubel-Trubel-Heiterkeit einer gutsituierten Gesellschaft von Speichelleckern und Hedonisten bildete Apemantus das Gegenthema, nötig oder unerläßlich als Galletropfen, Schmutzfleck, Spielverderber, mit bösem Blick und schwarzer Sicht; als einzige Stimme jener bitteren Wahrheit, daß alle Nutznießer, Schmarotzer und echten Freunde von vornherein falsche Fuffziger seien, sang er praktisch bereits das Eichendorff-Lied von Schumann: „Hast du einen Freund hinieden, trau ihm nicht zu dieser Stunde.“ Timon mahnte ihn einmal zu besserer Laune, so als handele es sich bei Apemantus’ dauerhaft unabänderlicher Konstitution nur um seine Tagesform. Indem Timon durch veränderte Umstände zum notorischen Menschenhasser wurde, bediente er sich stilistisch exakt des vorher oft eingeübten Apemantus-Tons, benutzte dessen Schimpfwörter à la „Planetenpest“, wurde also quasi zum verlängerten Arm des Apemantus, falls nicht selber zu einem Apemantus oder gar gesteigerten Apemantus. Apemantus hingegen avancierte zum potenzierten Hamlet. Hamlet und Timon brauchten äußerliche Anlässe, um Zyniker zu werden; Apemantus konnte sowieso in keiner Situation anders – der Unterschied zwischen umweltbedingten und konstitutionellen Zynikern. Indem Timon die Kurtisanen Phrynia und Tamandra „Huren“ schimpfte, outete er sich als vorchristlicher Spießbürger. Seinen derangierten Gönner fand Apemantus wesentlich aushaltbarer als früher, was dieser sogar zugab; also konnte Apemantus auch loben. Beide warfen sich nun aphoristischen Unflat an den Kopf, schimpften den andern „der Menschheit Wegwurf“. Indem Apemantus zugab, daß er quälen wolle, gab er zu, auch nicht besser zu sein als die Welt, bzw. mindestens genauso übel zu sein wie die von ihm als äußerst übel verketzerte Welt, die er, um die Menschen loszuwerden, gern ans Vieh verfüttert hätte. Um sich nichts Infektiöses zu fangen, wich er ständig allen Menschen aus, die ihn aber genauso oft in Gespräche verwickelt sahen. Seine scharfe Zunge geißelte dergestalt hämisch, extrem und nie anders als so negativ wie möglich, daß ihm das zum Reflex und Automatismus wurde, vorhersehbar, nervend, auf Dauer unoriginell. Er wurde zur Funktion seiner selbst, ein Kampfhund, der seinem permanenten Zuschnappen nie ausweichen konnte, ganz im Sinne des Buchtitels „Die Selbstverwirklichung des Hundes durch Beißen“.

Da in der Antike viele Kyniker, aber kaum Zyniker herumliefen, kam Apemantus vorchristlich lange nicht in Sicht. Erst im Barock vermochte er die zeitlose Scharfzüngigkeit entwickelter Menschheit auf höchste eloquente Spitzen zu treiben. Seine ausweglose Weltsicht ließ sich am ehesten in des Predigers Salomos Weisheit, daß alles eitel sei, zusammenfassen. Buddha, Gnostiker, Mani, Katharer wollten aus dem schwarzen Knast wenigstens noch metaphysisch hinausgelangen oder hinausführen; Apemantus und Consorten kannten keinen Notausgang mehr und stocherten bloß mit Witz und Geist in der Scheiße, aus der auch sie nie und nirgendwo herausguckten. Neben Timon stellte Apemantus sich glossierend auf wie Mephisto neben Faust. Selbst Panurgos, Swift, Voltaire, Roquairol, Leopardi, Talleyrand, E. M. Cioran und Harald Schmidt sahen neben Apemantus mehr oder minder konziliant aus. Kein Wunder, daß Karl Kraus dieses Menschenhaßdrama mit Lust Wort für Wort bearbeitete. Kindlers Literaturlexikon wandte 1988 das Wort „sauertöpfisch“ auf Apemantus an, was viel zu behaglich, mild und romantisch klang, „beißender Spott“ viel zu schematisch und präformiert. Daß Apemantus bellende Tiere besser fand als lügende Menschen, teilte er sowohl mit Schopenhauer wie mit biosophischen Sekten, die den Planeten von den Menschen reinigen wollen, um ihn Tieren und Pflanzen zurückzugeben.


Nichts fand Apemantus seines Denkens wert

Worte von Apemantus: Die Herrlichkeit des Lebens – alles Wahnsinn! – Wer lebt, der nicht gekränkt ward oder selber kränkte? Wer stirbt, der keinen Kratzer mit ins Grab nähm, gezielt von Freundeshand? – Von Liebe nichts in all den süßen Schurken und nichts als Höflichkeit! Die Menschenbrut renkt sich in Pavian und Affe noch hinein. – Welch Lärm ist das! Grins-Gesicht, den Steiß herausgekehrt! Sind denn die Stelzen jene Summen wert, die sie gekostet haben?

Apemantus über sich selbst: Ich will nicht, daß du mich willkommen heißt. Ich kam, damit du mich hinauswirfst. – Ich kam als Aufpasser mit Luchsaugen; sei gewarnt. – Mich peinigt, daß so viele ihre Fleischklumpen eintunken in eines Mannes Blut. – Reiche Gecken schlemmen; ich freß Wurzeln.

Andere über Apemantus: – Er ist ein Widerspiel der Menschheit. (Erster Lord, in Shakespeares „Timon von Athen“) – der nichts so liebt, als er sich selber haßt. (damals zeitgenössischer Dichter) – Ich möchte lieber eines Bettlers Hund als Apemantus sein. (Timon von Athen) – einer jener wunderbar destruktiven Typen, die es braucht, damit man vernünftig wird; lebte man wie er, dann würde man zweifellos alles dennoch Schöne vernichten, bloß unachtsam vielleicht, oder unfreundlich: Wollte man aber alles für unwahr halten, was er sagt, dann würde man in eine geträumte Welt geflüchtet sein; Apemantus müßte sich nicht allen so unsympathisch machen, um recht zu haben: aber es wäre ihm wohl nicht möglich, alle Tabus zu durchschauen, wenn er dabei sympathisch bleiben wollte, etwa wie ein bloßer Skeptiker, der ohne allzu hindernde Moralität zu leben versteht, weil auch er das meiste durchschaut; nun muß aber ja auch niemand mit Apemantus leben, denn er ist eine Figur in einem Stück; und es wäre jetzt schade, wenn sein Witz weniger Galle hätte. (Rolf Vollmann, 1997)

Alles ist bei mir verzeichnet

Al-Hakim bi Amrillah – Exzentriker, Fatimiden- Kalif, Religionsführer (985–1021 n. Chr.)

Als Fatimiden-Kalif Al Aziz Billah starb, vom Schlag getroffen, im Beisein seines elfjährigen Sohns Abu Ali al-Mansur, wurde dieses Kind, statt dessen volljähriger Schwester Sitt al-Mulk, von Interessengruppen sowohl zum Kaiser wie zum Papst gekrönt bzw. zum Kalifen und zum Imam (der Ismaeliten), nun des neuen Namens al-Hakim bi Amrillah (Der auf Geheiß Allahs herrscht; Hakim heißt auch Weiser, Wissender, Arzt). Sein zwielichtiger Erzieher Bargawan, Chef der Palastverwaltung, Obereunuch, setzte ihm den väterlichen Juwelenturban auf („Ich werde also den Gecko zum König über uns machen“), lavierte so erfahren wie raffiniert das Machtgerangel etlicher Berberstämme rund um den minderjährigen Potentaten und wurde im Jahr 1000 vom Sklaven seines pubertierenden Zöglings, der die Bevormundung satt hatte, auf einem gemeinsamen Spaziergang erstochen. Al-Hakim schaffte, um sich beliebt zu machen, zuerst Zölle ab, sorgte für Gassenbeleuchtung, nahm gern Bäder in der Menge, mischte sich verkleidet ins Volkstreiben, wofür später Harun al-Raschid bekannter wurde als er, obwohl göttliches Erdenwandeln nur beim al-Raschid aus Tausendundein Nächten und beim historischen al-Hakim belegbar ist, beim historischen al-Raschid hingegen nicht. Al-Hakim schickte Missionare durch ganz Nordafrika, ließ die Reinigung der Seelen predigen, kündigte die Einläutung eines neuen, nur von der religiösen Wahrheit regierten Zeitalters an, einer so numinosen wie nebulösen Mixtur aus Weltgericht und Himmel auf Erden, ohne sich, genau wie die stets wieder von ihren eigenen apokalyptischen Zeitangaben geprellten Zeugen Jehovas und Maya-Kalender, auf das genaue Datum festzulegen. Jahr um Jahr warteten alle auf den Einbruch des neuen überirdischen Aquarius-Äons. Jahr um Jahr kündigte der Herrscher an, der ultimative Termin werde bald bekanntgegeben. Nur mußten vorher noch Vorbedingungen geschaffen werden. Al-Hakim setzte hierzu, uneingedenk seiner christlichen Mutter, an die Stelle einer baufälligen Christenkirche, statt sie zu restaurieren, eine Moschee. Er benachteiligte Sunniten, schikanierte Andersgläubige mit Reitverbot, nötigte sie, textile Erkennungsmerkmale zu tragen, in Gestalt schwarzer Turbane und Gürtel; selbst im Bad und anderweitig nackt mußten koptische Christen ein Kreuz tragen und Juden Holzkalb und Glocke, also praktisch Aussätzigenglocke bzw. Juden- und Christensterne. Al-Hakim erließ ein Prozessionsverbot in Jerusalem am Palmsonntag, verbot, Ostern und Pfingsten zu feiern, beschlagnahmte Kirchengüter, ließ den christlichen Chef der fatimidischen Finanzverwaltung köpfen und Kirchen in Kairo und Damaskus zerstören. Vorwand: Den pyrotechnischen Trick, mit dem das Heilige Feuer entzündet wurde, deklarierte er als Schwindel und Gotteslästerung. Er ließ alle Bordelle schließen und jede Musik verbieten. Der oströmische Kaiser Justinian verbot 529 n.Chr. Philosophie und Würfelspiel; Hakim verbrannte Lauten und Schachbretter, konfiszierte private Waffen und hätte Photoapparate eingezogen, wenns schon welche gegeben hätte. Auf Bagatellverstöße stand Prügelstrafe. Stufenweise fand Verschärfung statt – vorauseilend parallel zu Judengesetzen ab 1933: Erst durften Frauen nur schmucklos, dann gar nicht mehr raus, erst nur bekleidet baden, dann überhaupt nicht mehr. Sogar die Lautstärke weiblicher Trauerklagen an frischen Gräbern erfuhr gesetzliche Drosselung; später durften nur noch Männer auf den Friedhof, die dann ebenfalls Ausgeh- und Rumstehverbot erteilt bekamen. Erst wurden nur Gerstenbier, Wein, Hirsebier, 5000 Honigfässer in den Nil gekippt, dann gar Honig und Rosinen rationiert, dann verboten, auf daß keiner Honigbier brauen könne. Al-Hakim trimmte eine ganze Gesellschaft per Paragraph zum Zwangsasketen. Er hielt alle auf Trab durch ständig wechselnde Verbotszurücknahmen, vorübergehende Lockerungen und neue Verschärfung. In diesem Exzentriker schienen mehrere Seelen zu leben. Gerüchte schliefen ein und lebten auf, der Kalif sei wahnsinnig geworden. Plötzlich wurden sogar Lustwandeln, Ausflüge, Senfkohl, Picknick in der Wüste und Sonnenbaden mit Sonnensegel am Nilufer verboten. Einzig das Verbot des Nationalgerichts Fischsalat – fadenscheinige Begründung, das sei die Leibspeise verpönter Kalifen der Vergangenheit gewesen – ließ sich nicht durchdrücken; gleichwie es im Dritten Reich nicht gelang, allen feuchtfröhlichen Tanzmusik- und Schlagerfans Richard Wagners Nibelungen aufzudrücken. Lärmempfindlicher als Wallenstein, erließ al-Hakim, genau wie tausend Jahre später Napoleon 1798 und dann Saddam Hussein in Bagdad, erst ein Bell-, dann ein Hundeverbot in Kairo. Mißtrauischer als Saddam Hussein, Stalin, Iwan der Schreckliche und Stauferkönig Friedrich II., grausamer als Richard III., befehligte al-Hakim eine berüchtigte schwarze Elite-Einheit, afrikanische Söldner und Killer.

Trotz des arabischen Sprichworts „Wenn dir einer erzählt, er hätte einen Berg versetzt, so glaube es getrost, aber wenn dir einer sagt, er habe seinen Charakter geändert, so glaube es nicht“ präsentierte al-Hakim 27-jährig plötzlich eine unverhoffte, wenig zu ihm passende Charakteränderung. Von heut auf morgen zeigte er keine Grausamkeit mehr. Demütig niedergeschlagenen Auges schaffte er den Trommelwirbel, der seine Auftritte anzukündigen pflegte, ersatzlos ab, ebenso auch die obligaten Unterwerfungsformeln, Ehrentitel und Fußküsse seines Gefolges. Statt prunkvoll und insignienbehängt hoch zu Roß, ritt er nur noch als Büßergestalt auf einem Esel, in schwarzem härenen Derwischgewand, mit schulterlangem Haar. Plötzlich tauchte er ohne Leibwache auf Märkten auf. Das gebeutelte, kaum aufatmende, musiklose Volk blieb skeptisch, unsicher, gespalten. Hatte der Werwolf Kreide gefressen wie später Gaddafi und ließ sich à la Saddam Hussein scheinheilig auf dem Gebetsteppich filmen, oder war er in den Sog stilechter Katharsis geraten und wirklich erleuchtet worden? Entweder erlebte al-Hakim, sobald er sich neuerdings auf den Hügel Mokattam zurückzog, unweit von Kairo, alldort göttliche Zustände, ohne Hofstaat, nächtelang, ganz allein – denn sadistische und mystische Gaben müssen einander nicht ausschließen –, oder er drehte dort Auszeit-Däumchen, und alles war nur ein Werbetrick, um Legenden auszulösen, er spreche dort mit Allah, und Allah mit ihm, er sei also ein neuer Prophet. Welch seltsame Mose-Variante! Bevor er von seinem persönlichen, nicht äußerst gipfelragenden Sinai zurückkam, hatte er, statt neue Gesetzestafeln mitzubringen, auf eigene Hand sämtliche Strafgesetze hausgemacht erlassen und verschärft, während er sie jetzt eher wieder lockerte, das Alkoholverbot sogar zeitweise aufhob, nämlich als ihm sein Leibarzt Wein gegen seine labile Gesundheit und chronische Schlaflosigkeit verschrieb. Al-Hakim verkündete ganz im Sinne arabischer Gelehrtenkultur: „Alles ist bei mir verzeichnet“, so als sei er einer jener seltenen Auserwählten, die in Dr. Rudolf Steiners allumfassende Akasha-Chronik Einblick hätten.

Endlich, am 30. 5. 1017, bei Sonnenuntergang, rief Kalif al-Hakim bi Amrillah den Beginn der neuen Epoche aus, das wahre Zeitalter Allahs. Keiner müsse mehr Angst haben, versprach er großmütig, schraubte plötzlich auch die Demut zurück und erschien, hochgeschaukelt von hocheloquenten Propagandisten, als auf Erden wandelnder Allah. Ins frisch entstandene Drusentum sickerten Inkarnationslehren ein. Flächendeckend weiterlaufende Missionierung hatte ab sofort moderat zu verlaufen. Der mittelalterlich rigorose Machttypus al-Hakim führte sogar relative Glaubensfreiheit ein, schier modern-demokratischfreiheitlich anmutend, was nicht jedem Musulman behagte. Nur vermischte sich das humane, ja moderne Prinzip Freiwilligkeit paradox mit bürokratisch gestarteten Fragebogen- und Bescheinigungsaktionen. Ein hier nicht mitgewachsener, wie gehabt sehr herkömmlich funktionierender türkischer Missionar, Nashtakin al-Darazi, Stifter der Drusen, der die Unterschriften neuer Schäfchen weiterhin mit der Knute eintrieb, nämlich mit al-Hakims alten Methoden, veranlaßte den geläuterten Kalifen, nochmals cholerisch aufzuschäumen, wie vormals täglich, und das kaum erprobte Zeitalter leuchtendster Wahrheit kurz auszusetzen, bis der erfolgreiche, strenge, unbeliebte Glaubensbekenntnis-Werber hingerichtet war und aufs neue die neue herrliche Zeit ausgerufen werden konnte – die kaum lange vorhielt. Denn alsbald fielen al-Hakims Truppen aus unerfindlichem Grund, wohl nur wegen einer Anti-al-Hakim-Flugblattaktion, über die kulturgesättigte Altstadt Fostat her, plünderten, brandschatzten – eine sinnlos amplifizierte Kollektivstrafe, schier Kristallnacht, frei nach dem Legenden-Herodes, alle erreichbaren Nachbarn auszurotten, in der Hoffnung, daß der anonyme Übeltäter mit dabei sein könnte. Alle Einwohner mußten nackt aus den Häusern treten, wurden entweder vergewaltigt oder kastriert. Al-Hakim erschlug, weil sein Eunuchensklave Ali ihn anflehte, die Greuel zu beenden, den Jammerlappen sofort – obwohl er eigentlich kein Blut sehen konnte, wie Heinrich Himmler. Sowohl im Volk wie in der Armee kippte die Stimmung zuungunsten al-Hakims immer deutlicher. In 25 Jahren verschliß er vierzehn Wesire, von denen nur zwei eines natürlichen Todes starben. Man wagte nicht anzudeuten, daß man sich den wahren neuen Äon von der Zeit nach ihm versprach. Seine Untaten erinnerten fatal an die Schleifung, Kastration, Abschlachtung und öffentliche Aushängung des afghanischen Politikers Mohammed Nadschibullah 1996. Zu al-Hakim hätte die Antwort gepaßt, die Hadschdschadsch, der tyrannische Statthalter des Irak, um 710 n.Chr. gab, als man an dessen Gewalttaten litt: „Seht, was ihr für schlechte Menschen seid, daß Allah einen Mann wie mich auf euch losgelassen hat.“

Ein Jahr später kehrte er von einem einsamen nächtlichen Ausritt auf seinem Esel, namens „Mond“, auf den Hügel Mokattam nicht zurück. Sein nicht ganz spurloses Verschwinden löste Gerüchte aus. Zwar fand man den verletzten „Mond“ sowie blutige Kleidung auf, doch gefälschte Indizien gehörten seit der alttestamentarischen Josefs-Geschichte zum Usus. Vier, fünf Theorieversionen kamen sich in der Regenbogenpresse des 11. Jh. in die Quere: Allah habe – laut drusischer Deutung – seinen Knecht wie vormals Henoch in den Himmel gehoben – ein so seltener Vorgang, daß Vorsokratiker Empedokles, ohne Hoffnung auf tatsächliche Himmelfahrt, diese wenigstens vortäuschen wollte. Die zweite, pragmatische Erklärung für al-Hakims mysteriöses Verschwinden: Sitt al-Mulk, Al-Hakims ältere Schwester, habe aus Todesangst vor ihrem unberechenbaren Bruder einige Beduinenscheichs zum Mordanschlag überreden können, um dann selber als Schattenkalifin zu herrschen. Eine weitere Version: Er sei zurückgekehrt und sofort als betrügerischer Doppelgänger entlarvt und hingerichtet worden.

Al-Hakims Tod brachte dem ägyptischen Volk keine Erleichterung. Al-Hakims Sohn Ali, so grausam wie sein Vater, ließ nun umgekehrt alle verfolgen, die sein Vater geschont hatte, und schonte die bis dahin Verfolgten, nach dem altbekannten Entnazifizierungs-Schema und dem ganzen bürokratischen Drumherum aus Verpflichtungsscheinen, Ahnenpässen, Beglaubigungen, Stasi-Akten. Christen, Sunniten und Bagdader Hofhistoriographen schilderten al-Hakim als ungläubiges, nämlich Mars und Saturn anbetendes Monstrum, das sich mit überlangen Fingernägeln sieben Jahre lang nicht wusch, und als eigenhändigen Knabenschlächter: Bei einer Metzgereibesichtigung mit Gefolge erschlug er, hieß es nachträglich, eigenhändig einen seiner Diener, nur um die Beilschärfe zu testen. Spätere Tendenz-Legenden behaupteten sogar, al-Hakim hätte Schuhmachern verboten, Frauenschuhe herzustellen, und unliebsame Konkubinen im Nil versenkt. Die Drusen aber ließen sich nicht hindern, Jahrhundert um Jahrhundert sehnlich auf die Rückkehr al-Hakims zu warten, der dann bald ein Weltreich aufrichten würde, mit den Drusen darin als auserwähltem Volk. Weiterhin blieb’s ein unlösbares welthistorisches Riesenproblem, daß al-Hakim sich – bei allem Zölibat – tatsächlich dauernd wiedergebar, mal als um 500 Jahre verfrühter Calvin, mit mehr oder weniger gebundnen Händen, mal als ein arabischer Girolamo Savonarola des Fatimidenreiches am Nil, frauen- und kunstfeindlicher als Ajatollah Chomeini, mal als ein um tausend Jahre verfrühter Taliban.

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213 стр. 22 иллюстрации
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9783843803007
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