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Kapitel 5

„Und? Haben sich die Bullen nochmal bei dir gemeldet?“ Jesse zieht an seiner Zigarette und starrt die Frau zwei Tische weiter an.

„Die Bullen?“

„Wegen deiner Nachbarin, Mann.“

Ich kratze am Flaschenetikett. Die Frau starrt zurück. Er dreht den Kopf zu mir, zieht eine Augenbraue nach oben, zieht an der Zigarette, bis seine Wangenknochen Schatten werfen und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Ich will nach Hause.

„Nein.“

„Nein?“

„Sie haben nicht mehr angerufen.“

„Du wirst nicht mehr verdächtigt?“ Er grinst breit.

Ich schaue an ihm vorbei und sehe, wie die Frau aufsteht, auf uns zugeht. Sie senkt den Kopf und nimmt uns ins Visier, erst ihn, dann mich. Eine Maus, die sich für die Katze hält. Jesse zieht scheinbar entspannt an seiner Zigarette, aber seine Augen verraten ihn.

Ich lehne mich über den Tisch. „Hier kommt deine Beute.“

Jesse dreht sich zu ihr um. Sie wirft ihm einen tiefen Blick zu und geht an uns vorbei in Richtung Klo. Er starrt ihr hinterher.

Ich räuspere mich. „Es war wohl wirklich Suizid. Ich bin raus.“

Er sieht für einen Moment enttäuscht aus und ich habe Lust, ihn zu treten. Aber ich weiß, das macht ihn an und lasse es bleiben. Ich fühle mich matt.

Er nimmt einen letzten Zug und nickt mir zu. „Wartest du auf mich? Dauert nicht lange.“

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich zu Hause im Sessel sitze. Ganz allein. Mit einem Glas Wein. Einem Joint. Musik. Frieden.

Warum ich nicht zu Hause geblieben bin: Den ganzen Tag über hat mich ein ungutes Gefühl geritten. Doch passiert ist nichts. Abends stritt ich mich mit Maya und fuhr darauf in Jesses Stammbar. Er war tatsächlich da und schien sich eine halbe Minute lang über mich zu freuen. Dann zeigte er auf eine Gruppe Touristinnen und fragte: „Rot oder blond?“

Seitdem frage ich mich, warum ich überhaupt aus dem Haus gegangen bin. Ich sehne mich nach Ruhe und Dunkelheit. Ein typischer Anfall von Ambivalenz, der mich an manchen Tagen stundenlang lähmt. Heute nicht. Ich trinke mein Bier aus, schalte mein Telefon aus und gehe nach Hause.

Die Polizei hat sich tatsächlich nicht mehr gemeldet. Soll ich beim Vermieter nachfragen? Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Wenn ich von der Sache nichts mehr höre, ist wohl alles in Ordnung. Ich lasse mich in den Sessel fallen, kratze mich am Kopf. Mein Haar stinkt, obwohl ich es gestern gewaschen habe. Nichts ist in Ordnung. Juliana stach sich ein Auge aus und erhängte sich. Kurz nachdem ich sie malte. Und in ihrem Notizbuch steckte ein Foto von mir. Ich stehe auf und gehe nach hinten. Dort, wo das Licht der Neonröhren nicht mehr hundertprozentig hinreicht, stehen die fertigen Bilder. Als ich den Unfall hervorziehe, höre ich ein Geräusch in der Küche. Mein Magen zieht sich zusammen, aber ich schaue nicht nach. Langsam schiebe ich das Bild ins Licht.

Ich könnte es zerstören. Zerschneiden, zerreißen, zerfetzen, verbrennen. Oder einfach nur übermalen. Ich suche nach dem inneren Impuls, dem manischen Feuer, das den Schritt rechtfertigen würde, und trete einen Schritt zurück. Ich finde das Bild nicht besser oder schlechter als andere Bilder von mir. Es ist fertig und ich hänge nicht mehr sonderlich daran. Ein fertiges Bild muss für sich stehen. Sobald ich es abgeschlossen habe, bin ich auch emotional damit fertig. Nerven kosten mich nur die Arbeiten, die kein Ende finden. Oder die, die ich nie anfange.

Doch ist dieses Bild wirklich fertig? Mir fällt auf, dass es eine merkwürdige Stimmung hat. Keine, die ich beabsichtigt hatte. So etwas passiert öfters. Ich male etwas, ohne zu ahnen, wie es schließlich als Endprodukt wirken wird. Die Räume verselbstständigen sich. Die Charaktere bekommen Charakter. Die Farben verändern sich, ohne dass mir das beim Malen bewusst wird. Ich bin ein ziemlich stumpfer Demiurg in meiner Welt. Die meiste Zeit weiß ich nicht, was ich tu. Was entsteht, entsteht. Was nicht, kann später noch hinein interpretiert werden.

Eigentlich war das Bild vor zwei Wochen fertig. Ich erklärte es für gelungen und schob es weg. Jetzt stehe ich vor dem Unfall und sehe Details, die mir vorher nicht aufgefallen sind. Die verletzte Frau, gerade dem Tod entronnen und weggetreten, sieht anders aus. Anders als auf dem Foto und anders, als ich sie malen wollte. In meiner Erinnerung war ihr Blick unfokussiert. Das gesunde rechte Auge halbgeschlossen, das geschwollene linke Auge im Schatten, ihr blutüberströmtes Gesicht weich, fast schlaftrunken. Und jetzt? Sie schaut mich an, das halbgeöffnete Auge ist eindeutig auf den Betrachter fixiert. Sie sieht vorwurfsvoll aus. Einäugig vorwurfsvoll. Ich fahre mir mit der Hand über mein linkes Auge und merke, dass ich schwitze. Mir ist flau im Magen. Ich sollte etwas essen.

Das habe ich nicht gemalt. Oder doch? Manchmal bin ich so breit, dass ich mich nicht mehr erinnern kann. Und das Ergebnis ist dementsprechend. Früher habe ich so immer wieder Arbeiten verhunzt. Deshalb male ich an Bildern im Endstadium nur noch nüchtern, höchstens angetrunken. Meistens jedenfalls. Aber hier? Ich trete noch einen Schritt zurück. Die Frau schaut mich an, keine Frage. Und dann passiert etwas Merkwürdiges: Während ich sie betrachte und den Hintergrund, das zusammen geschobene Metall, den Rauch, die Nacht dahinter, entdecke ich neben ihr auf dem Beifahrersitz das Phänomen. Ich weiß, dass es da ist, ich habe es gemalt, doch ursprünglich sah es anders aus. Es war nur vage zu erkennen, ein zweiter Körper, ohne Kopf, angegurtet. Und jetzt? Je länger ich hinschaue, desto besser kann ich es sehen. Als würde es aus dem verrußten Sitz wachsen. Das Phänomen hat auf einmal einen Kopf. Schemenhaft zwar, aber unverkennbar. Ich kann Augen wahrnehmen, Nase, Mund. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich schaue genauer. Komme näher. Gehe einen Schritt zurück. Unverkennbar. Mir wird übel.

Als ich in die Küche gehe, habe ich das Geräusch schon vergessen. Und dann sehe ich es. Die grüne Salatschüssel, die Larissa mir geliehen hat, liegt auf dem Boden. Sie ist in zwei Teile gebrochen. Ich bücke mich und dann fällt es mir ein.

Ich hatte ihr die Schüssel zurückgegeben. Vor über zwei Wochen. Ich steckte sie in eine Tüte und gab sie Silvester mit, als er aus dem Auto stieg. Larissa nahm sie ihm mit einer Hand ab und fuhr ihm mit der anderen durchs Haar. Dann winkte sie mir zu. Ich erinnere mich genau.

Ich brachte Silvester zurück und fuhr wieder nach Hause. Danach malte ich die ganze Nacht über. Am Unfall. Eine Straße in Nordengland. Frühe 1960er. Ein hellgrüner Cortina, aber das erkennen nur noch Profis. Die Frau am Steuer in einem hellblauen Kleid, das Blut schon eingetrocknet an manchen Stellen. Überlebte sie den Unfall? Das Foto, das ich als Vorlage benutzte, zeigt neben ihr auf dem Sitz einen menschengroßen Fleck. Vermutlich retuschiert oder doppelt belichtet. Vielleicht ist es ein Schatten. Vielleicht eine Erscheinung. Das Foto legt sich nicht fest, aber das Archiv, in dem ich es gefunden habe, schon. Dort heißt es: Verstorbener Bruder erscheint neben Unfallopfer.

In meinem Bild bin ich der Bruder. An den Rest des Abends kann ich mich nicht mehr erinnern.

*****

Wann habe ich angefangen, Geister zu malen? Anfangs waren es für mich keine Geister. Es waren „Phänomene“. Fehler in der Wahrnehmung. Löcher im System. Larissa war die erste, die von Geistern sprach. Sie stand im Atelier und schaute sich die Bilder schweigend an. Sie war schwanger und ich ließ sie in Ruhe.

Schließlich drehte sie sich um und schüttelte den Kopf. „Geister? Warum Geister?“

Ich weiß nicht mehr, was ich darauf antwortete. Ob ich irgendetwas antwortete. Aber es blieb hängen. Wir würden ein Kind kriegen. Und ich malte Geister. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, bis Larissa die Verbindung herstellte. Sie sagte es nicht, doch ich hörte es: Hör auf mit den Geistern und kümmere dich um uns. Der Vorwurf schwang mit: Hätte ich nicht nur Geister gemalt, wäre ich erfolgreicher geworden. Wer will sich schon „Phänomene“ ins Wohnzimmer hängen?

Heute weiß ich, dass ich keine Wahl hatte.

Damals wusste ich das noch nicht und meine Erklärungsversuche richteten sich sowohl an sie als auch an mich. Warum Geister? Ich sehe mich, wie ich vor ihr stehe, in der Ateliergemeinschaft in Treptow, in hellen, zugigen Räumen, die sich kaum beheizen lassen. Ich habe mehrere Jacken an und male in Handschuhen mit abgeschnittenen Fingern. Larissa findet das albern und zieht mich damit auf.

„Du bist so ein Spitzweg geworden. Der arme, lungenkranke Maler im kalten Osten.“ Sie lacht, aber ihr Lachen ist nicht freundlich.

Ich lache auch und sage, dass ich mir kein Atelier im warmen Westen leisten kann. Außerdem mag ich die Leute, mit denen ich mir die Räume teile, alle Spitzwegs wie ich. Ich erwähne nicht, dass ich eine Frau lieber mag als die anderen. Diese Frau und ihre ofenbeheizte Wohnung in Neukölln sind der Grund, warum ich mir in dem Winter damals keine Lungenentzündung hole. Wenn Larissa etwas davon ahnt, zeigt sie es nicht. Man könnte behaupten, unsere Kommunikation läuft nicht ideal.

Und da ich es nicht mehr gewohnt bin, mit Larissa über Dinge zu sprechen, die mir nahe gehen, werden unsere Unterhaltungen zunehmend komplizierter. Ich mache vage Handbewegungen, mit denen ich mir die Worte aus dem Mund ziehen möchte. Worte, die nicht von allein kommen. Am liebsten würde ich es in Ektoplasma sagen. Und anstatt mit der Wahrheit, irgendeiner Wahrheit herauszurücken, sage ich etwas Verkopftes. Meine Hoffnung: Je abgehobener die Erklärung, desto schwieriger wird es für Larissa, sich mit einer Frage einzuklinken. Also sage ich, dass es mir nicht um die „Realität von pararealen Phänomenen“ geht. Sie zieht die Augenbrauen zusammen. Ich fahre fort, dass es nicht die Geister an sich sind, ihre Existenz oder Nichtexistenz, die mich interessieren. Es geht nicht um den Nachweis für ein Leben nach dem Tod, um Zwischenzonen oder Zeitparadoxe. Das sage ich.

Larissa runzelt die Stirn.

Ich sage, dass ich Fälschungen male. Das ist zumindest technisch gesehen die Wahrheit. Ich erzähle von Manipulationen, die das Leben für manche von uns leichter machen. Simulationen einer Parallelwelt, die verlockend erscheint, weil sie anders ist und dennoch unserer Welt nicht so unähnlich. Ich erzähle vom Ort der Projektionen, dem Ort, wo Ängste Namen haben und deshalb beherrschbar erscheinen.

Larissa Blick wird ungeduldig.

„Geister sind ein dankbares Sujet, weil sie alles sein können.“ Ich rede schneller. „Wir haben nicht nur einen Geist, jeder von uns ist eine potenzielle Geistererscheinung. Wir sind das unerklärliche Zeug, vor dem wir uns fürchten.“

Larissa blickt mich verständnislos an.

Ich zeige auf das Portrait des toten Jungen mit dem Fisch im Mund, ein kleines Bild für meine jetzigen Verhältnisse und schwarzweiß.

„Was fühlst du, wenn du ihn siehst?“

Ich hasse es über die Bilder zu reden. Für meine Frau mache ich eine Ausnahme.

Sie legt den Kopf schief. „Ich bekomme Angst. Ich weiß nicht, wovor, aber ich schaue nicht gerne hin. Obwohl es ... Obwohl es auch eine gewisse Faszination hat.“

Sie denkt, ich möchte das hören. Am liebsten würde ich meinen Vortrag abbrechen. Es geht weiter. Worte, die wie aus Versehen aus meinem Mund stolpern. Hände, die in der Luft rudern. Kein Geisterschaum, der mir aus der Nase tropft. Nur Sätze, die sich nicht zu einem Konzept verdichten wollen. Ich bin konzeptlos. Das Schlimmste, das einem Künstler passieren kann.

„Angst ist wichtig. Sie hilft dir beim Überleben. Du siehst etwas Totes. Oder etwas scheinbar Totes. Und du hast Angst.“

„Freud?“, fragt sie leise.

„Nein. Ich meine ja, vielleicht. Du merkst, du bist noch nicht tot, du bist noch nicht an diesem Punkt angekommen. Du fühlst dich lebendig.“

Ich werfe einen Blick auf ihren Bauch, in dem Silvester Tag für Tag größer wird.

„Aber du hast auch Angst, weil ein bisschen Tod schon in dir steckt. Wenn du das nicht in dir erkennen würdest, hätte es keine Wirkung auf dich. Das Unheimliche ist, dass du vielleicht selbst ein Geist bist. Dass es eine Kontinuität zwischen dem Tod da ...“ Ich zeige auf das Bild des Jungen, „und dir gibt.“

Larissa schaut an sich herunter. Sie muss es nicht sagen, aber sie sagt es trotzdem. „Da ist Leben drin, Beat. Nicht Tod.“

„Wo Leben ist, ist auch Tod. Aber darum geht es mir nicht.“

„Um was geht es dir dann?“

Sie sieht mich mit ihren langgezogenen grauen Augen an, mit einem Ausdruck, den sie in den Wochen zuvor perfektioniert hat. Der sich selbst genügende, auf sich selbst zurückgeworfene Blick einer Schwangeren. Ich bin empfindlich geworden.

„Ich kann nicht anders. Ich muss. Nein, ich will. Ich möchte ...“ Ich breche ab. Ich kann es nicht erklären.

Damals, kurz vor Silvesters Geburt, konnte ich ihr nicht erklären, warum ich Geister male. Ich wusste es selbst nicht. Ich war fasziniert von dem Thema und es ließ mich nicht mehr los. Was ich auch nicht erklären konnte vor elf Jahren: Die Faszination begann zu einer Obsession zu werden. Ich war meinem Sujet immer mehr ausgeliefert. Und ich fing an, dieses Gefühl, diese Unausweichlichkeit meines thematischen Zwangs zu genießen. Ich ließ mich davon völlig ergreifen. Und diese Selbstaufgabe hat bis heute angehalten. Ich werde die Geister nicht mehr los.

Vielleicht ist es die Migräne, vielleicht mein Hang zur Hingabe: In dem Moment, in dem die Geister nach mir greifen, lasse ich los. Ich gebe meinen Widerstand auf, nicht weil ich denke, dass Abwehr nichts bringt (sie bringt nichts), sondern weil etwas tief in mir kitzelt. Ein kaum wahrgenommener, aber mächtiger Reiz, der mich zum Kratzen zwingt. Ich will, dass es mich ergreift. Dass etwas Fremdes in mir lebendig wird, mit mir verschmelzt. Dass ich zum Wirt werde, zur Petrischale, zur organischen Hülle für ein anorganisches Experiment.

Wie hätte ich das meiner schwangeren Frau erklären können?

Also lenkte ich ab und zeigte ihr die Fotos, die ich als Vorlage benutze. Die gefälschten Phänomene und fantasierten Besucher aus anderen Welten. Doppelbelichtungen. Manipulationen in der Dunkelkammer. Inszenierungen mit unsichtbaren Fäden, an denen Stoffe durch den Raum schweben. Nägel und Holzstücke, die unter weißen Kleidern verborgen werden. Wachs, das aus Mundwinkeln tropft. Kleine Mädchen, die mit Poltergeistern spielen. Viktorianisch zugeknöpfte Damen mit entrücktem Blick. Körperlose Hände, kopflose Körper, schwebende Köpfe, Gespenstergewänder aus Fleisch und Blut. Fotos, auf denen man die Erscheinungen suchen muss, Spiegelungen in Fenstern, Lichtflecken neben Grabsteinen, dickflüssige Nebelschwaden, die sich um Stuhlbeine und Treppenstufen wickeln. Verwackelte, unscharfe, beschädigte Fotos, die mehr verbergen als zeigen. Geistertheater, festgehalten von Aura-Amateuren und Spiritismus-Spezialisten. Eine faszinierende Welt, in der Kunst und Trickbetrug, meist ungewollt und selten ironisch zusammenkommen. Das okkulte Blut unserer Gesellschaft: Aberglaube, Liebe, Hoffnung.

In diesen zufälligen Momentaufnahmen von Geisteraktivität wie auch in der akribischen Dokumentation von Séancen und Ritualen werden die Toten oder eingebildeten Toten aus dem Nebel der Vergesslichkeit gezogen. Sie dürfen ihre halb erinnerte Form in Rauch, Blut, Ektoplasma oder Speichel gießen. Solange der Tod, die Dunkelheit, das Zwielicht mit Geistern bevölkert sind, gibt es Hoffnung. Dann ist das Schattenreich nicht leer und sinnlos. Er ist voller Versprechungen. Es deutet über sich hinaus.

Diese Versprechungen interessieren mich. Ich sammle sie, ich male sie. Versprechungen, die der Welt ein letztes Geheimnis lassen. Sie machen letztendlich für mich den Reiz von Gespenstergeschichten aus: Geister sind ein Tor ins Unendliche. In unbegreifliche, körperlose Welten jenseits der Gesellschaft. Jenseits eines zu kleinen, zu anstrengenden Lebens, das von Anfang an zäh anläuft und nur die Perspektive auf ein noch anstrengenderes Erwachsenenleben mit noch komplexeren Problemen zulässt. Geister sind die Perspektive hinter der Perspektive. Das eigentliche Ziel, wenn alle vorherigen Ziele sich als sinnlos herausgestellt haben. Sie bevölkern nicht nur den Tod und machen ihn so erträglicher, sie stehen stellvertretend für alle Abschiede. Denn neben Besuchern aus anderen Dimensionen und Parallelwelten sind sie auch eine Erinnerung an vergangene Phasen, abgetrennte Identitätsteile, an die Vergangenheit.

Larissa erklärte ich schließlich, dass es mir um die Hoffnung geht, um den Hunger nach Leben und das gepflegte Gruseln, das man zwischen den Mahlzeiten braucht, um zu verdauen und wieder hungrig zu werden. Ich sage ihr, dass mich Geister an meine Kindheit erinnern und ich mich damit zu meinen Wurzeln begebe, zu den mehrdeutigen Geschichten sadistischer Verwandter. Dass ich diese Rückversicherung meiner Ursprünge brauche, um mich konstanter zu fühlen, fester und stabiler.

„Geistergeschichten gehören zu meiner Identität. Ich bin damit aufgewachsen.“

Larissa legt den Kopf schief und schiebt die Hand auf den Bauch. Dann dreht sie sich weg. Sie lässt den Kopf hängen. Ihr blondes Haar fällt nach unten, damals trug sie es noch lang und offen, und ich hebe die Hand, möchte hineinfassen, sie zurückziehen. Doch dann lasse ich die Hand wieder fallen. Man könnte sagen, ich habe es ihr nicht leicht gemacht. Wir haben es uns beide nicht leicht gemacht.

Kapitel 6

Der Mensch, halb vornübergebeugt auf dem Holzstuhl, kann Mann oder Frau sein. Ich habe mich bemüht, ihn so vage wie möglich aussehen zu lassen. Mehr eine Idee als eine Person. Ein Hintergrund für die Protagonisten des Bildes: die Tauben, die auf ihm, dem Stuhl und der Straßenlaterne sitzen und herumfliegen. Die Laterne die einzige sichtbare Lichtquelle. Es ist neblig auf dem Bild und die Vögel verlieren sich im Dunst. Manche von ihnen kann man in ihrer Bewegung nur erahnen. Lediglich die auf dem Stuhl, der Laterne und dem Menschen sitzenden Tauben haben feste Konturen, Leiber und Augen, die den Betrachter fixieren.

Es sind die Augen, die mir wichtig sind. Ich kann Stunden damit verbringen, den richtigen Ausdruck in Pupillen und Lidfalten zu legen. Meist entsteht er dann, wenn ich nicht mehr ganz bei mir bin. Wenn ich die Pinsel weglege und mit den Fingern über die Leinwand husche, weiße oder schwarze Flecken im Vorbeiwischen hinter mir lasse. Dann, wenn ich mir nicht mehr richtig bewusst bin, wie es aussehen soll, bekommt es sein Aussehen. Selten so, wie ich es mir wünsche. Aber immer so, dass es passt. Irgendwann.

Für Taubenaugen mache ich keine Ausnahme. Ich gebe ihnen gemeine, zärtliche, gelangweilte Blicke. Manche sind erregt oder blutrünstig. Andere vollkommen entspannt. Sie entsprechen den Gefühlen des Menschen, der auf dem Stuhl sitzt. Sie sind Pigmente seines Geistes. Es sind Geistertauben.

Die Idee zum Taubenstuhl ist eine freie Idee. Ich hatte sie im Traum und nun male ich sie, wie ich sie erinnere. Ich interpretiere kein Foto. Das Bild wächst aus mir heraus wie eine Wurzel, die sich irgendwo festhalten will, die neuen Boden unter sich sucht. Dieses Bild ist eines meiner Bodenbilder.

Die Bodenbilder zeigen Motive, die mir am nächsten sind. Motive, die mir Angst machen, für die ich eine große Leidenschaft entwickle. Sie basieren nicht auf Geisterfotografien, die inszenierte, unerklärliche, geglaubte oder beglaubigte Phänomene festhalten. Sie entstehen aus dem Bodensatz meiner Fantasien. Von dort kommt auch der Taubenstuhl. Er setzte sich eines Morgens nach dem Aufwachen auf mich drauf und ließ mich nicht mehr los, bis ich ihn skizzierte. Jetzt male ich ihn, um ihn endgültig los zu werden. Das bilde ich mir ein. Die Tauben wissen es besser.

Ich bekomme Hunger, aber ich kann nicht essen. Also hole ich mir ein Bier. Die Tauben stimmen nicht. Eine schaut mich spöttisch an. Ich schüttle den Kopf, schließe die Augen, schaue wieder hin. Sie hat sich verändert, seit ich in der Küche war. Sie sieht nicht mehr aus wie ein Vogel. Ihr Ausdruck ist anders. Viel zu menschlich, viel zu unverschämt. Ich ziehe mit dem dünnsten Pinsel, den ich habe, weiße Fäden um die obere Hälfte ihres linken Auges. Es wird praller, noch ausdrucksstärker und wölbt sich feucht über die grauen Federn darunter, wölbt sich aus dem wolkigen Gewebe heraus, wie grün schillerndes Öl. Das Telefon klingelt.

Fiat. Ich habe unsere Verabredung vergessen. Er erinnert mich freundlich daran, dass ich vor einer Stunde bei ihm sein wollte. Ich nicke den Tauben zu und verspreche ihm, dass ich sofort losgehe. Als ich die Pinsel und meine Hände reinige, spüre ich ihre Blicke, bohrend, belustigt. Sie wissen, ich haue ab. Ich weiche ihnen aus. Sie wissen auch, ich werde wieder zurückkommen und weiterkämpfen. Ich komme immer wieder zurück. Ich versuche zu fliehen, aber am Schluss lande ich immer da, wo sie mich haben wollen. Auf dem Rücken.

Als ich an der Tür stehe, drehe ich mich um. Ich weiß nicht, warum, aber ich ahne vage, dass ich irgendetwas kontrollieren muss, den Herd, den Wasserhahn, irgendeine Lampe, die noch angeschaltet sein könnte. Ich gehe zurück zum Bett und schaue zum Nachttisch. Funzi steht neben der Lampe und schimmert grünlich. Ich winke ihm zu und gehe hinaus.

Nachdem ich Fiat ein Foto von dem aktuellen Stand von Hydesville auf dem Telefon gezeigt habe, will er wissen, wie es mit dem Klarträumen klappt. Ich erzähle ihm von dem Spiegeltraum und der Geruchshalluzination, die mich zurück in die Kindheit transportierte.

„Das waren interessante Zustände, aber ich kann nicht behaupten, dass ich irgendwas beeinflussen konnte.“

Er macht ein nachdenkliches Gesicht, dann dreht er sich um und geht zum Bücherregal. An der Zielstrebigkeit, mit der er das Buch herauszieht, erkenne ich, dass er eine neue Strategie verfolgt. Fiat, der Mann für flexible Lösungen.

„Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist.“ Er hält mir ein Buch vors Gesicht und macht mit der anderen Hand Spiralen in die Luft. Ich kann den Titel nicht lesen.

„Die Alpträume, deine Vorahnungen, die Bilder, die du seit Jahren malst, Herrgott, Beat, merkst du es nicht?“

„Ich mag Geister, was ist dabei?“

„Du magst Geister?“ Fiats Stimme wird lauter. „Du magst Geister? Du bist besessen, mein Freund!“ Seine Stimme dröhnt wie die eines Exorzisten.

„Was hast du gesagt?“, brülle ich zurück.

„OK, OK“, er wird leiser, „dann stelle dir mal vor, dass jemand versucht, zu dir Kontakt aufzunehmen. Derjenige ist aber, wie soll ich sagen, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Wie würde es dieses Wesen anstellen, dass du ihm zuhörst?“

Ich muss lachen. „Hm, knifflige Frage. Es schickt mir eine Mail?“

Fiat wirft mir einen langen Blick zu.

Ich beiße mir auf die Lippe. „Was willst du mir sagen? Dass ein Geist bei mir spukt? Der Geist meines Vormieters?“

Er schüttelt den Kopf und faltet die Hände. „Du erzählst mir schon seit Jahren von merkwürdigen Träumen und Vorahnungen. Das hat nichts mit deiner Wohnung zu tun.“

Ich werde nachdenklich. Vielleicht ist etwas dran an dem, was er sagt. Die Vorahnungen und Zufälle, das Interesse für Geister, die merkwürdigen Erscheinungen haben vor vielen Jahren angefangen. Sie haben vielleicht wirklich nichts mit dem Ort zu tun. Obwohl sie sich in meiner aktuellen Wohnung am besten zu manifestieren scheinen. Wahrscheinlich weil ich dort meistens allein bin. Weil ich dort offen bin. Ich greife nach der Jacke, um nicht weiterdenken zu müssen. Fiat hält mir das Buch hin.

„Lies einfach mal rein und überlege dir, was das mit dir zu tun haben könnte.“

Ich sehe den Titel: Daimones.

„Was ist das, ein Grimoire?“

Fiat winkt ab. „Nein, nein. Das Buch ist von einer Psychologin. Da geht es um Archetypen und so. Vielleicht bringt dich das auf neue Ideen.“

# 5: 20. Januar

Eigentlich wollte ich Lysian nichts von der Party erzählen, aber dann bekam ich doch Muffensausen und hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox. Er rief eine Stunde später zurück und tat so, als würde ihn das alles nicht interessieren, aber ich merkte trotzdem, er war total scharf darauf, auf die Leute, die dort sein würden, das ganze Volk von Musikern und Künstlern, und ich bereute es, ihn eingeweiht zu haben, denn ich wollte aus einem anderen Grund dahin gehen, nicht wegen der Drogen oder der coolen Leute oder der Musik, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Um zehn holte er mich ab. Er kam nicht nach oben, sondern wartete im Taxi. Im Treppenhaus stand mein Nachbar vor den Briefkästen und telefonierte. Er winkte mir zu und ich winkte zurück. Ich mag ihn, aber ich glaube, er hat noch mehr Probleme als ich.

Als wir ankamen, war ich sehr aufgeregt. Er war nicht da und ich stritt mich mit Lysian, weil ich ein kurzärmeliges Oberteil anhatte. Er meinte, ich würde extra so was anziehen, damit man die Narben sieht. Weil ich es nötig hätte und andere damit aufgeilen wollte. Klar. Ich schmiss das Glas auf den Boden und ging aufs Klo, wo ich gefühlte Stunden damit verbrachte, an mir herum zu kratzen und meine schmutzigen Schuhe und den Dreck zwischen den Füßen anzustarren. Als ich wieder rauskam, war Lysian weg und ich betrank mich. Er hatte mir nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Egal.

Und dann sah ich ihn. Er lächelte mich an, aber kam nicht zu mir her und ich merkte, wie mir übel wurde, als ich den Kopf hob und zurück lächelte. Also ging ich wieder aufs Klo kotzen. Als ich zurückkam, lächelte er noch immer und ich ging zu ihm hin, immer noch betrunken, aber auf eine angenehmere Art. Die unfreundliche schöne Frau stand in einer Ecke, die kichernde Frau in einer anderen Ecke. Er lehnte mit einem großen dünnen Mann an der Bar, vor sich ein großes Glas Wasser oder Wodka.

Sein Freund sah durch mich hindurch, wie fast alle anderen auf der Party, aber er lächelte mich an und umarmte mich, als würden wir uns kennen. Dann nahm er meine Hände und schaute sich meine Arme an. Er fragte mich, wer macht das? Und ich antwortete, ich. Und er sagte, es gibt bessere Wege. Dann gab er mir eine Visitenkarte von einer ‚Alchemistin’. Auf der einen Seite der Karte entdeckte ich eine Zeichnung von zwei Figuren mit Kronen, die nebeneinander in einer Kiste liegen. Ich fragte ihn, was ist das, Alchemie?

Er sah mich einen Moment lang an, sie ist Hypnotherapeutin. Wenn du willst, kann sie dir helfen. Ich fragte weiter, brauche ich denn Hilfe? Er zuckte mit den Achseln, was denkst du? Er hörte auf zu lächeln und ich bemerkte zum ersten Mal, dass seine Augen nicht braun waren, obwohl ich ihn schon hundert Mal angeschaut hatte.

Ich war so betrunken, dass ich gerne mit ihm herumgemacht hätte oder mit seinem Freund, der mich ignorierte und eine Zigarette nach der anderen rauchte und klare Schnäpse mit knappen Handbewegungen bestellte. Ich war so betrunken, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte aus meinem Körper heraustreten, ohne dass es weh tut, ich könnte einfach hinaus in die Welt gehen, meine Zunge in andere Menschen stecken, glücklich sein, leicht sein, sichtbar sein, ohne dass es weh tut.

Er flüsterte seinem Freund etwas ins Ohr. Der schaute mich auf einmal an und hielt mir ein volles Schnapsglas hin. Ich leerte es auf einen Zug. Er verabschiedete sich mit den Worten, es kann auch anders sein. Ich blieb bei seinem Freund stehen und war bald so betrunken, dass ich mich auf einen Barhocker setzen musste.

An den Rest des Abend erinnere ich mich nicht mehr, außer, dass ich später im Regen stand und mit dem dünnen langen Typen herumknutschte. Ich fiel fast um dabei. Ich wollte seine Nummer haben und er steckte mir einen Zettel zu und setzte mich, glaube ich, in ein Taxi. Später musste ich noch einmal kotzen und war froh, dass er nicht mehr mitgekommen war.

Als ich den Zettel am nächsten Morgen in meiner Tasche fand, klopfte mein Herz wie verrückt. Aber es war nicht seine Nummer, sondern ein kryptischer Flyer für eine Veranstaltung in einem ‚Reptilienhaus’. Enttäuscht zerknüllte ich den Flyer, dann glättete ich ihn wieder und versteckte ihn unter einer Tasse. Was immer das Reptilienhaus ist, hingehen werde ich garantiert nicht.

Zu Hause lege ich das Buch erst auf den Tisch, dann neben das Bett, dann ins Regal. Ich will es nicht zu nahe bei mir haben. Ich überlege für einen Moment, Funzi als Wächter davor zu stellen und schäme mich sofort dafür. Das Gespräch mit Fiat hat mich nervös gemacht. Ich beginne zu zeichnen.

Ich skizziere eine Idee für das nächste Bild. Eine Frau mit zwei Kindern in einem Garten. Ich verschiebe die Gruppe nach rechts, nach links, bis ich begreife, dass ich sie anschneiden muss. Das zweite Kind, das kleine Mädchen, das die Frau an der Hand hält, muss aus dem Bild ragen. Es muss aus dem Bild heraus gezogen werden. Die Frau verliert ihr Kind in der trügerischen Idylle des Gartens. Während sie noch in den Sonnenstrahlen leuchtet, die von links auf sie und ihren Sohn fallen, liegt die rechte Seite im Schatten. Das kleine Mädchen verschwindet nicht einfach nur so in der Dunkelheit. Es wird regelrecht davon aufgesogen, verschluckt, bis es nur noch schwach zu sehen ist.

Die Frau bemerkt nicht, wie sich ihr Kind in den Schatten verliert, selber zum Schatten wird. Sie wird es erst bemerken, wenn es schon zu spät ist. Als mir das bewusst wird, hebe ich den Kopf. Und dann wird mir noch etwas anderes bewusst. Etwas steht hinter mir. Würde ich mich umdrehen, könnte ich es sehen. Ich weiß, dass es hinter mir ist, dass es den Boden berührt, dass es eine gewisse Dichte und Form hat. Dass es Augen hat, mit denen es mich sehen kann. Ich spüre seinen Blick am Hinterkopf. Es wartet.

Ich warte auch, starr vor Angst. Es könnte näher kommen. Mich berühren. Es könnte von hinten in meinen Rücken greifen. Mein Herz zum Stillstand bringen. Es könnte mich anhauchen und ich würde umkippen. Mein Kreislauf würde kollabieren, ohne dass es sich zu erkennen gegeben hat. Ich könnte ohnmächtig werden, ohne meinen Angreifer gesehen zu haben. Diese Idee ist noch unerträglicher, als ihn nicht zu sehen. Ich drehe mich um.

382,08 ₽
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9783742708830
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