Читать книгу: «Reiner Kunze. Dichter sein»
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2013
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
ISBN 9783954621729
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Impressionen vorab
Kartoffeln, Salz und Senf
Wie die Dinge aus Ton
Erster und kostbarster Literaturpreis
Auch die Briefe, die wir schweigen, werden durchleuchtet
Schreibst du, wie’s in der Zeitung steht, oder wie’s im Leben ist?
Vorsicht Spielzeuglöwe!
Wie Liberalisierung greift
Ein neuer Fall Solschenizyn, jetzt auf deutschem Boden?
Ein Familienfest
Wenn Kunze also im Kapitalismus verfaulen will, dann soll er doch dahin gehen
Angekommen
Sinn macht das Sein. Sein macht Sinn
Ich habe mein Leben selbst bestimmt
Quellennachweis
Abbildungsnachweis
Danksagung
Zum Autor
Keiner kann die Mutfrage beantworten, bevor die Zumutung an ihn herantritt. Erich Kästner
Impressionen vorab
Folgt man der Uferstraße von Passau nach Erlau, beeindruckt die kraftvolle Gelassenheit, die Majestät der Donau wenige Meter nebenan. Nur eine kleine Böschung trennt das Straßenband vom mächtigen Strom. Welch ein Vertrauen, denkt der Reisende. Oder ist es Naivität?
Im Jahr 2013, genauer im März, nahm die Idee der Journalistin und Autorin Christiane Baumann Gestalt an, einen Interviewfilm mit Reiner Kunze zu drehen. Im Mittelpunkt sollten seine Erfahrungen in Westdeutschland seit seiner erzwungenen Ausreise 1977 stehen. Der Verfasser dieser Zeilen wurde gefragt, ob er daneben eine Annäherung an Reiner Kunzes Lebensweg und Werk schreiben könnte? Das bedurfte Bedenkzeit – nicht nur mit Blick auf die Kürze der verfügbaren Zeit. Immerhin vermerkt der Kalender unbestechlich den 16. August als 80. Geburtstag. Vor allem die Achtung vor diesem Dichter der leisen Töne, die Hochachtung vor seinem Anspruch an Wahrhaftigkeit musste jede Zusage vermessen erscheinen lassen.
Es war Reiner Kunze, der im Telefonat in seiner unwiederbringlichen Art befand: „Da müssen wir wohl durch in diesem Jahr. Wenn Sie das auf sich nehmen wollen …“
„Am Sonnenhang“, treffender hätte der Name für die kleine, gediegene Randsiedlung in Erlaus Südlage nicht gewählt sein können. Das Anwesen von Elisabeth und Reiner Kunze überrascht. Dort, wo die Donau unten einen malerischen Bogen zieht, liegt ihr Grundstück im ureigensten Wortsinn an einem Sonnenhang und geht direkt in den hohen Wald eines Naturschutzgebietes über. Das Haus kündet vom Angekommensein der beiden.
ENTWURF UNSERES HAUSES
FREI NACH ALFRED KUBIN
Das fenster deines zimmers soll wimpern haben
Die schwelle ins haus
eine züngelnde schlange (keines menschen
tod noch wunde, nur
erinnerung an eines jeden
einziges leben)1
Dieses Haus über der Donau hat Charakter. So in die Hangschräge gebaut, wirkt es von außen größer als es tatsächlich ist. Seine Fassade ist von schlichtem Weiß, und Weiß dominiert im Inneren. Auch dreißig Jahre nach seiner Fertigstellung erscheint es in seiner Architektur und Einrichtung modern. Die sparsame, zugleich gediegene Zweckmäßigkeit überzeugt. Nichts lenkt ab von den wichtigen Dingen, von den Gemälden Alfred Kubins, von den Holzschnitten HAP Grieshabers, von den beeindruckenden Tierplastiken und Tierzeichnungen Heinz Teuerjahrs aus dem Bayerischen Wald. Nichts lenkt ab vom guten Gespräch in der großen lichtdurchfluteten Bibliothek, die zugleich das Wohnzimmer ersetzt, und nichts stört den schweifenden Blick durch das Panoramafenster über dem Donaubogen. Neben der Bibliothek, in der Mitte der oberen Etage, liegt die helle Essküche mit direktem Durchgang zum Balkon. Die andere Frontseite des Obergeschosses nimmt das große Arbeitszimmer ein. In der Mitte ein Schreibtisch, der Bände füllende Geschichten erzählen könnte. So aufgeräumt, wie er ist, erzählt er erst einmal etwas über die Arbeitsweise des Dichters. In einem Telefonat am zeitigen Nachmittag einige Tage zuvor war ich besorgt, möglicherweise in die Mittagsruhe hinein zu stören. Reiner Kunze hatte aufgelacht: „Mittagsruhe?! Ich sitze seit Stunden am Computer.“ Der Computerarbeitsplatz direkt neben dem schweren Schreibtisch ist sein Tribut an die Zeit. Wie zum Ausgleich wird die Stirnseite des Raumes beherrscht von einem mannshohen Glasschrank mit Klassik-CDs. Man ahnt die von ihnen ausgehende Inspiration. An der Wand im Rücken hängt ein riesiges Ölbild mit einem bedrückend düsteren Vorwinterhimmel. Nur an einer winzigen Stelle reißen die schweren Wolken auf und lassen ein Blau ahnen. Er mag dieses Bild sehr, sagt Reiner Kunze.
Auf einem Stativ am Fenster verblüfft der Fotoapparat mit jenem mächtigen 400-Milimeterobjektiv, das vor Jahren die namibischen Fotoimpressionen in Steine und Lieder2 möglich gemacht hat. Vierzig großformatige Motive vom Donaubogen, beantwortet er den fragenden Blick des Besuchers, seien sein Geschenk an Obernzell für eine Ausstellung im Schloss zum 750-jährigen Gemeindejubiläum im Sommer. Man darf sie sich vorstellen, die steigenden Morgennebel über dem Strom und der Landzunge, die leuchtenden Farben des Herbstes am baumbewachsenen Steilhang gegenüber, das abendliche Felsenglühen über dem Donauknie …
Es ist die Hommage eines Angekommenen an diesen Heimat gewordenen Ort. Noch ahnt niemand, die Ausstellung in Schloß Obernzell wird eine Mut machende Gegenausstellung zum größten Hochwasser, das Passau und die Flussregion seit dem 15. Jahrhundert trifft.
Reiner Kunze deutet auf die Burg Krämpelstein im Felshang direkt gegenüber. Dort auf der anderen Donauseite liegt schon Österreich. Mit Winden und Ketten hätten Raubritter einst an der Flussenge Handelschiffe aufgebracht. Nur dieser eine Satz dazu. Es soll keine Zeit verloren werden: „Ich zeige Ihnen das Archiv.“
Das Archiv ist ein kleiner Raum im Erdgeschoss, direkt neben Elisabeth Kunzes Arbeitszimmer, von dem aus sie ihrem Mann den Rücken frei hält, einen Teil der Post und Anfragen beantwortet. Die beiden sind ein perfektes Team. Nein, an Urlaub denken sie beide nicht, sagt Elisabeth Kunze, und: Die Wochentage reichen für die Arbeit längst nicht aus. Seit sieben Jahren bauen sie das Archiv auf, in den vergangenen vier Monaten haben sie es inventarisiert.
Dieses Archiv ist ein Herzstück der Reiner und Elisabeth Kunze Stiftung. In einem Wandschrank, bescheiden hinter Holztüren, stehen die Ausgaben seiner Bücher in über dreißig Sprachen. Vor allem aber enthält dieses Archiv mehr als fünftausend Schrift-, Bild- und Tondokumente für das künftige Ausstellungshaus. Es sind einmalige Dokumente, die die Hintergründe des Werkes und Wirkens von Reiner Kunze im Spannungsfeld der Zeit belegen. Er zieht Schubladen auf, eine nach der anderen, darin nummeriert zahllose gelbe Einlegemappen, und er sagt, warum ihnen die Stiftung so wichtig ist: „Vergangenheit nicht zu kennen, kann die Zukunft kosten.“ Damit ist ein Ton angeschlagen. Dann folgt die Aufforderung: „Fragen Sie.“
Kartoffeln, Salz und Senf
Meiner kindheit liehen ihre farben
kohle, gras und himmel
unter dieser trikolore trat ich an,
ein hungerflüchter, süchtig
nach schönem3
An sein Geburtshaus in Oelsnitz im Erzgebirge hat Reiner Kunze keine Erinnerung. Als seine Eltern mit ihm dort ausziehen, ist er gerade ein Jahr. Und doch erzählt das Geburtshaus, wie alle Häuser, in denen wir leben, viel über uns. Kunzes Geburtshaus berührt durch seine außerordentliche Ärmlichkeit. Es misst wohl kaum vier mal sechs Meter. Die letzten Jahre, bis zu seinem Abriss 1996, bleibt es unbewohnt.
Die Familie zieht mehrfach um in der fast Zwanzigtausendeinwohnerstadt im Becken des Erzgebirges, die es durch Leinenwebereien, durch Strumpfwirkereien und im 19. Jahrhundert durch Steinkohlebergbau zu relativem Wohlstand gebracht hat, jedenfalls für erzgebirgische Verhältnisse.
Die meiste Zeit seiner Kindheit und Jugend wohnt Reiner Kunze in einem alten Mehrfamilienhaus an der „Inneren Stollberger Straße“. Die Eltern und er leben in einfachsten Verhältnissen. Die Toilette auf der Treppe müssen sie sich mit anderen Mietern teilen. Er erzählt:
Wir wohnten ganz oben, unterm Dach. Es gab nur einen kleinen Raum in der Mitte, der eine gerade Decke hatte. In diesem Raum wurde gekocht und die Zinkbadewanne aufgestellt. Die holten wir vom Boden. In dem Zimmer stand auch das Sofa. Nebenan unter der Dachschräge war noch eine Kammer. Dort standen die Betten zur niedrigen Seite hin. An der hohen Wandseite befand sich der große Schrank, der alles enthielt, was man an Kleidung brauchte, auch Betttücher und Wäsche. Über der Tür hing das einzige Bild, das wir besaßen. Es war ein Hochzeitsgeschenk. Darauf war Jesus als Hirte mit einer Herde Schafe zu sehen. Und auf den Wolken lagerten sich kleine pausbäckige rosige Engelein. Das war meine künstlerische Vorbildung, die ich in der frühen Kindheit genoss.
Seine Mutter Martha ist Kettlerin. Einmal in der Woche holt sie mit dem Handwagen aus der Strumpffabrik im über zehn Kilometer entfernten Oberlungwitz vorgefertigte Strümpfe. Oft nimmt sie ihn auf den langen Weg mit. Zu Hause näht sie auf der Kettelmaschine am Fenster die Nähte. Aber er erinnert sich auch, wie sie beide auf der Halde, die dem kleinen Jungen schwindelerregend hoch vorkommt, Kohle lesen.
Der Vater Ernst ist, wie dessen Vater schon, Bergmann in der Steinkohle. Nahezu wöchentlich passieren Unfälle. Jahrzehnte seines Lebens fährt er, bevor die Sonne aufgeht, ein in den Kaiserin-Augusta-Schacht, und er verlässt ihn erst, wenn der Tag zur Neige geht.
DIE SCHACHTTASCHE
Großvater war mit ihr
zur schicht gegangen
Echt leder
Instandgehalten
mit ahle und schusterzwirn
Nun ging mit ihr zur schicht
der vater
Ein erbstück
Das einzige4
An seinen Großvater hat Reiner Kunze prägende Erinnerungen aus frühen Kindertagen. Er darf manchmal dabei sein, wenn Großvater in den Hungerjahren für den Bauern Kühe auf der Weide hütet. Da kommt es schon mal vor, dass das Kind barfuß in einem frischen Kuhfladen steht und sich freut, wie der die Füße wärmt. Oder er schaut Großvater beim Stöckeroden zu. Wer einmal dicke Baumstümpfe gerodet hat, weiß, was für eine Arbeit das ist. Einmal, als der Großvater im Tausch gegen etwas Essbares beim Bauern Brennholz hackt, spielt das Kind auf dem Heuboden und findet ein Hühnerei. Was für ein Fund! Mit größter Freude läuft es zum Großvater. Der nimmt das Ei wortlos und bringt es der Bäuerin ins Haus. Als er zurückkommt, sagt er: „Mir sei ehrliche Leit.“
Dieser Satz, sagt Reiner Kunze, habe sich tief in ihm eingegraben. Vom Großvater habe er die Ehrlichkeit und durch den Vater habe er die Güte schätzen gelernt – und die Größe, die im Schweigen liegen kann.
Auch als er längst schon erwachsen ist, genießt er es, mit dem Vater zusammen zu sein und dabei einfach zu schweigen: „Wenn wir beieinander saßen, haben wir lange Zeit geschwiegen. Und das war schön! Es war alles gesagt.“
Einmal, erzählt er, hätten sie gemeinsam eine Holzdecke mit Ölfarbe gestrichen. Der Pinsel durfte nicht tropfen. Nur die Pinselspitze wurde in Farbe getaucht, keine Nase durfte sich an der Decke bilden oder gar den Pinselstiel hinablaufen. Deshalb sei es nur langsam vorangegangen. Schweigend hätten sie die Arbeit verrichtet und es sei großartig gewesen. Jeder habe sich auf den anderen verlassen können. Dann, nach Stunden, das erste Wort des Vaters: „Na!?“ Was so viel bedeutet habe wie: Wollen wir eine Pause machen?
Die Mutter Martha ist mit ihrem Temperament, ihrer Gesprächigkeit und ihrem Humor ganz das Gegenteil des schweigsamen Vaters. Kommen Gäste, gibt es ein Fest. Dann bieten die Eltern auf, was aufgeboten werden kann, auch wenn sie es sich eigentlich nicht leisten können. Selbst viel später, als die Eltern schon Rentner sind und Elisabeth und Reiner Kunze sie aus Greiz besuchen, ist es immer das gleiche Ritual: „Wenn wir wieder am Auto standen, brachte der Vater es nicht anders übers Herz. Er drückte mir einen Zwanzigmarkschein in die Hand. Ich darauf: ‚Papa, wir verdienen doch selber Geld!‘ Er: ‚Red nicht!‘“
Bücher spielen im Elternhaus keine Rolle.
Als meine Eltern gestorben waren, fand ich in dem großen Schrank, der durch alle Wohnungen mitgetragen worden war, ganz hinten hinter der Wäsche eine Bibel. Auch sie war ein Hochzeitsgeschenk. Diese Bibel hatte vierzehn Lesebändchen in verschiedenen Farben. Die waren noch so eingelegt, wie das Buch aus der Druckerei gekommen war. In ihr ist also nie gelesen worden.
Reiner Kunze erzählt noch eine Episode über das Verhältnis seiner Eltern zum Buch. Wenn ein neues Buch von ihm gedruckt worden war, habe er seinen Eltern immer ein Exemplar gebracht. So konnten sie sehen, sagt er, dass auch die Arbeit ihres Sohnes etwas zum Anfassen war. Der Vater habe dann neues Packpapier geholt und das Buch nicht etwa eingebunden, sondern richtig eingepackt und in die Schublade geschoben: „Dort wurde es heilig aufbewahrt. Liebevoller geht es nicht. Warum sollte ich meinen Eltern etwas aufdrängen, das nicht in ihren Möglichkeiten lag.“
Auch wenn Literatur, gar Lyrik in Kunzes Elternhaus nicht vorkommen, so verdankt er seine frühe lyrische Sensibilität doch vor allem der Mutter. Später wird der Dichter vielfach nach Einflüssen, nach Vorbildern gefragt werden, und manches wird in sein Werk hineininterpretiert. Doch der Schlüssel ist so einfach wie überraschend:
Mein erster großer Eindruck – nicht nur literarisch, auch musikalisch – waren die Volkslieder, die meine Mutter, wenn sie Handarbeit verrichtete, immer sang. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Strophen das Lied „Es waren zwei Königskinder“ hat. Sie kannte alle. Manchmal dichtete sie Volkslieder auch um auf ihr Leben. Einmal, sie hing Wäsche auf und sang, habe ich gesagt: „Aber das stimmt doch nicht!“ Sie fühlte sich ertappt und wollte keinesfalls zugeben, dass sie den Text weitergedichtet hatte.
Meine Mutter hat sehr schön gesungen. In ihrer Jugend war sie Sängerin in einem Chor. Sie kommt aus einem bürgerlichen Elternhaus, ihr Vater war Steinmetz und besaß ein Steinmetzgeschäft. Sie waren mehrere Geschwister, und zu Hause wurde Hausmusik gemacht. Mit diesem Schatz in der Seele wurde sie eine Bergarbeiterfrau. Diesen Schatz hat sie sich bewahrt.
Ich konnte viele Texte auswendig, noch bevor ich in die Schule ging. Ich weiß nicht mehr, ob ich auch die Melodien sang. Aber sie waren mir im Ohr. Für diesen Schatz bin ich bis heute dankbar. Viel später erst habe ich begriffen, was für großartige Kunstwerke Volkslieder sind, wie sie gebaut sind, wie viele Menschen über Generationen dran geformt haben, bis sie vollendet waren.
Wenn ich die „Königskinder“ betrachte, alle Strophen sind in der gleichen Weise gebaut: „Es waren zwei Königskinder“. Das ist eine Feststellung. Melodisch beginnt sie mit einer Quint. Dann kommt eine Steigerung: „Sie hatten einander so lieb“. Diese Zeile beginnt mit einer verminderten Septime. Schließlich die letzte Steigerung: „Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief“. So geht das durch das ganze Lied. Und dann so eine Stelle: „Das Wasser war viel zu tief“. Das habe ich erst viel später begriffen: Darum ging es ja gar nicht! Wenn das Wasser tief war, was machte das? Aber was ist breit gegen tief! Diese Trennung ist ja viel furchtbarer.
Diesen Grundstock verdanke ich meiner Mutter.
Wer kann wie Reiner Kunze heute noch von sich sagen, er sei mit einem ganzen Volksliedschatz aufgewachsen? Diese Lieder von Liebe und Heimat, von Träumen und Sehnsüchten waren ein elementares Kulturgut der einfachen Menschen. Es sind Lieder, die gehen tief ins Innere. Das Innere der Dinge und des Seins aufzuschließen, wenn auch in einer ganz anderen poetischen Form, gehört zum Wesen von Kunzes Lyrik bis heute. Im Volkslied liegt eine der Wurzeln dafür. Die Volkslieder der Mutter haben den Dichter ebenso geprägt, wie die Verhältnisse, in denen er aufgewachsen ist.
UNSERE EINFACHHEIT
Unsere einfachheit hatte
nicht einmal felder
Der wiesengrund, wo es den bergmannsfrauen war erlaubt,
die wäsche zu bleichen, gehörte
dem hauswirt
Selbst über die luft
geboten andere:
Auf das weiße bettleinen
rieselten schlotasche und ruß,
das gebleichte wurde
nachgewaschen
(…)
So eine einfachheit war’s
mit so einem himmel5
Als Reiner Kunze geboren wird, liegen die Hungerjahre der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 hinter den Eltern. Doch diese Jahre hinterlassen Spuren. Mit acht Monaten bekommt das Baby am ganzen Körper ein endogenes, von innen kommendes Ekzem, später stellt sich Asthma ein, zwei Krankheiten, die den Jungen bis in die Pubertät schwer belasten. Die Mutter macht sich Vorwürfe, sie sei schuld an seiner Hautkrankheit, hatte sie sich während ihrer Schwangerschaft doch fast ausschließlich von Pellkartoffeln, Salz und Senf ernährt.
Von klein auf lebt der Junge weitgehend isoliert von anderen Kindern. Es gibt kaum Zeiten, in denen ihm nicht die Knie oder die Ellenbogen verbunden sind, weil das Ekzem nässt, weil es blutet und eitert, wenn er daran kratzt. Deswegen bindet die Mutter ihm manchmal die Hände auf den Rücken. Als der Krieg beginnt, gibt es kaum Verbandszeug. Was es gibt, muss wieder und wieder gewaschen und gebügelt werden. Die von Eiter und Ichthyol-Salbe durchtränkten Verbände sehen abstoßend aus. Manche Eltern sagen: „Mit dem darfst nicht spielen. Der hat de Krätze.“
Er hat nicht die Krätze, sein Ekzem ist nicht ansteckend, aber der Junge kann vieles von dem, was Kindsein ausmacht, nicht tun. Er darf weder schwimmen noch auf Bäume klettern. Im Turnunterricht ist er, wenn er überhaupt mittun darf, nicht nur der Kleinste, sondern auch der Ungeschickteste:
Ich weiß noch, als wir einmal auf dem Schulhof Fußball spielen durften und zwei Schüler sich ihre Mannschaft zusammenriefen, stand ich zum Schluss allein. Ich hätte mich auch nicht in meine Mannschaft gewollt. Da sagte der Turnlehrer: „Wer den Reiner in seine Mannschaft nimmt, bei der spiele ich zur Belohnung in der zweiten Halbzeit mit.“
Wir hatten auch zwei Banden in der Klasse, die einander bekriegten. Aber beide bekriegten mich. Ich habe mich oft nicht nach Hause getraut, habe zwei Stunden hinter der Schultür gewartet und Angst gehabt. Denn ich wurde mehrmals durch Steinwürfe – auch am Kopf – verletzt.
Das hat mich in meiner Kindheit sehr belastet. Eine Folge könnte gewesen sein, dass ich in meiner Isolation angefangen habe, mir Geschichten auszudenken und sie aufzuschreiben. Das war der nächste Fehler: Meine Hausaufsätze waren viele Seiten länger als die der anderen Schüler, und der Lehrer hielt sie der Klasse vor und sagte: „Schaut euch mal an, was der Reiner macht.“ Das war natürlich wieder ein Grund zur Bestrafung.
Ausgrenzung und Alleinsein sind sicher nicht der entscheidende Grund, weshalb der Junge beginnt, seine Fantasien in Geschichten, manchmal auch in Reimen, auf Papier zu bringen, besonders wenn er wochenlang mit Verbandsmull um Arme und Beine zu Hause liegt. Er entdeckt das Schreiben und beginnt in Assoziationen zu denken. Diese Begabung, die ihn später zum Künstler macht, ist bereits zeitig ausgeprägt:
Dass ich als Kind schon diese seltsame Denkweise gehabt habe, zeigt ein winziges Erlebnis. Ich war zehn Jahre alt war, es herrschte Krieg und wir hungerten. Meine Mutter suchte an den Weidezäunen Brennnesseln, um am Abend Brennnesselsuppe kochen zu können. Es war Frühherbst, ich setzte mich an einen Hang und beobachtete die Schwalben, die sich auf den Stromleitungen zum Abflug sammelten. Damals gab es unglaublich viele Schwalben. Ich war fasziniert, und plötzlich sagte meine Mutter: „Was guckst du so?“ Ich zeigte auf die Schwalben und sagte: „Stacheldraht.“ Mit Entsetzen im Gesicht kam sie ganz nahe an mich heran und sagte: „Aber Reiner, das ist doch kein Stacheldraht. Das sind doch Schwalben.“ Darauf ich: „Ich weiß schon.“ Erst Jahrzehnte später habe ich begriffen, dass meine Mutter dachte, ich hätte den Verstand verloren. Dabei war es nur ein Anderssehen, eine Assoziation.
Welche zuvor gehabten Erlebnisse sich mit der Beobachtung der Schwalben auf dem Draht zum Bild vom „schwalbenstacheldraht“ verknüpfen, wird wohl ein Rätsel bleiben.
Auf dem Weg zur Schule kommt er jeden Tag an einer Gärtnerei vorbei. Dort trifft er manchmal den Herrn Schmalfuß, einen älteren Juden. Eines Tages hört er, wie Frauen sich auf der Straße zuflüstern, den alten Schmalfuß habe man „abgeholt“. Ohne ermessen zu können, was „abgeholt“ bedeutet, spürt der Junge das Unheimliche hinter diesem Wort. Es ist ein Wort wie „schwalbenstacheldraht“.
KINDHEITSERINNERUNG
Wenn die schwalben sich zum abflug sammelten,
trennte zwischen den stromleitungsmasten
schwalbenstacheldraht
das dorf vom himmel
Und die menschen waren
gefangene, verurteilt
zum winter
(…)6
Eine politische Meinung, sagt Reiner Kunze, hörte er zu Hause nie. Er sei auch nie politisch beeinflusst worden:
Als Hitler 33 an die Macht kam, haben meine Eltern das garantiert nicht politisch reflektiert, sondern nur: „Der Führer hat Arbeit geschaffen.“
Irgendwann beim Bier hat einer seiner Arbeitskollegen meinen Vater überredet, in die Partei einzutreten: „Der Führer hat uns Arbeit verschafft.“
Wie stark mein Vater in der nationalsozialistischen Ideologie involviert war, sieht man daran:
Er bekam regelmäßig eine Zeitschrift geschickt, die hieß „Der politische Leiter“. Die Zeitschrift verschwand so, wie sie geschickt wurde, im Nachtkästchen. Er hat niemals auch nur eine Seite aufgeschlagen. Diese Zeitschrift hatte ein schönes festes Umschlagpapier. Eines Tages habe ich mir aus einem Umschlag ein Flugzeug, eine Schwalbe, gebaut und sie auf der Straße fliegen lassen. Als mein Vater von der Schicht kam, nahm er die Schwalbe und gab mir eine Ohrfeige. Es war die einzige Ohrfeige, die ich von ihm je bekommen habe: „Dass du das nie wieder angreifst!“ Es war vermutlich ein Angstreflex.
Mein Vater wurde 1939 eingezogen und kam 1945 als Gefreiter aus dem Krieg zurück.
An der Volksschule erlebt Reiner Kunze Antreten, Trommeln, Fanfaren, Hakenkreuzfahnen. Die Appelle und Aufmärsche gehören dazu. Wie alle anderen ist er in der Hitlerjugend.
Ich ging in Oelsnitz in die Volksschule. Dort habe ich zum ersten Mal erlebt, was eine Generation später Utz Rachowski auf der Oberschule in Reichenbach erlebte – nur mit anderen Uniformen: Jeden Montag Fahnenappell. In dem Buch „Die wunderbaren Jahre“ habe ich darüber geschrieben.
Reiner Kunze sagt, eigentlich sei er kein besonders guter Schüler gewesen, weder im Rechnen noch im Sport. Hervorgetan habe er sich mit dem Sammeln von Altpapier und Buntmetall, wozu die Schüler aufgefordert waren. Wer eine bestimmte Menge zusammenbrachte, bekam ein Heftchen mit einem der Grimms Märchen. Für diese Heftchen zog er mit dem Handwagen von Haus zu Haus. So, sagt er, habe er sich seine erste kleine Bibliothek zusammengesammelt.
Einer der Neulehrer, selbst noch Lernender, wird in der sechsten Klasse sein Deutschlehrer. Er ist beeindruckt von den Aufsätzen und Versen, die sein Schüler schreibt, und er beschließt, ihn in die achte Klasse vorzuversetzen, damit er schneller auf die Oberschule kann. Was er offenbar nicht bedenkt, sind die mäßigen Rechenleistungen seines Zöglings. Und so nimmt er den Jungen nach Unterrichtsschluss ins Lehrerzimmer mit und versucht, ihm die Prozentrechnung zu erklären: Er solle annehmen, fünf sei gleich hundert. Aber der Schüler ist auf der Hut: Fünf sei doch viel weniger als hundert. Als der Lehrer erwidert, alles könne gleich hundert sein, auch eine Million, lacht der Schüler schallend.
Die Eltern denken nicht an höhere Schulbildung. Der Junge soll etwas Ordentliches lernen, einen Beruf, der gebraucht wird. Schuster werden immer gebraucht. Und so vereinbart der Vater eine Schuhmacherlehre für ihn. Der Sohn soll versorgt sein, soll nicht arbeitslos werden wie er in der großen Krise, wenn wieder eine Krise kommt. Und er soll nicht hungern müssen wie in den Jahren, die Reiner Kunze so in Verse fasst:
NACH DEM KRIEG
Die bauern hackten die abgeernteten felder nach,
bis die furchenhügel
gräben waren
Fremden, die dem acker
sich zu nähern wagten, zeigten sie
die pferdepeitsche
Die hacken verborgen im unterholz,
warteten wir im wald,
bis über den niederbrennenden kräutrichfeuern
der mond aufging
und unserem hunger
eine unerreichbare
in heißer asche aufgeplatzte
kartoffel leuchtete7
Sein Lehrer setzt sich ein, und der Junge bekommt die Chance, in die Aufbauklasse an die Oberschule nach Stollberg zu gehen. Der Vater ist dagegen, doch der Lehrer ringt ihm die Erlaubnis ab. Bevor der Sohn jedoch auf die weiterführende Schule darf, muss er eine Aufnahmeprüfung bestehen:
An der Tafel stand eine Rechenaufgabe mit einem Buchstaben. X oder Y ist gleich … Da habe ich abermals gelacht und in der heiligen Prüfungsraumstille ausgerufen: „Ach, das gibt’s doch gar nicht! Mit Buchstaben kann man doch nicht rechnen.“ Damit war die Sache klar: Ich war durchgefallen.