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Torsten von Wurlitz

Eisige 7

Kommissar Wunderlichs fünfter Fall

Ein Kornberg-Krimi

1

„Dieses Oberfranken bringt uns noch alle um!“

Nur mit Mühe gelang es ihm, den brüllenden Wind zu übertönen. Sie kamen kaum voran. Der Sturm peitschte ihnen unerbittlich die Schneeflocken entgegen.

„Die hatten alle Recht!“ Hanns König konnte sich gar nicht beruhigen.

„Recht womit? Und wer ist ‚die‘?“, plärrte Fritz Jahn durch das Getöse zurück.

Es war ein unbarmherziger Kampf, den die Gruppe führen musste. Die schneidend kalte Luft rieb sich wie ein Mantel aus tausend Rasierklingen an der Haut der Weggefährten. Ihre Mienen waren schmerzverzerrt und grimmig. Sie schwitzten wie die Teufel, doch das Wasser auf ihren Gesichtern erstarrte sogleich zu Eis.

„Bayerisch Sibirien! Das sagen die doch immer zu uns, die in ihrem München.“

„Olda Waafn!“ Jahn war aus Rehau.

„Wäi moinst?“ König war aus Schönwald.

„Ich meine, du sollst weitermarschieren, still sein und nicht auf Grundlage unwahrer Gerüchte Landesverrat begehen! Oder wie man es nördlich des Berges ausdrücken würde: Hald dein Rand, sinsd schwarrd iech diech zamm!“

Der Versuch, etwas Humor einzubringen, misslang. Die Stimmung in der Suchmannschaft war weiß Gott nicht zum Scherzen. Alle waren sie angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Abschuss des Pfeils. Zehn Mann hatte der Fichtelgebirgsverein für die waghalsige Aktion in arktischen Verhältnissen aufbieten können. Fritz Jahn, Vorsitzender der Ortsgruppe Rehau, hatte die Führung übernommen. Vor einer Viertelstunde erst waren sie aufgebrochen, im Dörfchen Brunn am Osthang des Kornbergs. Dort hatten sie die Fläche vor dem Feuerwehr-Gerätehaus in einen Großparkplatz verwandelt, und die Feuerwehr hatte ihnen literweise Kaffee und sogar heiße Kartoffelsuppe ausgeschenkt. Aber schon jetzt war die innere Wärme wieder verflogen. Bis zum Gipfel waren es von hier nur etwa vier Kilometer, aber das Thermometer zeigte zehn Grad minus, obwohl es schon zehn Uhr vormittags war. Der Schnee fiel unaufhörlich, doch von leise rieseln konnte beim Toben des höllischen Westwindes, dem sie sich entgegenwerfen mussten, wahrlich keine Rede sein. Normalerweise lag das Merzenhaus, das letzte Siedlungsgebäude, bevor es in den Wald ging, idyllisch nach einer kleinen Wegbiegung offen auf einer Wiese, im Frühsommer ein Paradies aus blühendem Raps und bunten Obstbäumen. Heute gab es weder Wegbiegung noch Wiese, denn gerade einmal sechzehn Stunden nach dem Wintereinbruch lag fast ein Meter Neuschnee. Sie sahen durch das Flockengewirr die Hand vor Augen nicht, nur ein einziges undurchdringliches Weiß. Die FGVler waren Naturburschen, logischerweise, wenn man Mitglied war im Verein zur Erwanderung, Förderung und Pflege des schönsten Mittelgebirges der Welt. Sie kannten jeden Quadratmeter Natur um ihren Hausberg auswendig. Aber hier und jetzt war alles anders. Und in ihren vereisten Mienen konnte man die Angst lesen, ganz einfach jämmerlich zu erfrieren.

Hanns König war sich durchaus im Klaren, dass der Spruch von Bayerisch Sibirien Unfug war. Ausdruck eines neidvollen Blicks aus dem Ballungsraum im Süden, der an seiner Größe erstickte, auf die weite, grüne, ruhige Landschaft im Norden dieses Freistaates. „Lieber hundert Prozent mehr Lebensqualität als zwei Grad mehr auf dem Thermometer“, pflegte er zu sagen. Aber heute hatte er sich einfach abreagieren müssen, vielleicht auch nur, um innerlich warm zu bleiben. Denn sie hatten eine Aufgabe, bei der sie dem um sich beißenden Winter trotzen mussten. König blickte abwechselnd hoch und zu Boden, schloss die Augen und öffnete sie wieder; er wehrte sich, so gut es ging, gegen die drohende Schneeblindheit. Er hatte sich sofort freiwillig gemeldet. Zu viel stand auch für seine Stadt auf dem Spiel.

Dabei wussten sie nicht einmal, was sie mehr hoffen sollten: Dass sie erfolglos zurückkehren oder dass sie die sieben finden würden – tot oder lebendig.

„Das gibt’s doch alles gar nicht! Wir sind hier doch nicht im Himalaya!“, rief Jahn den beiden Marktleuthenern empört zu, die neben ihm tapfer durch das endlose Weiß stapften. „Wie lange ist es her, dass wir am 8. November so einen Schneesturm hier oben hatten?“

„Anfang November? Das muss im Jahr eintausendneunhundertfünfundachtzig gewesen sein“, kam es sarkastisch zurück. „Ich weiß noch, wie wir damals geschaufelt haben wie die Blöden. Vor fünfunddreißig Jahren!“ Sie schüttelten alle drei ungläubig den Kopf. Den dummen Spruch, wo denn der Klimawandel sei, wenn man ihn einmal brauche, verkniffen sie sich – zu groß war ihr Respekt vor den lärmenden Naturgewalten direkt um sie herum.

„Ist denn wirklich sicher, dass wir hier entlang müssen? Wir hätten den Weg von Spielberg nehmen sollen, dann hätten wir wenigstens fahren können.“

„Sie sind gestern nun einmal hier entlanggekommen“, antwortete Kriminalhauptkommissar Wunderlich, der die zehn ausgesucht hatte und sie begleitete. „Und sie haben uns das hier hinterlassen.“ Er deutete auf den Eingang zum Wald.

„Haalicher Strohsack!“, entfuhr es Fritz Jahn. „Da kommt ja wirklich keiner dran vorbei!“

Bibbernd waren sie an der riesigen hölzernen Konstruktion angekommen, die ein Weiterkommen mit jeglichem Fahrzeug unmöglich machte. Einer nach dem anderen zwängten sie sich darum herum, links und rechts durch die Bäume. Dann setzten sie ihren Wintermarsch auf dem Nordweg fort, sozusagen dem Autobahnring des Fichtelgebirges. Ein weißes N auf rotem Grund wies ihnen den Pfad, es würde sich, wenn man lange genug nach Westen lief, in ein W, dann später in ein S und schließlich in ein O verwandeln. Aber so weit brauchten sie sich bei ihrer Aktion zum Glück nicht zu quälen – sie hätten ja mehrere Tage lang zuerst über den Waldstein nach Gefrees gemusst, von dort nach Süden bis Bad Berneck und dann quer durch den nördlichen Steinwald nach Osten gen Wiesau, um zurück nach Selb zu kommen. Die 135 Kilometer hätten sie bei dieser Witterung wohl mit dem Leben bezahlt. Wandern im Fichtelgebirge hatte etwas ziemlich Großräumiges.

Das Zweierteam der FGV-Ortsgruppe Kirchenlamitz hatte Schneeschuhe dabei und stapfte voran, denn ab hier ging es auf einer langen Geraden stetig bergan zur Vorsuchhütte. Das Spuren des Weges gab der Gruppe ein Stück Sicherheit. Dachten sie alle. Aber das rettete sie nicht im Geringsten vor den Gefahren des tückischen Sturms, mitten in diesem riesigen Fichtenwald. Und so war, ehe sie sich’s versahen, das Unglück schon passiert.

Fritz Jahn war in Rehau eine Legende. Er führte die FGV-Ortsgruppe seit fast vierzig Jahren und hatte sich in dieser Zeit, neben vielen anderen Verdiensten, den Ruf des „Mister Kornberg“ erworben. Er wusste am besten über jeden Meter auf den Wanderwegen, Loipen und Pfaden Bescheid, und es gab kein Problem hier draußen, auf das er, ein Ausbund an Ruhe, nicht stets eine praktische Antwort gehabt hätte. Nun jedoch war er gerade ernstlich mit Nachgrübeln beschäftigt. Wie es alles so weit hatte kommen können. Sieben Mann, einfach weg. Und nicht irgendwer, sondern sieben unfassbar wichtige. Was die Organisation, die für ihr Verschwinden verantwortlich war, sich wohl davon versprach? Macht? Geld? Oder ganz einfach nur freies Geleit, weg von dem Berg, den sie besetzten? Und was mit dem Suchtrupp eigentlich geschehen würde, sollten sie auf die Verbrecher stoßen, hier in der winterlichen Einsamkeit. Er blickte nach links und rechts in das Dickicht des Waldes, als es plötzlich den Schlag tat.

Sie befanden sich gerade am Abzweig Richtung Oberweißenbach und Steinselb, wo kurz vor einer Rechtskurve einige besonders hohe und einzeln stehende Fichten aufragten, die vom Sturm so heftig gebeutelt wurden, als wären sie Grashalme. Genau in diesem Moment riss eine Bö von achtzig Stundenkilometern einen dicken Ast vom Baum und drosch ihn krachend der jungen Frau aus Selb an die Stirn. Ein markerschütternder Schmerzensschrei durchbrach das Tosen der Lüfte, und das gleichmäßige Weiß auf der Erde wurde mit einem Mal schroff getränkt von Blut.

„Verdammte Schweinerei! Mussten wir ausgerechnet bei diesem Chaos aufbrechen? Da seht ihr, was dabei herauskommt!“ Es war das Team aus Schwarzenbach, dem nun der Kragen platzte. Aber so laut sie auch schrien, das Mädchen gab keinen Mucks mehr von sich.

„Wollt ihr eure sieben Städte retten oder nicht?“, entgegnete Jahn so gleichmütig, dass man ihn im Wind kaum verstand. Er sah fordernd in die Runde, während er in Ruhe die Platzwunde der jungen Selberin versorgte, die geschockt, aber ansonsten lebendig auf einem Stein hockte. „Sie müssen hier oben sein, da waren wir uns einig. Wir haben uns alle freiwillig gemeldet. Die Polizei braucht uns. Und wir müssen sie finden. Jede Stunde zählt!“

Benommen von Schnee, Wind und Kälte und von der Plötzlichkeit des Unfalls schlurften sie weiter den Nordweg bergauf. Einer nach dem anderen begann, Taschenlampe oder Suchscheinwerfer aus dem Rucksack zu kramen, je näher sie dem Gipfel kamen. Um sie herum nichts als Bäume. Sie leuchteten jeden Winkel aus, was angesichts des Schneetreibens fast einer Verzweiflungstat gleichkam. Sie alle dachten mit Grausen an den späteren Rückweg, der sie, sollte nicht ein Wunder geschehen, mitten in die Dämmerung eines Winterabends führen würde. Es würde noch kälter werden.

Endlich kamen sie im Heulen des Windes auf dem zugeschneiten Fahrweg an, der von Spielberg hochkam. Jahn blickte geradeaus, der Nordweg kreuzte die Fahrbahn und wurde sogleich wieder vom Wald verschluckt. Dort begann der letzte, unwegsamste Kilometer zum Gipfel des Kornbergs. Sollten sie sich direkt hier hinaufquälen? Oder zunächst die Loipe entlanggehen, ein Stück nach rechts, um dann auf der breiten Schneise der Skipiste aufzusteigen? Oder befanden sich die sieben Gesuchten vielleicht gar nicht ganz oben, auf achthundertsiebenundzwanzig Metern? Wo sollten sie suchen, wo, wo …

Hanns König nahm ihm die Entscheidung ab. Mit einer einzigen Handbewegung, zittrig, aber nicht wegen der klirrenden Kälte.

Fritz Jahn folgte Königs Zeigefinger und die anderen neun taten es ihm gleich, so als würde ein imaginärer Zauberstab ihre Blicke in Richtung des Häuschens zwingen. Dorthin, wo das grausige Häufchen Elend kauerte. Einer der sieben VIPs, die sie verzweifelt zu retten suchten, hatte wohl fliehen können. Aber weit war er nicht gekommen.

Königs Wangen hatten sich in eine einzige Platte aus Eis verwandelt. Seine Augen waren erstarrt, vor Kälte und vor Schrecken.

„Da ist der Erste“, stöhnte er nur resigniert und deutete auf die Vorsuchhütte. „War’s das?“, murmelte er durch den grimmigen Wintertag. „Ohne sie können wir einpacken. Dann ist in Rehau, Schönwald, Selb, Wunsiedel, Marktleuthen, Kirchenlamitz und Schwarzenbach alles vorbei.“

„Nein, schau doch!“ Selbst Jahn war jetzt aufgeregt. „Seine Hand hat sich bewegt. Er lebt noch!“

„Fragt sich nur, wie lange, also nichts wie hin!“, meldete sich Kommissar Wunderlich.

Schon mit einem einzigen Toten, das war ihnen so klar wie die eisige Luft, wäre alles verloren.

Was nur Wunderlich wusste und erst einmal nicht zu verraten wagte: Die zehn Grad minus waren ein Kindergeburtstag verglichen mit dem, worauf sie sich gefasst machen mussten. Jetzt rief er doch noch seine Kavallerie an. Es war elf Uhr.

2

Eine Woche zuvor

An Winter war nicht zu denken, und das war schön. Schön wie ein Gedicht.

Alleen

Alleen und Blumen

Blumen

Blumen und Frauen

Alleen

Alleen und Frauen

Alleen und Blumen und Frauen und

ein Bewunderer

Edmund Angermann war an diesem Sonntag in Hochstimmung. Das war für den Ersten Bürgermeister der Stadt Rehau zwar kein ungewöhnlicher Zustand. Der Mittvierziger werkelte tagtäglich so intensiv an seiner Zehntausend-Einwohner-Gemeinde am Rand des Fichtelgebirges herum, dass er oft kaum zu bremsen war. Erst vor einem Jahr hatte hier, im angeblich so verschlafenen Nordosten Bayerns, die Sommerlounge Fichtelgebirge stattgefunden. Eine After-Work-Party, bei der sich Anfang August fünftausend Besucher einen Tag lang auf dem Maxplatz ein Stelldichein gegeben hatten, umrahmt von einem Bühnenprogramm und über einhundert Markt- und Messeständen. Die Wartezeit in der Schlange am Bratwurststand hatte gegen neunzehn Uhr etwa fünfundvierzig Minuten betragen, so proppenvoll war es bei bestem Wetter gewesen. Rehau ging es gut, und in der Folge war Angermann vor einem halben Jahr mit einem Rekordergebnis wiedergewählt worden. Heute allerdings legte er noch eine Schippe drauf, ausgerechnet an Allerheiligen. Es war ja auch ein regelrecht frühlingshafter Tag, wie so oft in den letzten Jahren. Geradezu euphorisch betrachtete er einmal mehr eine der jüngsten Erfolgsgeschichten, die er und sein Stadtrats-Team vollbracht hatten. Coup traf es in diesem Fall wohl eher in der an Ideen und Visionen wahrlich nicht armen Industriestadt im Grünen.

Die Inschrift an der Fassade des Alten Rathauses inmitten des Rehauer Maxplatzes war das wohl berühmteste Gedicht des Jahres 2018 in Deutschland. Sein Verfasser Professor Eugen Gomringer, weit weg von hier geboren und doch letztlich einer der größten Söhne der Stadt, hatte es vor fünfzig Jahren aufgeschrieben. Eine Straßenszene in Barcelona. Belebt, grün, romantisch, einfach liebenswert. Das jedenfalls sollte es aussagen. Zu Berühmtheit gelangte es allerdings, weil die deutsche Bundeshauptstadt in etwa da einzuordnen war, wo es der bayerische Ministerpräsident kürzlich getan hatte. „Es gibt Leute“, so der Frankenkönig sinngemäß, „die finden Berlin arm, aber sexy. Ersteres stimmt, Letzteres würde ich so nicht unterschreiben.“ Dass er damit recht hatte, bewies eine Gruppe Studentinnen, die Gomringers Gedicht eines schönen Tages an der Fassade ihrer Berliner Hochschule entdeckten – und es empört als sexistisch geißelten. Es blieb etwas unklar, wie man darauf kommen konnte. Vielleicht weil Frauen nicht bewundert werden durften. Oder nicht in eine Reihe mit Blumen gestellt. Oder vielleicht war die schockierende Erkenntnis auch dem ungünstigen Einfluss von großstädtischem Feinstaub oder universitärem Grasrauchen entsprungen. Auf jeden Fall: Das böse Gedicht musste weg.

Noch nie, solange sich Bürgermeister Angermann erinnern konnte, war die Stadt Rehau so günstig und europaweit zu positiver Publicity gekommen: „Berlin ist die Provinz, und Rehau ist die Weltstadt.“ So stand es zum Beispiel zutreffend in den Süddeutschen Nachrichten, nachdem der Rehauer Stadtrat folgende Botschaft ausgesandt hatte: Wenn ihr in Berlin Gomringers Gedicht übermalt, dann schreiben wir es erst recht an unsere schönste Fassade.

Touché!

Angermann stand noch immer in wohlige Gedanken versunken vor der Inschrift, als ihn der Donnerschlag mit voller Wucht traf. Er hatte, vergnügt wie jeden Tag, nur beiläufig zu den schwarzen Buchstaben hingeguckt, die in schnörkelloser Druckschrift im spanischen Originaltext auf den cremeweißen Hintergrund gemalt waren. Erst auf den zweiten Blick stellte er fest, welche Worte wirklich an der Fassade prangten:

Eis

Eis und Zeit

Zeit

Zeit und Leben

Eis

Eis und Leben

Eis und Zeit und Leben und

ein Verräter

Edmund Angermann trieb es die Zornesröte ins Gesicht. Er pflegte regelmäßig von „unserer schönen Stadt Rehau“ zu sprechen und davon, dass die Jugend das Gold der Zukunft sei. Diese Jugend musste sich hier mit übelstem Vandalismus an der Stadt mit Herz und Kultur vergangen haben – in diesem Fall besonders an der Kultur. Er schimpfte in die Mittagssonne hinein und sah sich im Geiste schon ein Schreiben an die Presse aufsetzen, in dem er von sprichwörtlicher Frechheit und fehlender Sach- und Fachkompetenz reden würde.

Dann entdeckte er den roten Pfeil direkt unter den geschändeten Gedichtzeilen. Er wies nach links zum Maxplatz, bog rechtwinklig nach oben ab und zeigte damit nach vorne, in Richtung Altes Rathaus und Perlenbach-Promenade. Neugierig begann der Bürgermeister, der Wegweisung zu folgen. Er ging ein paar Schritte auf Tinas Tapas-Restaurant zu. Dann blickte er die Straße entlang Richtung Bohei-Bar und Pfarrkirche, konnte aber nichts Besonderes entdecken außer der Schönheit des Ensembles, das es erst vor wenigen Wochen wieder ins Bayerische Fernsehen geschafft hatte: JugendstilGebäude, Restaurant-Freiflächen, große Wiese und Flusspromenade. Schließlich wandte er, mehr aus Ratlosigkeit, seine Augen nach oben, zum Turm des Alten Rathauses. Und da hing er.

Auf dem in schwarzem Schiefer gedeckten Rathausdach befand sich ein Glockenturm, dessen Fenster mit waagerechten Lamellen bestückt waren. Um die Lamellen jedoch war heute ein Tau gebunden. Und an dessen unterem Ende baumelte die Leiche von Gerch Mackert.

Der Pfeil hatte nicht nach vorne in Richtung Schwarzenbach gezeigt. Es war tatsächlich oben gemeint gewesen.

„Verregg, du Gribbl!“, stand darunter in blutroter Farbe geschmiert.

Auf Georg Mackert, genannt Gerch, traf das Wort Gribbl durchaus zu. Der wohlgenährte Industrielle mit schwarzem Schnauzbart und oberfränkischem Trachtenjanker war zweitgrößter Steuerzahler der Stadt Rehau und ließ keine Gelegenheit aus, um genau dies und seine Verdienste um das örtliche Gemeinwesen in den schillerndsten Farben zu betonen. Nicht ganz zu Unrecht, denn Mackert hatte vom Boden seiner Heimatstadt aus ein deutschlandweites Imperium an Windparks aufgebaut und war damit vom Arbeitersohn zum Multimillionär aufgestiegen. Die Licht & Faser AG mit ihren über hundert Millionen Euro Jahresumsatz hatte er längst überholt. Zum Zeichen dafür ließ er seinen Firmensitz oben am Frauenberg gerade geringfügig erweitern. Genauer gesagt setzte er ebenjenem Licht-&-Faser-Gebäude eine gigantische Baugrube vor die Nase, aus der ein Glaspalast entstehen sollte, der den anderen die freie Sicht auf den Kornberg nehmen, Mackert diese hingegen verschaffen würde. Geblendet von der Vorfreude auf seine neue fantastische Südlage mit Blick über die Stadt und die lieblichen Hügel am Nordrand des Fichtelgebirges – und natürlich auch geblendet von seinem eigenen Glanz – hatte Gerch Minuten zuvor die fortschreitende Baustelle verlassen. Begleitet wie immer von seinem Personenschützer, den er im „Netzwerk bedeutender Unternehmer“ zur Verfügung hatte, einer von ihm selbst gegründeten Selbsthilfeorganisation für Wichtigtuer aus der Wirtschaft. Er hatte allen Grund dazu.

Kriminalhauptkommissar Wunderlich, Leiter der Außenstelle Rehau der Kripo Hof, genoss derweil den milden sonnigen Spätherbst von Hochfranken im Sattel. Ihm hing noch der Geschmack des Schweizer Wurstsalats mit viel Zwiebeln, Essig und Öl im Gaumen, den er gerade bei der Rast in der Rauen Schänke verspeist hatte. Eines seiner Leibgerichte. Das galt es nun sportlich wieder abzuarbeiten. Feinmotorik war nicht seine Sache, aber Ausdauer besaß er reichlich, und es hieß ja auch „je oller, je doller“, was ihm kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag hervorragend zu Gesicht stand. Also bestand sein sportlicher Ausgleich, schon seit seinen Jugendtagen, im Rennradfahren. Und zwar Hauptsache bergauf. Die Website quaeldich.de gehörte zu seinen Favoriten-Lesezeichen im Browser, und Ziele wie der eintausendeinundfünfzig Meter hohe Schneeberg-Gipfel oder die Waldstein-Passstraße gehörten zu seinem Standardprogramm; wenn er Ernst machte, waren jedoch auch Timmelsjoch, Alpe d’Huez und der Col du Galibier dabei. Unterwegs auf diesen Routen war er allerdings stets allein gewesen. Allenfalls dass er Edmund Angermann hin und wieder mitnahm, seinen Bürgermeister-Duzfreund, den er seit gemeinsamen Kindertagen im Dorf Wurlitz kannte. Dann aber kam das Frühjahr 2020, und Ulrike hatte plötzlich Blut geleckt und sich selbst ein Rennrad gekauft. Seitdem waren die beiden, ein Geschenk, das er sich nie hätte träumen lassen, zu zweit unterwegs. Als das Handy ihres Mannes klingelte, rollte Ulrike Wunderlich soeben gemütlich hinter ihm her auf dem neuen Perlenradweg neben der alten B15, in der Abfahrt von Schönwald heim nach Rehau. Gerade rechtzeitig.

Der Bürgermeister der Stadt Rehau klingelte Wunderlich am Perlenhaus förmlich vom Rad herunter. Zehn Minuten später standen Kommissar und Rathauschef gemeinsam auf dem Maxplatz, nach fünfzehn Minuten war dieser hermetisch abgeriegelt und in ein flirrendes, allgegenwärtiges Blaulicht getaucht, nach zwanzig Minuten hatte eine Batterie Menschen mit weißen Overalls und Laborköfferchen das Alte Rathaus umstellt und zum selben Zeitpunkt war Rotter mit seiner Feuerwehr da, um den unseligen Gerch Mackert vom Glockenturm zu knüpfen. Das heißt, nicht der Hundert-Kilo-Mann Rotter selbst übernahm diese Aufgabe, sondern sein Höhenrettungs-Experte. Den Spurensicherer nahm der junge Mann gleich im Korb der fahrbaren Leiter mit nach oben.

„Na, Mister achtzig Prozent, du schaust ja gar nicht gut aus.“

Angermann war ein gestandener Kommunalpolitiker, der seit dem 1. Mai bereits seine dritte Amtszeit absolvierte, und seither zog ihn sein Kumpel Wunderlich mit seinem bemerkenswerten Wahlergebnis auf. Aus Respekt, aber ein bisschen auch aus Bedauern für Uli Wolk, Angermanns Gegenkandidaten. Dessen Partei, den Bürgern für Rehau, hatte Wunderlich zwölf Jahre lang angehört und auf ihrer Liste in den neunziger Jahren für den Stadtrat kandidiert. Er kannte und schätzte Wolk. Und freute sich für Angermann. Doch in diesem Moment hatte keins von beidem Vorrang. Er war schlicht besorgt. Angermann haute so schnell nichts um; seine Rathaus-Anwesenheit von fünf bis dreiundzwanzig Uhr war ebenso legendär wie seine Reden an die Bürger. Aber den toten Gerch schien selbst er nicht zu verkraften.

„Warum?“, flüsterte der Bürgermeister.

„‚Warum nicht?‘ ist wohl die bessere Frage. Du weißt genau, dass die Menge seiner Feinde gleich der Gesamtmenge der Menschheit abzüglich der verdammt kurzen Liste seiner Freunde ist.“

Beide mussten trotz der Tragik kurz grinsen. Sie hatten den gleichen trockenen Humor. Unter anderem deshalb waren sie so gut befreundet.

„No scho“, bestätigte der Rathauschef. „Aber welche Feinde hat er denn ausgerechnet auf dem Gebiet der schönen Künste? Das ist doch wahrlich nicht seine Kernkompetenz. Was hat er mit Gomringers Gedicht zu tun, und was hat er angestellt, dass man ihn deshalb umbringt?“

„Man hat ihn nicht deshalb umgebracht!“, rief der Spurensicherer vom Glockenturm zu Angermann und Wunderlich hinunter.

„Nicht deshalb?“, fragten sie beide zugleich. „Woher weißt du das denn jetzt schon?“, setzte Wunderlich nach.

„Weil er überhaupt nicht umgebracht wurde!“

„Was?? Er hat sich selbst getötet? Gerch der Großkotz? Selbstmord? Das glaubst du doch selbst nicht!“

Statt einer Antwort tat der Spurensicherer etwas sehr Merkwürdiges: Er holte mit der flachen Hand aus und knallte sie Mackerts Leiche gegen den Kopf.

„Deng!“, machte Mackerts Leiche bloß.

„Gehört? Innen hohl!“

Wunderlich und Angermann wollten einwenden, dass ja gerade das zu Gerchs hervorstechenden Eigenschaften gehörte, aber sie hatten den Mann schon verstanden.

„Das ist eine Puppe?“

„Yip! Auf den ersten Blick würde ich sagen, Kunststoff. Lebensechte Puppen werden häufig aus Silikon hergestellt. Ist aber ein Haufen Arbeit, schon bei Babys und erst recht bei einem Erwachsenen. Da war jemandem der Hass auf unseren Gerch einigen Aufwand wert.“

Angermann entfuhr ein Seufzer der Erleichterung, tief, aber von sehr kurzer Dauer, als er in Wunderlichs ernstes Gesicht blickte.

„Warum Verräter?“, fragte der. „Und vor allem – was hat diese Zahl da zu bedeuten?“

Der Bürgermeister blickte verwirrt ein weiteres Mal auf die verschandelte Inschrift. Er war so schockiert gewesen, dass ihm dieses Detail vollkommen entgangen war. Tatsächlich, der Täter hatte ihnen noch etwas aufgeschrieben. Gar nicht blutrot, so wie die ungeheuerlichen Worte darüber. Vielmehr in einem eiskalt glänzenden, hellen Blau. Und es handelte sich um nicht mehr als um eine einzelne Ziffer.

„7“.

3

Der gnadenlose, eisige Sturm wollte kein Ende nehmen. Es war elf Uhr, aber die Zahl hinter dem Minus auf Fritz Jahns Thermometer wurde und wurde nicht einstellig. Immerhin hatte der Rettungstrupp des Fichtelgebirgsvereins dem Wüten der Natur zum Trotz mit letzter Kraft die Vorsuchhütte erreicht und war ungeachtet des Überlebenskampfes, in den die Männer und Frauen dort nun eingreifen würden, froh darüber, erst einmal nicht weitergehen zu müssen. Das ehemalige Gasthaus war seit dreißig Jahren geschlossen, aber der Flecken auf halber Höhe zwischen Talboden und Kornberggipfel bot noch immer ein ideales Plätzchen für eine Rast auf einem großen querliegenden alten Baumstamm. Ein hundertfünfzig Jahre altes Waldhaus auf einer verwunschenen Lichtung, das zu Beginn die Wohnung eines Waldaufsehers war und seinen ungewöhnlichen Namen dem Jägerlatein verdankte. Und vor dem gerade ein Mensch erfror.

„Wer weiß, wie lange er schon dort liegt!“, mahnte Fritz Jahn, der nicht nur FGV-Chef von Rehau, sondern auch ausgebildeter Ersthelfer war, sein Team. „Wir können nicht auf Wunderlichs Leute warten. Es geht um jede Sekunde!“

Sie waren nur etwa zweihundert Meter entfernt. Aber sie hatten etwas Entscheidendes übersehen.

„Und wäi söll des gäi?“ Hanns König blies sich die wild tanzenden Schneeflocken aus dem verfrorenen Gesicht. Er hatte es als Erster begriffen und deutete auf die Erdgeschoss-Fenster der Vorsuchhütte.

„Was denn?“, fragte Jahn unwirsch. Er wollte endlich loslegen. Dann sah er es ebenfalls.

Das Opfer lag scheinbar auf dem Boden. Aber die Fenster hinter ihm besaßen nur die halbe Höhe.

„Oh nein! Unter dem liegen ja anderthalb Meter!“

Sie konnten kaum glauben, dass es vor lauter Aufregung niemandem von ihnen aufgefallen war: Den Erfrierenden und sein zähneklapperndes Rettungsteam trennte ein Hindernis, das in so kurzer Zeit unüberwindlich schien – ein Hochplateau aus Schnee.

„Wie des geeh’ sell?“ Jahn war selbst wie vor den Kopf geschlagen. „Wie kommt DAS denn hierher? Haben wir jetzt auch noch einen Lawinenabgang, oder was?!“

„Auf achthundertsiebenundzwanzig Metern über Null wohl kaum“, überlegte Kommissar Wunderlich. „Da wird halt einer mit der Baggerschaufel den überschüssigen Schnee von der Loipe gegraben haben, damit man sie spuren konnte. Und alles neben das alte Wirtshaus gekippt. Und als er wieder weg war, kam irgendwann dieser arme Mann hier, hat versucht sich zum Haus durchzukämpfen und ist darauf liegen geblieben.“

„Dann können wir doch in seinen Spuren laufen.“

„Die hat’s wieder zugeschneit.“ Wunderlich deutete auf die kaum noch wahrnehmbaren Einbuchtungen im Schnee.

Sie tasteten sich dorthin vor, wo das Gelände unter ihnen tiefer lag und die dickere Schneedecke demzufolge beginnen musste. Der Erste sank augenblicklich bis zu den Knien ein.

„Das macht keinen Sinn, wir kommen so kaum vorwärts und vor allem können wir ihn dann nicht raustragen. Wir müssen uns durch dieses Ding durchgraben!“, beschloss Fritz. Mitglieder des FGV hatten in der Regel eine sehr gute Ausrüstung. Ein Klappspaten gehörte stets dazu. Also setzten alle ihre Rucksäcke ab, holten das Werkzeug heraus und begannen zu schaufeln.

Es war ein nahezu unmenschlicher Kraftakt bei klirrender Kälte. Ohne die dicken Handschuhe wären ihre bloßen Finger augenblicklich am nackten Metall des Spatengriffs festgefroren. Aber auch so gingen alle Bewegungen quälend langsam, und sie hatten das Gefühl, dass die tiefhängenden Schneewolken ihnen verächtlich mehr Flocken auf die weiße Wanne spien, als sie wegschaufeln konnten. Doch all das war ihnen egal. Sie wollten ein Leben retten. Das erste von sieben.

Moritz Wunderlich liebte den Kornberg. Er war in Rehau geboren und aufgewachsen, und schon damals fand mit seinen Eltern und deren Freundeskreis jedes Jahr an Christi Himmelfahrt eine traditionelle Wanderung auf den Gipfel statt. Mal startete man von Pilgramsreuth aus und marschierte am Alten Pfarrhaus in Göringsreuth vorbei nach Süden. Im nächsten Jahr parkten alle fünf Kilometer weiter in Martinlamitz und stiegen von Westen her auf den Gipfel. Der war Mittel- und Höhepunkt von gleich sechs Städten, vertreten durch ihre letzten Dörfer vor dem Waldrand: Neben Rehau mit Pilgramsreuth und Schwarzenbach mit Martinlamitz gehörten der Kirchenlamitzer Ortsteil Niederlamitz dazu, Großwendern als Statthalter von Marktleuthen, die reizenden Kleinode Spielberg und Steinselb als Vertreter der Porzellanstadt Selb und schließlich das Dorf Brunn, welches ein Teil von Schönwald war. Man hätte auf der Bergspitze ohne Weiteres ein Verwaltungszentrum für die Große Landstadt Hochfranken bauen können – wenn die Idee einer Hunderttausend-Einwohner-Kommune nicht ein wenig spleenig gewesen und vor allem der Gipfel nicht schon bebaut gewesen wäre.

Der aus keiner Himmelsrichtung übersehbare wuchtige weiße Funkturm aus Zeiten des Kalten Krieges war Wunderlichs späterer Sehnsuchtsort. Als er zum Studium der Kriminalistik nach München gegangen war, pendelte er beinahe jedes Wochenende nach Hause. Und der wunderbarste Moment auf der Fahrt gen Nordbayern war stets derjenige gewesen, wenn er von Marktredwitz kommend auf die lange Gerade zwischen Thiersheim und Thierstein einbog und zum ersten Mal den Kornbergturm sehen konnte. Es war ein Hochgefühl. Es war Heimat.

Sie gruben und gruben, und der Wintersturm dröhnte und dröhnte. Ächzend hoben sie jedes Mal die Schaufel, um wieder ein Kilo Schnee in hohem Bogen zur Seite zu werfen. Plötzlich durchbrach ein völlig anderes Geräusch das hektische Treiben.

860,87 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
250 стр.
ISBN:
9783948397166
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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