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Kapitel 4

Doktor Karl Mertens spürte ein leichtes Unbehagen in der Magengegend. Das hatte aber nichts damit zu tun, dass die 20. Leiche, die er sich heute kurz nach Sonnenaufgang im großen Kühlraum des Krematoriums auf dem Friedhof in Hannover-Lahe genauer anschaute, schon stark verwest war und deshalb einen intensiven süßlichen Geruch im Raum verströmte, den selbst er als unangenehm empfand. Der Rechtsmediziner kannte den Geruch des Todes nur zu gut. In seinen fast 40 Dienstjahren hatte er schon so ziemlich alles gesehen und gerochen, was mit dem Tod zu tun hatte – an ungezählten Leichenfundorten, in den Kühlräumen der Feuerhallen und im Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule, dessen stellvertretender Leiter er war. Mertens war für seine ausgezeichnete Nase bekannt. Er verstand es wie kaum ein anderer, Gerüche – wenn sie für die forensische Begutachtung einer Leiche wichtig waren – zu bewerten und zu identifizieren. Das konnte für die Klärung einer Todesursache von äußerster Wichtigkeit sein. Einmal hatte er einen Giftmord förmlich erschnüffelt. 1992 war das gewesen. Eine betrogene Ehefrau hatte sich seinerzeit ihres Mannes entledigt, indem sie ihm Zyankali in seine Leibspeise gemischt hatte. Weiß Gott, woher sie das Zeug hatte. Doktor Mertens hatte sofort den Bittermandelgeruch bemerkt – im Gegensatz zu manchen Menschen, die aus genetischen Gründen gar nicht dazu in der Lage waren, diesen verräterischen Geruch wahrzunehmen. Die hellroten Totenflecke waren ein weiteres sicheres Zeichen für eine Cyanid-Vergiftung gewesen.

Seit mittlerweile acht Jahren führte der Rechtsmediziner im Krematorium Leichenschauen durch. Er machte das gleich nach dem Frühstück, noch bevor er mit seinem dunkelblauen Audi A6 das Institut für Rechtsmedizin ansteuerte, in dem die Leichen von Ermordeten, tödlich Verunglückten und Selbstmördern in Kühlfächern lagerten. Diese Toten wurden nicht wie die im Krematorium nur äußerlich genau unter die Lupe genommen, sondern auch aufgeschnitten und deren Organe und Körperflüssigkeiten untersucht. Vor der Einäscherung eines Verstorbenen musste immer dann eine zweite Leichenschau durchgeführt werden, wenn ein Arzt einen natürlichen Tod bescheinigt und die Polizei deshalb keine Kenntnis von dem Sterbefall hatte. Ein Totenschein genügte in diesen Fällen nicht. Bis zur Freigabe durch einen Rechtsmediziner oder Amtsarzt verblieben diese Verstorbenen in den Kühlanlagen des Krematoriums. Erst wenn ein Leichenbeschauer seine Zustimmung zur Einäscherung gegeben hatte, durfte ein Toter mitsamt dem Sarg in den Ofen geschoben und bei Temperaturen um 1000 Grad Celsius verbrannt werden. In der Regel dauerte dieser Vorgang 75 Minuten. Von einer Leiche blieben nur zwei bis drei Kilo Asche übrig. Anschließend wurden die sterblichen Überreste noch mineralisiert, um ihnen Schwermetalle und andere Schadstoffe zu entziehen, was sich für gewöhnlich ebenfalls über mehr als eine Stunde hinzog. War eine Leiche erst einmal kremiert und die fein zermahlene Totenasche in eine spezielle Kapsel gefüllt worden, ließ sich ein Fremdverschulden definitiv nicht mehr nachweisen. Deshalb legte der Gesetzgeber so viel Wert auf eine abschließende Zweitmeinung.

Doktor Mertens war ein gewissenhafter Mann. Er verstand sich als Anwalt der Toten und hatte schon das eine oder andere Mal eine Leiche „angehalten“, wie es im Fachjargon hieß, weil er Hinweise auf einen Unfalltod oder auf ein Verbrechen gefunden hatte. Er nannte das scherzhaft Boxenstopp. An diesem Morgen war Mertens froh, dass er im eisigen Vorraum der Feuerhalle nicht mehr als die üblichen 20 Leichenschauen durchführen musste. Er wollte, so schnell es ging, ins Institut für Rechtsmedizin. Ihm ging die Tote aus Kühlfach Nummer sechs nicht aus dem Kopf. In der vergangenen Nacht hatte er von dieser Frauenleiche geträumt. Das war ihm noch niemals zuvor passiert. Mertens deutete das als Zeichen – er wollte die Tote ein zweites Mal untersuchen. Der Leitende Oberarzt hatte bereits während der kurzen Fahrt von seinem Haus in Hannover-Bothfeld zum Krematorium in Lahe seinen jungen Kollegen Doktor Klaus Martin telefonisch darüber informiert und ihn gebeten, alles für eine zweite Sektion vorzubereiten.

Doktor Mertens wischte die Gedanken an die bevorstehende Nachuntersuchung beiseite, zwang sich, konzentriert zu arbeiten. Jetzt war erst einmal diese Tote an der Reihe. Leichnam Nummer zwanzig. Er lag nackt in einem geöffneten Sarg – wie die anderen 19, die er bereits zuvor akribisch in Augenschein genommen hatte. Bernie Krause, ein Mitarbeiter des Krematoriums, ging ihm heute zur Hand. Der Mann mit der roten Knollennase und den kräftigen Bauarbeiter-Händen drehte die Toten auf die Seite und auf den Bauch, wenn der Gerichtsmediziner ihn darum bat. Krause war Ende vierzig, von kräftiger Statur – und kein Freund von Nebensätzen. Er hatte sich im Laufe der Zeit an den Anblick von toten Menschen, an die seltsamen Schmatz- und Zischlaute der sogenannten Fäulnisleichen und an den üblen Geruch, den sie verbreiteten, gewöhnt.

Der Rechtsmediziner warf einen kurzen Blick auf den Totenschein. Seine wachen Augen erfassten innerhalb weniger Sekunden die für ihn wichtigen Daten: „Name: Heide-Marie Roth, Alter: 69, Todesursache: Verdacht auf Herzinfarkt. Am 27. Januar 2020 um 21.35 Uhr leblos zu Hause aufgefunden.“ Viel mehr wusste Doktor Mertens nicht über die Verstorbene, die von ihm für die Feuerbestattung freigegeben werden sollte. Viel mehr musste er auch nicht wissen. Das, was ihn interessierte, musste er selbst bei der Leichenschau herausfinden. Die Seniorin dürfte schon vor mehr als zwei Wochen gestorben sein. Darauf deutete der fortgeschrittene Verwesungszustand hin. Die Bauchdecke war gebläht und hatte sich grün verfärbt. Die nässende Haut sah marmoriert aus und war mit Bläschen übersät. Typische Anzeichen für eine Fäulnisleiche. Bernie Krause verzog sein Gesicht. „Alter Schwede ... Gut, dass nicht alle Leichen so heftig riechen ...“, sagte der Helfer. Doktor Mertens nickte. „Ja, Herr Krause. Das stimmt wohl. Aber auch diese Tote verdient es, dass wir ganz genau hinschauen und den toten Körper respektvoll behandeln.“ Bernie Krause nickte. Er beeilte sich, Zustimmung zu signalisieren. „Logisch, Herr Doktor. Ich meinte ja auch nur ... Sorry, das sollte nicht ... das war nicht despektierlich gemeint. Nicht, dass Sie das in den falschen Hals kriegen ...“ Der Rechtsmediziner schaute Krause in die Augen. Dabei lächelte er. „Keine Sorge, Herr Krause. Das habe ich schon richtig verstanden. Ich empfinde diesen stechenden und zugleich süßlichen Ammoniak-Geruch ja auch als unschön.“ Mertens, der wie im Sektionssaal der Rechtsmedizin Mundschutz, Kittel und Gummihandschuhe trug, drückte mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand auf den seltsam verfärbten Bauch der Toten. Bernie Krause räusperte sich: „Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen, Herr Doktor?“ Mertens, der sich über den Holzsarg gebeugt hatte, richtete sich auf und unterbrach die Inaugenscheinnahme der Toten. „Na klar. Die erste Frage haben Sie ja schon gestellt. Wie lautet die zweite?“ Krause war irritiert. „Äh, die zweite Frage ...?“

„Ja, was wollen Sie wissen? Tun Sie sich keinen Zwang an. Raus damit ...“

Krause druckste herum. „Tja, also ... Ich frage mich, weshalb sich manche Leichen grün verfärben und so bizarre Muster auf der Haut haben.“ Der Leitende Oberarzt der Medizinischen Hochschule freute sich über Krauses Ahnungslosigkeit. Er stand gern im Hörsaal der Medizinischen Fakultät und bildete mit großer Freude angehende Mediziner aus. Jetzt war er in seinem Element. Mertens räusperte sich. Dann hob er zu einem Kurzvortrag an. „Fangen wir mit der Verfärbung an“, sagte Mertens, der das Dozieren liebte. Der Rechtsmediziner zeigte auf den Bauch der Toten. „Im Magen-Darm-Trakt befinden sich bekanntlich unzählige Bakterien. Diese Winzlinge sterben nicht, wenn ein Mensch stirbt. Sie vermehren sich unaufhörlich, produzieren jede Menge Fäulnisgase. Diese Gase enthalten unter anderem Schwefel. Wissenschaftler sprechen von Sulfhämoglobin. Das ist ein grünliches Hämoglobin-Derivat, das keinen Sauerstoff transportieren kann. Es entsteht durch Kontakt von Hämoglobin mit Schwefelverbindungen. Irgendwann durchdringen die Fäulnisgase das Unterhautfettgewebe und die Haut des Toten. Dadurch kommt es zu einer Grünfärbung der Bauchdecke und zu einem ausgeprägten Blähbauch.“ Mertens schaute Krause fragend an. „Na, alle Unklarheiten beseitigt?“

Der Helfer signalisierte durch heftiges Kopfnicken, dass er verstanden hatte. Dennoch wurde der Gerichtsmediziner das Gefühl nicht los, dass Krause noch etwas auf dem Herzen hatte. „Und? Noch eine Frage?“

Bernie Krause antwortete nicht sofort. Er zeigte stumm auf ein Geflecht aus roten Linien, die aussahen, als habe sich ein Maler in abstrakter Kunst versucht. „Und was ist das da?“, fragte er.

„Die Marmorierung, meinen Sie?“

Krause atmete hörbar ein. Das nasale Schnaufen, das dabei entstand, klang gar nicht gut – es verriet dem Rechtsmediziner, dass sein Gehilfe kurzatmig war. Vielleicht war der Mann erkältet, womöglich rauchte er Kette. Mertens dachte nicht länger darüber nach. Stattdessen beantwortete er die Frage. Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Ganz einfach. Dort, wo diese roten Linien zu sehen sind, schlägt das Venennetz durch“, erklärte Doktor Mertens. „Das ist bereits alles. Aber ich gebe zu: Das sieht schon ein wenig skurril aus.“ Mertens klatschte laut in die Hände, um die Konversation zu unterbrechen. Die Leichenschau musste weitergehen. „So, Herr Krause, dann drehen Sie doch bitte die Tote auf die linke Seite.“ „Jawoll“, quittierte der Leichenschau-Helfer und ging zur Sache. Während er die verweste Frauenleiche bewegte, lief eine rot-violette Flüssigkeit aus Mund und Nase der toten Frau. Ungefragt erklärte Mertens, was da gerade vor sich ging. „Diese schaumig-wässrige Substanz kommt aus der Lunge – das Organ ist verfault, deshalb hat sich darin Fäulniswasser gebildet.“

Über ihnen erhellten 40 Neonröhren den wohl 100 Quadratmeter großen Saal, der Eiseskälte ausstrahlte, was wohl dem kalten Licht und der Temperatur geschuldet war, die von den Kühlaggregaten auf konstante fünf Grad Celsius gehalten wurde. Doktor Mertens schätzte diese Kühle besonders im Hochsommer. Der Raum war, wenn er von Bernie Krause für die wöchentliche Leichenschau vorbereitet worden war, nichts für zarte Gemüter. Hinter einer großen Schiebetür aus Stahl, die beige lackiert war, standen rechts und links je zehn geöffnete Särge, die auf Rollwagen standen. Es war eine Leichenhalle, wie man sie aus Kinofilmen kannte.

Helfer Bernie hatte die Toten, die in den vergangenen 48 Stunden von Bestattern aus dem Umland angeliefert worden waren, schon am frühen Morgen aus kleineren Kühlräumen geholt, sie entkleidet und den ganzen

Papierkram für die bevorstehende Leichenschau vorbereitet.

Heide-Marie Roth – oder besser: was von ihr übrig war – wirkte aufgedunsen. Ihre Lippen waren extrem stark aufgequollen. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment bersten. Die Haut war mit zahlreichen Bläschen, die mit Flüssigkeit gefüllt waren, übersät. Im Sarg stand das Fäulniswasser mehrere Millimeter hoch. Am linken Armgelenk entdeckte der Leichenbeschauer eine schmale kreisrunde Vertiefung. Die Schnürfurche weckte das Interesse des Gerichtsmediziners. Mertens schaute genauer hin, tastete die feine Rille mit dem Zeigefinger, der wie der Rest seiner Hand in einem blauen Einmalhandschuh steckte, ab. Dass die Haut dabei knisterte, erstaunte den erfahrenen Gerichtsmediziner freilich nicht. Er wusste: Das Weichgewebe war mit Fäulnisgasen durchsetzt. Bei Druck löste das ein Knistern aus.

Der routinierte medizinische Forensiker fand die Ursache für die Einschnürung, die ihn an eine Drosselmarke, wie man sie zuweilen an Hälsen von Mordopfern fand, erinnerte. Diese Druckmarke war jedoch unverdächtig. Die Frau hatte zu Lebzeiten ein Freundschaftsbändchen getragen. Die geflochtenen Fäden sahen aus, als seien sie im Laufe der Zeit ins Gewebe eingewachsen. Das war aber der post mortem aufgequollenen Haut und den mit Fäulniswasser gefüllten Bläschen geschuldet, die an einigen Stellen aufgeplatzt waren. Den stellvertretenden Institutsleiter erinnerte das Bändchen, dessen Farben er wegen der bereits austretenden Leichenflüssigkeit nicht mehr erkennen konnte, an den Schlagersänger Wolfgang Petry, der sich diese bunten Armbänder zu seiner besten Zeit inflationär, ja kiloweise, um seinen linken Arm gebunden hatte. Das Bild hatte sich tief in das Gedächtnis des Arztes eingebrannt.

Etwas bereitete dem gewieften medizinischen Detektiv ein leichtes Unbehagen – vor seinem geistigen Auge sah er plötzlich die Leiche der Frau aus Hameln, die ihm im Traum erschienen war. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte auch sie ein dünnes Stoffbändchen am Handgelenk getragen. Vielleicht ist das gerade wieder in Mode gekommen oder nur ein Zufall, wischte Mertens die Gedanken beiseite. Sorgfältig setzte Mertens die Untersuchung der Toten fort. Doch die Stimme von Wolfgang Petry konnte er nicht so einfach verscheuchen. Obwohl der leitende Rechtsmediziner kein großer Schlagerfan war, kam ihm der Anfang einer Strophe aus einem Hit des Sängers in den Sinn, der sich wie ein Ohrwurm in seinem Kopf festzusetzen drohte. „Verlieben, verloren, vergessen, verzeih’n ...Verdammt, war ich glücklich, verdammt, bin ich frei ...“

Doktor Mertens atmete tief durch und wieder aus. Er wunderte sich über sich selbst, dass er jetzt den Drang verspürte, das Lied zu singen – ausgerechnet während einer Leichenschau. Der Rechtsmediziner schüttelte den Gedanken daran ab, er konzentrierte sich auf seine Arbeit, strich Hautfalten glatt, leuchtete mit einer kleinen, aber starken Halogentaschenlampe in die Körperöffnungen der Leiche. Mertens konnte keine Hinweise auf Fremdverschulden entdecken. Allerdings gestaltete sich das auch schwierig, denn: Milliarden von Fäulnisbakterien waren dabei, den Körper zu zersetzen. Mertens schaute noch einmal auf den von einem Allgemeinmediziner unterzeichneten Totenschein. „Verdacht auf Herzinfarkt.“ Der Rechtsmediziner dachte einen Moment lang nach, zog die Augenbrauen hoch. „Na ja, der Hausarzt muss es ja wissen“, sagte er leise zu sich selbst und rümpfte die Nase. Dabei entstanden Sorgenfalten auf seiner Stirn. Nicht einmal er hätte bei dem Zustand der Leiche ohne Autopsie eine Todesursache benennen können. Das stand fest. Aber vielleicht hatte der Hausarzt ja ein wenig orakelt, weil er die Vorerkrankungen der Frau kannte. Ein Beweis war das natürlich nicht. Auch Todgeweihte konnten schließlich Opfer eines Mörders werden. „Hat es alles schon gegeben“, dachte Mertens, als er seinen Helfer anwies, die Tote auf den Bauch zu legen, um deren Rücken inspizieren zu können. Zum Glück war es nicht seine Aufgabe, die Todesursachen seiner „Patienten“ herauszufinden. Das geschah eher nebenbei. Seine vorrangige Aufgabe war es, nach Hinweisen auf ein mögliches Fremdverschulden zu suchen – sowohl bei der äußeren als auch bei der inneren Leichenschau. Gab es keine Anzeichen dafür, war der Fall für ihn erledigt. Das unterschied die Gerichtsmediziner von den Pathologen, deren Autopsie-Saal sich gleich neben dem der Rechtsmediziner befand. Die einen suchten im Auftrag der Polizei, der Staatsanwaltschaft und – manchmal auch – von Angehörigen nach einer Antwort auf die Frage, ob bei einem suspekten Todesfall ein Mörder seine Finger im Spiel hatte, die anderen fahndeten im Dienste der Wissenschaft – oft mithilfe eines Mikroskops – nach Anzeichen für Erkrankungen, die zum Tod eines Klinik-Patienten geführt hatten.

Der Leitende Oberarzt setzte seine akribische Untersuchung fort; er betrachtete jeden Quadratzentimeter Haut der Toten – zumindest das, was die Fäulnisbakterien davon übrig gelassen hatten. Was hatten Hausärzte bei der ersten Leichenschau nicht schon alles übersehen – sogar Stich- und Schusswunden. Die Literatur war voll davon. An den sterblichen Überresten von Heide-Marie Roth konnte der Gerichtsmediziner keine Auffälligkeiten entdecken. Der Leichenbeschauer gab schließlich sein Okay für die Einäscherung.

Nachdem Doktor Karl Mertens seine blauen Gummihandschuhe abgestreift, den hellgrünen Kittel ausgezogen und sich von Bernie Krause verabschiedet hatte, setzte er sich in seinen A6, stecke den Schlüssel ins Zündschloss und startete den 272 PS starken Motor. Nur 15 Minuten später stellte Mertens seinen Wagen vor dem Institut für Rechtsmedizin an der Carl-Neuberg-Straße Nummer 1 ab. Sein Mantel wehte im Wind, als er die rote Institutstür am Eingang Nord aufschloss. Er hatte ein Rendezvous mit einer Leiche. Dass er in Lahe ein Tötungsdelikt übersehen hatte, ahnte Doktor Mertens zu diesem Zeitpunkt nicht.

Kapitel 5

Herma knöpfte ihre weiße Bluse auf, legte ihren BH ab und betrachtete sich dabei im Spiegel. Mit den Fingern ihrer rechten Hand strich sie sich durch ihre dünnen blonden Haare, die noch vom starken Nordwestwind zerzaust und von dem feinen Nieselregen, der seit Tagen auf Ostfriesland niederging, feucht waren. Für mein Alter sehe ich noch ganz passabel aus, dachte sie. Manch junge Deern beneidete sie um ihre schlanke sportliche Figur und um ihre üppige Oberweite. Die Mordermittlerin hatte in den vergangenen zwei Monaten, die sie im Krankenhaus und daheim zugebracht hatte, etwas an Gewicht zugenommen – das zeigte nicht nur die Waage, davon zeugte auch die kleine Bauchspeck-Rolle, die jetzt über ihre Gürtelschnalle quoll. Die Ostfriesin beschloss, wieder mehr joggen zu gehen. Auf den Deichen zwischen der Nordsee, den zahlreichen Binnenseen und den Fehnkanälen, den unzähligen Schafen und Möwen fühlte sie sich besonders wohl. Dort lagen die von ihr bevorzugten Laufstrecken. Vielleicht sollte ich mich lieber in einem Fitnessstudio anmelden, dachte sie, als sie sich bäuchlings auf die Liege legte und auf Georg wartete. Sie mochte es, wenn er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste und hart zur Sache ging. Sie wollte seine kräftigen Finger auf ihrer nackten Haut spüren – danach sehnte sie sich schon seit Tagen. Georg Schultz war Physiotherapeut und seit Neuestem auch Chef des Watt-und-Meer-Zentrums in Bensersiel – er besaß heilende Hände und hatte Herma vor ihrem Umzug nach Hameln oft geholfen, wenn ihr Rücken mal wieder vom langen Sitzen vor dem Dienstcomputer verspannt war. Einmal hatte sie sich bei einer Verfolgungsjagd in Aurich einen Nackenwirbel verdreht. Georg war auch nach Feierabend sofort zur Stelle gewesen; er hatte ihre Knochen wieder eingerenkt. An das fiese Knacken konnte sie sich noch gut erinnern.

Herma van Dyck versuchte zu dösen, aber es gelang ihr nicht, sich zu entspannen. Die Narben auf ihrer Kopfhaut schmerzten heute wieder einmal besonders heftig. Sie hatte Angst, gleich einen Migräneanfall zu bekommen. Seit dem Mordanschlag auf sie, der sie beinahe das Leben gekostet hatte, machte ihr jeder noch so kleine Wetterumschwung zu schaffen. Herma hörte die Schreie der Lachmöwen, die im Schwarm vom Meer landeinwärts flogen, vermutlich, um sich auf irgendeinem matschigen Acker niederzulassen und dort die Würmer, die sich an die Erdoberfläche gerettet hatten, zu fressen. Die scharfen durchdringenden Rufe der Vögel hörten sich wie „Kriiiärr“ und „Kik“ an. Diese Laute erinnerten Herma an ein spöttisches Lachen – es passte gut zu einem Shanty, der gerade leise aus einem Lautsprecher, der in die Decke des weiß gestrichenen Therapieraums eingelassen worden war, erklang. Radio Ostfriesland spielte „Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise ...“ Hermas Blick fiel auf ein großformatiges Bild der Auricher Malerin Katja Freimuth. Die farbenfrohen, kraftvollen, expressionistischen Werke der Künstlerin waren für Herma das i-Tüpfelchen in Watt und Meer – sie schienen inspiriert worden zu sein von der positiven Strahlkraft und Vielfalt der Natur und weckten in ihr positive Gefühle. Das Gemälde sollte wohl eine Blumenwiese zeigen.

Die Tür ging auf. Georg trat ein – seine blauen Augen strahlten, als er seine alte Freundin begrüßte. „Moin, Herma. Kannst es wohl kaum abwarten, dass ich dich durchknete“, sagte er vergnügt. Die völlig verspannte Mordermittlerin drehte ihren Kopf zur Seite. „Autsch! Verflucht“, schrie sie. „Gut, dass du da bist, Georg. Du musst mich von den Schmerzen im Nacken und im Kopf befreien. Alles tut höllisch weh. Das ganze Ibuprofen und Novalgin, das ich seit Wochen schlucke, hilft nicht.“ Georg schwieg, er begann stattdessen mit seiner Arbeit. Herma fühlte seine warmen Hände auf ihrer Haut, spürte, dass er mit seinen Fingerspitzen ihre Triggerpunkte ertastete.

„Mannomann ... Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“, fragte Schultz seine Patientin. In seiner Stimme schwang etwas Vorwurfsvolles mit. „Deine Muskeln sind ja total verhärtet. Überall fühle ich Knoten unter deiner Haut. Das sind alles heftige Muskelverhärtungen. Kein Wunder, dass du Schmerzen hast, die bis in den Kopf ausstrahlen.“

Herma stöhnte leise auf, als Georg mit seiner Triggerpunkt-Therapie anfing. Mit seinem rechten Ellenbogen drückte er das Blut aus den punktuellen Verhärtungen in ihrer Skelettmuskulatur. „Du musst jetzt ganz tapfer sein. Das wird wehtun“, kündigte Georg an. „Das tut es jetzt schon“, sagte Herma. „Was hast du vor?“, wollte sie wissen. „Wenn du es genau wissen willst. Ich werde mir zunächst die myofaszialen Triggerpunkte in deinem Schulterheber-Muskel und dann die in deinem Trapezmuskel vornehmen. Das sind exakt die Stellen, die bei dir Schmerzen im Nacken, im Hinterkopf und im Schläfenbereich auslösen, also triggern. Das ist auch schon alles. Ist keine Hexerei, nur: gewusst wie.“ Herma van Dyck stöhnte nur. Sprechen konnte sie nicht. Der Druck, den Georg auf ihren Rücken ausübte, ließ ihrer Lunge im Moment kaum Raum zum Atmen.

Herma und Georg kannten sich schon seit ihrer Jugend. Sie teilten eine Leidenschaft: das Segeln. Früher hatte Herma ihrem Jugendfreund oft beim Surfen zugeschaut. Im Gegensatz zu ihr war Georg, obwohl er im Ruhrpott das Licht der Welt erblickt hatte, ein Meister auf dem Brett. Der Wahl-Ostfriese liebte wie sie hohe Wellen und eine steife Brise. Immer wenn es ordentlich stürmte und die meisten Menschen lieber am warmen Ofen saßen, standen Georg und seine Freunde auf ihren Surfbrettern. Damals hatte er noch lange blonde Haare gehabt. Herma war oft zum Seedeich in Ostbense gegangen, um den muskulösen Beachboys zuzusehen. Die durch die Gischt der aufgewühlten Nordsee schießenden Surfsegel hatten farbenfrohe Akzente im braunen Wasser des Wattenmeeres gesetzt.

Herma und Georg waren beide im verschlafenen kleinen Ostbense, das zu Neuharlingersiel gehörte, aufgewachsen. Vor zwei Jahren hatte der Physiotherapeut der Siedlung den Rücken gekehrt, um im nahen Ben­sersiel die Geschäftsführung des renommierten Watt- und-Meer-Zentrums zu übernehmen.

Georg Schultz war nicht nur ein begeisterter Wassersportler, er interessierte sich auch für das Wetter, das er wie kaum ein anderer in Ostfriesland vorhersagen konnte. Der leitende Physiotherapeut besaß die seltene Gabe, Regen schon riechen zu können, bevor am Horizont die ersten Wolken auftauchten, obwohl die südliche Nordsee für ihr mitunter eigenwilliges Mikroklima bekannt war. Es hielt sich für gewöhnlich nicht an Vorhersagen. Insbesondere die Medizin-Meteorologie hatte es Georg Schultz angetan. „Ich vermute, dass dir das Wetter zusetzt, Herma“, hob Schultz zu einem Vortrag über sein Lieblingsthema an. Die Kriminalhauptkommissarin versuchte zu nicken. Außer einem zustimmenden „Hm“ kam ihr nichts über die Lippen.

„Ich weiß ja nicht, ob du es weißt. Wir hatten in den vergangenen vier Wochen eine ganz besondere Wetterlage“, klärte Georg Herma auf, während er seinen rechten Ellenbogen mit dem Gewicht seines Oberkörpers gezielt in einen Schmerzpunkt auf Hermas Rücken drückte, um das Blut möglichst vollständig aus dem Knubbel zu pressen und dadurch die Selbstheilungskräfte ihres Körpers zu aktivieren.

„Aha“, presste Herma van Dyck hervor. Georg Schultz meinte ein Fragezeichen herausgehört zu haben. „Die Messungen des Deutschen Wetterdienstes am Emder Flughafen zeigen, dass wir im Januar an der Küste ungewöhnlich große Schwankungen des Luftdrucks hatten – an zwei Tagen wurden sogar rekordverdächtige Werte von 1040 Hektopascal und mehr gemessen. Der helle Wahnsinn ist das.“ Herma konnte mit diesen Informationen nichts anfangen. „Also, für mich sind das böhmische Dörfer. Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das denn jetzt mit meinen Kopfschmerzen zu tun?“ Der Therapeut und Hobby-Meteorologe hatte auf diese Frage gewartet. Er freute sich jedes Mal, wenn er sein Wissen an den Mann oder an die Frau bringen konnte. Schultz holte kurz Luft, dann startete er einen Erklärungsversuch.

„Du musst wissen, dass die Standardatmosphäre hier bei uns – also auf Meereshöhe – einen Luftdruck von 1013,25 Hektopascal hat. Das ist das weltweite Mittel. Hier im Therapieraum herrscht ein Druck von cirka 1000 Hektopascal. In einem Autoreifen ist es doppelt so viel. Und wie ich schon sagte: An zwei Tagen hatten wir an der Küste einen Luftdruck von mehr als 1040 Hektopascal. Das wirkt sich schon auf den Kopf aus – bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Es liegt auf der Hand, dass das bei empfindlichen Menschen heftige Kopfschmerzen auslösen kann.“

Herma hob ihren Kopf an, schaute Georg in die Augen. „Ich war nie wirklich wetterfühlig. Okay, ein bisschen vielleicht, aber nicht so richtig ...“

Der Physiotherapeut zog seine Augenbrauen hoch. „Du, ich bin kein Arzt, aber ich kann mir gut vorstellen, dass dich die schweren Schädel-Hirn-Verletzungen, die dir von diesem Arschloch zugefügt wurden, anfällig für diese Luftdruckschwankungen gemacht haben.“ Herma van Dyck biss sich auf die Unterlippe – ihr liefen plötzlich Tränen über die Wangen. Sie schluchzte. „Hast du mal ein Taschentuch für mich, Georg?“ Der Cheftherapeut zog ein unbenutztes Stofftaschentuch aus seiner weißen Hose und reichte es seiner Patientin. Er schämte sich dafür, dass er bei Herma einen wunden Punkt getroffen und seine Bekannte zum Weinen gebracht hatte. Warum konnte er auch seinen Mund nicht halten.

Der Angriff auf Herma lag gerade mal zehn, elf Wochen zurück. Herma van Dyck hatte die Attacke definitiv nicht verarbeitet. Sie war noch nicht wieder die Alte. Das hätte er ahnen können. Georg Schultz kratzte sich verlegen auf seiner Glatze. Dann strich er Herma übers Haar.

„Hey, nicht weinen. Das wird schon wieder. Wirst schon sehen. Du bist eine starke Frau. Aber du musst Geduld haben ...“

Herma schnäuzte sich die Nase. „Ja, klar. Ich kriege das schon hin. Mich kotzt es nur an, dass da vielleicht etwas in meinem Gehirn kaputtgegangen ist – und dass mich das bis an mein Lebensende schmerzlich an dieses beschissene Arschloch erinnern wird. Auf dieses Andenken kann ich gut verzichten.“

Georg machte eine abwehrende Handbewegung. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht ist das ja auch nur der Winterblues, der dir aufs Gemüt geschlagen hat. Und wie gesagt: Diese extremen Luftdruckschwankungen haben bei vielen Menschen Kopfschmerzen ausgelöst. Meine Praxis wird von diesen leidgeprüften Menschen förmlich überrannt. Bei einigen lösen diese Wetterkapriolen Migräneattacken aus. Denk positiv ... Wichtig ist doch nur: Der Scheißkerl ist tot – und du lebst. Kopf hoch ... Wirst sehen: Bald bringst du wieder Verbrecher zur Strecke und trägst dazu bei, dass unser Land noch sicherer wird.“

Georg Schultz hatte es geschafft, Herma zum Lächeln zu bringen. „Hast ja recht, Georg. Ich bin eine Kämpferin. Ich beiße mich schon durch. Weißt du, wie sie mich in Rumänien früher genannt haben?“ Herma schob die Antwort gleich grinsend hinterher. „Starke Typin.“ Sie strahlte dabei Zuversicht aus, erzählte von der Zeit, als sie als Ehrenamtliche der DLRG-Ortsgruppe Wangerland in Ostfriesland Hilfsgüter für Siebenbürgen gesammelt und auf den Balkan gefahren hatte. 20 Jahre war das jetzt her. Wie schnell doch die Zeit verging. Herma wurde nachdenklich. In 20 Jahren würde sie schon längst in Pension sein. Georg Schultz blieb nicht verborgen, dass Herma van Dyck Stimmungsschwankungen hatte. Er fragte sich, wann die Mordermittlerin wohl wieder diensttauglich sein würde. Sie musste möglichst rasch wieder das tun, was sie am liebsten tat – Mörder jagen und festnehmen. Der Physiotherapeut verkniff sich die Frage, ob Herma Hilfe vom Polizeipsychologischen Dienst bekam. Er wusste aus Fernsehserien, dass Polizisten, die Schreckliches erlebt hatten oder im Dienst schwer verletzt worden waren, erst dann wieder als dienstfähig eingestuft wurden, wenn sie zuvor von einem Polizeipsychologen oder Psychiater eine Art Unbedenklichkeitserklärung bekommen hatten. Aber ob das der Wahrheit entsprach oder ob sich das die Drehbuchautoren bloß ausgedacht hatten, wusste Schultz nicht. Während er mit seinen Händen Hermas Nacken- und Rückenmuskulatur bearbeitete, dachte er über das nach, was seiner alten Freundin im Dezember im Dienst widerfahren war. Er war froh, etwas dazu beitragen zu können, dass Herma wieder auf die Beine kam. Die Arbeit würde ihr guttun. Davon war er überzeugt.

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22 декабря 2023
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9783827184054
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