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VIII

Soll ich Sie am ‚Strandcafé‘ absetzen?“ Rieder erschrak. Sie hatten den Ortseingang von Neuendorf erreicht. Das Polizeiauto fuhr gerade über den kleinen Deich am Ortseingang von Neuendorf.

„Ja, das wäre nett.“

Das „Strandcafé“ betrieb Rieders Freundin Charlotte Dobbert. Die junge Frau mit den blonden Haaren stand hinter dem Tresen und kommandierte von dort wie ein Feldmarschall ihre beiden Kellnerinnen durch das voll besetzte Lokal, versorgte sie ohne Unterlass mit Getränken und Speisen aus der Küche, rief ihnen zu, für welchen Tisch gerade die Bestellung bereitstand. Weder auf der Terrasse zum Meer noch im Gastraum war ein Platz frei. Rieder stellte sich an die Bar. Charlotte beugte sich kurz rüber und küsste ihn.

„Und habt ihr ihn gefunden“, fragte sie.

„Wen?“

Sie zog die Augenbrauen nach oben. „Na wen wohl? Den Pfarrer?“

„Hat sich das schon rumgesprochen?“

Sie schüttelte lachend den Kopf. „Wann begreifst du das endlich: Hiddensee ist ein Dorf. Außerdem muss es da oben am Enddorn einen ganz schönen Auflauf gegeben haben, nachdem die Feuerwehr angerückt ist.“

„Kann ich ein Bier haben?“, versuchte Rieder das Thema zu wechseln.

„Erst wenn ich Informationen bekomme.“ Und damit wanderte das nächste frisch gezapfte Bier an ihm vorbei auf ein wagenradgroßes Tablett für einen Tisch mit acht Personen.

Frauen konnten anstrengend sein, dachte Rieder, aber was soll’s. Er gab nach.

„Wir haben ihn nicht gefunden.“

Das nächste Bier landete bei ihm.

„Siehste, geht doch. Und stimmt das mit den Einschüssen?“

Rieder wunderte sich. „Sag mal, Damp war doch noch gar nicht hier. Woher weißt du das alles?“

„Quellen, mein Lieber. Was zu essen?“

Rieder nickte.

„Einmal Dorschfilet in Senfsoße plus extra Bratkartoffeln zum Tresen“, rief Charlotte in die Küche.

Wenig später landete vor dem Polizisten ein Teller mit duftendem gebratenen Fisch, der in einer honiggelben Soße schwamm, dazu ein Berg Bratkartoffeln. Allein der Anblick lös­te Glücksgefühle in ihm aus. Vor weiteren Fragen von Charlotte blieb er verschont, denn kaum leerte sich ein Tisch, nahmen auch schon neue Gäste Platz. So würde es noch bis kurz nach neun gehen. Dann wären auf einen Schlag die Gäste verschwunden. Einige zog es noch zum Strand, um den Sonnenuntergang zu genießen, andere pilgerten nach Vitte zur Spätvorstellung im Zeltkino. Ansonsten war Hiddensee kein Pflaster für Nachtschwärmer. Die überwiegende Zahl der Gäste waren ältere Ehepaare oder Familien mit Kindern. Sie zogen sich am Abend meist in ihre Unterkünfte zurück. Stille senkte sich über die Insel.

Rieder hatte sich mit seinem Bier an einen der Tische auf der Terrasse gesetzt und die Augen geschlossen. Er lauschte dem Anschlagen der Wellen am nahen Strand. Als er sie wieder öffnete, saß Charlotte neben ihm und lächelte ihn an.

„Na, wo drückt der Schuh?“

„Na wo wohl? Der Pfarrer ist nicht irgendjemand. Bökemüller ist ziemlich nervös.“ Er machte eine kurze Pause, nahm einen Schluck. „Und ich auch. Wenn Schneider etwas passiert ist, gibt es einen Aufstand. Dann schicken die sicher Leute vom LKA.“

Charlottes Miene hatte sich verdüstert. „Du meinst, er ist tot?“

Rieder winkte mit der Hand, um ihren Ton zu dämpfen. „Nicht so laut.“ Dann zuckte er mit den Schultern. Nachdenklich fragte er mehr sich selbst: „Wo könnte er sonst sein?“

Mitten in der Nacht erwachte Rieder. Sofort drehten sich seine Gedanken um den verschwundenen Pfarrer. Charlotte hatte versucht, ihn abzulenken. Nachdem sie in ihre kleine Wohnung über dem Restaurant gegangen waren, hatte sie sich den Geruch von gebratenem Fett und kaltem Rauch in einer langen Dusche vom Körper gespült. Dann war sie nackt aus dem Bad getreten, einige Wassertropfen glänzten noch auf ihrer Haut. Rieder war eigentlich schon kurz vor dem Einschlafen gewesen, doch ihr Anblick hatte ihn erregt, er hatte sich aufgerichtet und seine Freundin an sich herangezogen … Als sie sich später aus ihrer Umarmung gelöst hatten, waren beide erschöpft in den Schlaf gesunken.

Doch nur wenige Stunden hatte dieser Zustand bei Rieder angehalten. Ein Blick auf den Wecker: kurz vor drei. Hatte er etwas am Schiff übersehen? Einen Hinweis? Was bedeutete der Brief? Rieder versuchte, Jens-Uwe Schneider wenigstens noch für ein paar Stunden aus seinem Gehirn zu vertreiben. Er griff nach seinem MP3-Player, stopfte sich die Kopfhörer in die Ohren und ließ sich von Bachs Chorälen umspülen. Er versank in der Musik und döste langsam wieder ein.

IX

Else Bars schnaufte. Der Rucksack mit den Farben, dem kleinen Wasserkanister und der darüber gebundenen Staffelei drückte auf ihren Rücken. Unter dem Arm trug sie eine bespannte Leinwand. Der Weg hinauf zum Swantiberg war beschwerlich. Immer wieder schlugen ihr die Äste der Ginsterbüsche ins Gesicht. Die feinen Netze der Spinnen, sorgsam gewebt in der Nacht, wenn keiner ihre Ruhe störte, verfingen sich in Elses Haaren. Sie schüttelte sich. Hin und wieder war das Summen von Fliegen und Hummeln zu hören. Vögel schreckten durch ihre Schritte aus dem Gestrüpp und flogen ihr ein Stück voraus, bis sie wieder im dichten Blätterwald und Buschwerk verschwanden. Endlich hatte sie die Anhöhe erreicht. Auf der Bank konnte sie ausruhen. Bis zum Gipfel des zweithöchsten Inselberges mit seiner doppelten Kuppe war es noch ein Stück.

Von Juni bis September war das Elses täglicher Lebensrhythmus. Kaum war die Sonne über dem Bodden blutrot aufgetaucht und hatte ihr Licht durch das kleine Dachfenster ihrer Ferienwohnung geworfen, stand sie auf. Früher war das kleine Holzhäuschen auf dem brögeschen Grundstück, rechter Hand, kurz vor Grieben, der Hühnerstall gewesen. Und schon damals, in den Achtzigerjahren, hatte Else Bars in dem kleinen Abstellraum unter dem Dach im Sommer ihren Urlaub auf Hiddensee verbracht. Die Hühner waren längst geschlachtet und Bröges hatten das Häuschen umgebaut. Unten gab es einen Raum mit kleiner Kochnische und ein paar alten Möbeln aus dem Haupthaus. Oben unterm Dach war die kleine Schlafkammer. Aufs Klo musste sie weiter zu Bröges ins Haus. Zum Waschen blieb ihr das kleine Abwaschbecken. Eine Dusche brauchte Else sowieso nicht. Dafür gab es die Ostsee. Und fünfzehn Euro pro Tag waren ein unschlagbarer Preis für Hiddenseer Verhältnisse. Doch auch die mussten erst mal verdient werden. Und für Essen und Trinken brauchte Else auch noch etwas Geld. Außerdem musste sie für den Winter ein kleines finanzielles Polster anlegen, um die kalte Jahreszeit auf den Kanaren zu verbringen. Sie hasste die Kälte in Deutschland.

So zog sie jeden Morgen los, um die Insel mit Kreide, Pastell- oder Ölfarben ins Bild zu setzen. Nachmittags baute sie einen Campingtisch in Kloster auf, neben dem Supermarkt auf der Straße zum Hafen, und versuchte ihre Bilder zu verkaufen. Der Standort war günstig, denn hier kamen alle Reisegruppen auf dem Weg zum Schiff vorbei und mancher wollte eine besondere Erinnerung an die Insel mitnehmen. Von den Inseleindrücken froh gestimmt, wurde dabei oft auch nicht lange über den Preis diskutiert. Und dann drängte auch die Zeit, das Schiff zu erreichen.

Else hatte festgestellt: Leuchtturm ging immer. Der Signalturm oberhalb des Dornbuschs war bei den Inselgästen als Motiv besonders gefragt. Else hatte sich aber einen kleinen Vorteil verschafft. Die anderen Inselmaler setzten den Leuchtturm immer mit dem Windflüchter daneben in Szene, einer Kiefer, deren Spitze vom dauernden Ostseewind fast rechtwinklig umgebogen war und wie ein Finger zum Turm zeigte. Else dagegen nahm den steilen Pfad zum Swantiberg auf sich. Von dort gesehen fügte sich der weiße Turm mit der roten Spitze harmonisch in die sanften grünen Hügel des Inselhochlandes ein. Und dieser ungewöhnliche Blick zog bei den Touristen. Heute hatte sie sich ein neues Motiv überlegt.

Else atmete noch einmal kräftig durch. Dann stand sie auf und erklomm den kleinen sandigen Pfad hinauf zur Spitze des Swantiberges. Unten in der Tiefe rauschte die Ostsee. Der Wind pfiff hier oben auch stärker. Aber das schreckte Else nicht ab. Ein paar Sandkörner auf einem Bild sah sie weniger als Verschmutzung, vielmehr als authentisches Souvenir. Der Käufer nahm dann wirklich ein Stück von der Insel mit nach Hause. Heute Morgen wollte sie aber etwas bergab in Richtung Enddorn. Dort stieg sie über den Holzzaun, der die Touristen davon abhalten sollte, die Kante des Steilufers zu betreten. Else hielt das nicht auf. Sie wollte den Leuchtturm malen mit der schroffen Steilküste im Vordergrund. Dazu musste sie fast bis an die Abbruchkante, um Leuchtturm und Steilküste auf ein Bild zu bekommen. Dort baute sie ihr kleines Freiluftatelier auf. Beim Blick in die Tiefe wurde ihr etwas schwindelig. Außerdem plagten sie heftige Kopfschmerzen. Else hatte gestern den neuen Elsässer Rotwein im „Wieseneck“ entdeckt. Aber irgendetwas stimmte auch bei nüchterner Betrachtung nicht an dem Bild. Es war dieser rote Farbfleck auf dem Felsvorsprung, gut zehn Meter unter der Felskante. Sie holte ihr altes Fernglas aus dem Rucksack und schaute in die Tiefe. Ein Schrecken durchfuhr ihre Glieder. Sie stieß einen Schrei aus. Nur mit Mühe konnte sie das Gleichgewicht halten. Der rote Fleck entpuppte sich als Jacke und gehörte zu einem leblosen Körper, der rücklings über den Felsvorsprung lag. Aus dem Ärmel der Jacke ragte eine Hand heraus und zeigte in den Himmel.

X

HK Rieder? Hören Sie mich?“ Der Polizist schaute verschlafen auf das Display seines Mobiltelefons. „Hier ist die Einsatzzentrale Bergen.“

„Ja, hier ist Hauptkommissar Rieder, was gibt’s?“

„Abgestürzte Person am Steilufer am Swantiberg auf Hiddensee. Könnten Sie bitte übernehmen?“

Rieder schüttelte sich. „Wo in Gottes Namen ist der Swantiberg?“

„Lieber Kollege, das ist Ihr Revier, nicht unseres. Es wäre eigentlich ganz nett, wenn Sie wüssten, wo was auf Hiddensee ist. Vielleicht kann Ihnen ja der Kollege Damp weiterhelfen.“

„Ja, sicher. Super Tipp“, gab Rieder sarkastisch zurück. „Sonst noch was?“

„Eine Frau Else Bars hat den Fund gemeldet. Wir haben auch schon die freiwillige Feuerwehr und den Inselarzt informiert. Sie sind zur Fundstelle unterwegs. Ende.“

„Ende.“

„Was ist los?“, meldete sich Charlotte Dobbert von der anderen Seite des Bettes. Ihre langen Haare hatten sich wie ein Schleier über das Kopfkissen gelegt.

„Jemand ist am Steilufer abgestürzt.“

Sie richtete sich auf und fragte entsetzt: „Der Pfarrer?“

Rieder zuckte mit den Schultern, arbeitete sich aus dem Bett und schlüpfte in seine Sachen. Für eine Dusche blieb keine Zeit. Gerade darauf hatte er sich gefreut, weil sein kleines Häuschen in Vitte nicht den Luxus eines Badezimmers bot. Er setzte sich noch einmal auf die Bettkante und wählte die Nummer von Damp. Der war schon beim Frühstück, worum ihn Rieder beneidete. Denn das würde wohl wie die Dusche auch ausfallen. Damp versprach, sofort zum „Strandcafé“ zu kommen, um ihn abzuholen.

Keine drei Minuten später saß Rieder neben Damp im Wagen und mit Blaulicht und Sirene ging es in den Inselnorden. Auf dem Wiesenweg in Vitte rannten Männer in braunen Uniformen in Richtung Hafen. Dort stand das Fahrzeug der freiwilligen Feuerwehr schon vor seiner Garage und wartete auf die Reste der Rettungsmannschaft. Der rote Lkw aus DDR-Zeiten tuckerte schon. Der Auspuff über dem Fahrerhaus blies blaue Rauchwolken her­aus. Hinter Vitte, auf der Straße nach Kloster, gab Damp richtig Gas und holte noch den Jeep vom Inselarzt ein. In Kloster schloss sich ihnen der Krankenwagen an. Der kleine Konvoi durchfuhr in hohem Tempo Grieben.

Touristen und Insulaner, die so früh schon unterwegs waren, sprangen zur Seite und blickten verdutzt den Fahrzeugen hinterher. Rieder konnte im Seitenspiegel erkennen, dass einige mit Fahrrädern oder zu Fuß die Verfolgung aufnahmen. Hinter Grieben bogen die Autos links ab in den Honiggrund. Der Weg führte zu den alten Leuchtturmwärterhäuschen. Die Stoßdämpfer mussten Schwerstarbeit leisten bei der rasanten Fahrt über die alten Betonplatten. Sie kamen zu einer kleinen Lichtung kurz vor dem Steil­ufer. Dort wartete eine grauhaarige Frau in einer gelben Regenjacke und winkte ihnen hektisch zu. Damp bremste scharf. Die Polizisten, der Arzt und der Sanitäter sprangen aus ihren Fahrzeugen.

Die Frau stürmte den Männern voran den schmalen Pfad zum Swantiberg hinauf, führte sie im Laufschritt um dessen Kuppe her­um zu den Kreidefelsen. Dort deutete sie in Richtung Abgrund.

Rieder konnte zunächst nichts erkennen. „Wo soll da was sein?“, fragte er Else Bars ungeduldig. Die Frau riss sich ihr Fernglas von der Brust und reichte es Rieder. Er schaute hindurch. Da entdeckte auch er den leblosen Körper in der roten Jacke auf dem Felsvorsprung.

Inzwischen kam Feuerwehrkommandant Barnhöft mit seinen Männern am Unglücksort an. Einige hatten Seile über den Schultern.

Rieder fragte Barnhöft: „Kommen Sie da ran?“

Lutz Barnhöft nahm die blaue Schirmmütze vom Kopf, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf. „Zu gefährlich. Wenn wir hier an der Abbruchkante einen Mann abseilen, besteht die Gefahr, dass wir alle in der Tiefe landen. Die Kreidefelsen sind hier so brüchig. Da ist nix zu machen.“

„Aber irgendwie müssen wir doch rankommen? Vielleicht lebt er noch?“

„Ein Rettungshubschrauber“, warf Inselarzt Doktor Müselbeck ein. „Die könnten jemanden abseilen und die beiden dann mit einer Winde an Bord nehmen.“

„Die Rettungshubschrauber von Stralsund sind aber mit so was nicht ausgestattet“, gab Barnhöft zu bedenken. Rieder wurde ungeduldig. Er schaute sich nach Damp um. Der saß völlig erschöpft etwas abseits. Sein massiger Körper pumpte noch immer heftig. Das Gesicht war tiefrot gefärbt. Die Uniformbluse klebte ihm klatschnass am Körper. Rieder machte sich Sorgen um seinen Kollegen. „Alles okay?“

Damp winkte nur ab. Dann stieß er hervor: „Küstenwacht anfordern! Die haben so einen Hubschrauber mit Winde.“

„Genau“, sagte Barnhöft und wählte auch schon die Nummer der Einsatzzentrale.

Müselbeck trat an Rieder heran und zog ihn am Ärmel etwas zur Seite. „Ich denke, wir wissen beide, wer dort liegt“, flüsterte er dem Polizisten zu. „Pfarrer Schneider trug vorgestern so eine rote Wetterjacke. Ich habe ihn getroffen, als er auf dem Weg zu seinem Boot im Seglerhafen von Vitte war.“

Rieder nickte. „Ich denke auch, dass es Schneider ist.“ Nach ­einer kurzen Pause fragte er den Arzt: „Kann er den Sturz überlebt haben?“

Müselbeck schüttelte den Kopf. „Das sind gute fünfzehn bis zwanzig Meter. Und jetzt im Sommer ist die Kreide trocken und damit hart wie Beton. Er müsste schon viel Glück gehabt haben. Und es gibt keine Regung, kein Lebenszeichen.“

Barnhöft verkündete, dass die Küstenwacht sofort ihren in Warnemünde stationierten Helikopter nach Hiddensee losschicken würde.

Kaum zwanzig Minuten später erfüllte ein Brummen die Luft. Von der Ostsee näherte sich ein Hubschrauber. Am Heck prangte der Schriftzug „Bundespolizei“. Barnhöft dirigierte per Funk den Piloten zu der Fundstelle. Ein Notarzt ließ sich an einer Winde langsam herab in die Tiefe, untersuchte dann die leblose Person und teilte mit, es handele sich um eine tote männliche Person. Die Polizisten müssten entscheiden, ob sie den Leichnam gleich nach Rostock fliegen oder ob der Hubschrauber kurz landen sollte, um sich den Toten anzusehen.

„Kurz landen“, befahl Rieder.

Die Besatzung hatte den Toten schon in einem Leichensack verstaut.

„Kein schöner Anblick“, meinte der Pilot. Der Notarzt und ein Sanitäter öffneten den Reißverschluss des Leichensacks. Schon an den hellbraunen, dünnen Haarsträhnen erkannte Rieder den Pfarrer. Die hohe Stirn war voller Schrammen, die Gläser der Brille waren zersplittert. Der Anblick der Wangen ließ alle erschaudern, sie waren blutig und voller Löcher. Müselbeck schluckte und ging ein Stück zur Seite. „Vogelfraß. Möwen fressen, was sie kriegen können“, bemerkte der Sanitäter trocken.

„Können Sie etwas zur Todesursache sagen?“ Kopfschütteln. „Schussverletzungen?“

„Nein, habe ich nicht entdeckt. Am Hinterkopf hat er eine Wunde, kann aber eher durch den Aufprall auf den Felsen passiert sein“, sagte der Mann im olivgrünen Overall. „Näheres muss der Pathologe herausfinden.“

„Wir sollten ihn nach Greifswald bringen“, mischte sich der Pilot ein. „Das ist wohl deren Revier hier. Die melden sich dann bei Ihnen. Können Sie uns was über die Identität des Toten sagen?“

„Es ist der hiesige Pfarrer, Jens-Uwe Schneider.“

„Und wie heißt der Fundort da oben an der Steilküste?“

Rieder zuckte mit den Schultern.

„Toter Kerl“, sagte Damp.

XI

So was habe ich schon geahnt“, erwiderte Bökemüller auf Rieders neueste Mitteilung. „Die Einsatzzentrale hat mich auch gleich informiert, nachdem diese Frau den Fund gemeldet hatte. Ich komme zur Insel. Ich muss sowieso mit Ihnen sprechen. Können Sie da irgendwo einen Raum mieten für ein Meeting.“

„Im Rathaus gibt es dafür nichts Passendes. Vielleicht im ‚Godewind‘?“ Das „Godewind“ war ein Hotel im Zentrum von Vitte.

Bökemüller war einverstanden. Er wollte gegen Mittag auf der Insel sein. Behm von der Spurensicherung würde mitkommen. Zuerst wollten sie sich den Fundort an der Steilküste ansehen und dann ins „Godewind“ fahren, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

„Das wird einen ganz schönen Aufruhr geben. Ich muss das Ministerium in Schwerin umgehend informieren und natürlich die hiesige Kirchenleitung“, sprach der Polizeichef von Stralsund mehr zu sich als zu Rieder ins Telefon. „Wie wird man es auf der Insel aufnehmen?“

„Keine Ahnung“, meinte Rieder. „Ich bin zu kurz auf Hiddensee, um zu wissen, welche Rolle der Pfarrer hier gespielt hat.“ Gleichzeitig fiel ihm ein, er müsste so schnell wie möglich auch Bürgermeister Durk von den neuen Entwicklungen in Kenntnis setzen. Der war äußerst empfindlich, wenn man ihn überging oder nicht sofort über Vorkommnisse auf der Insel informierte.

„Ich rede mal mit dem Bürgermeister.“

Damp stand etwas abseits, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Rieder, der sich noch einmal die Abbruchkante der Steilküste in der Nähe der Fundstelle angesehen hatte, ging zu ihm. „Könnten Sie einen Raum im ‚Godewind‘ besorgen. Bökemüller will dort gegen Mittag eine Einsatzbesprechung abhalten.“

Damp drehte langsam den Kopf in Rieders Richtung. Er schaute ihn lange an. „Wieso? Sie legen sich doch so mächtig ins Zeug? Dann können Sie das doch auch selbst machen.“ Damit drehte er sich um und schlenderte davon, als ginge ihn das hier nichts an. Rieder eilte ihm hinterher. „Damp, was soll das?“

Der Inselpolizist blieb stehen. „Was das soll? Überlegen Sie mal? Sie haben sich den Fall auf Ihre Seite des Schreibtischs gezogen. Also bitte … ich muss hier nicht den Kommissar spielen.“

Ging das wieder von vorne los, dachte Rieder wütend. Schon beim letzten Fall hatten sich die beiden Hiddenseer Polizisten ständig in die Haare gekriegt.

„Okay, ich bin vielleicht etwas vorgeprescht“, räumte Rieder ein, „aber … Sie haben mich immerhin gestern hierher geschickt, wenn Sie sich erinnern.“

Damp zeigte wütend mit dem Finger auf Rieder. „Sie spielen hier den Chef. Aber: Sie sind nicht der Chef, jedenfalls nicht mein Chef, und ich bin nicht Ihr Fahrer oder Befehlsempfänger. Also suchen Sie sich die Nummer vom ‚Godewind‘ raus und bestellen Sie Ihren Tisch zum Kuscheln mit dem Chef gefällig selbst.“ Damit ließ er Rieder stehen und lief den Pfad zurück zu der Stelle, wo der Polizeiwagen stand. Dabei stieß er fast mit einem gleichgroßen dunkelhaarigen Mann mit Vollbart zusammen. „Damp!“, brüllte dieser den Polizisten an. „Warum werde ich nicht informiert?“ Das war Michael Durk, Bürgermeister von Hiddensee. Rieder konnte beobachten, wie Damp zur Salzsäule erstarrte und irgendetwas stammelte. Dabei zeigte er mit seinem Arm in Richtung Rieder. Durk schob Damp beiseite, sodass der riesige Körper des Polizisten fast ins Gestrüpp gekippt wäre. Der Bürgermeister stürmte den Weg nach oben und rief nun nach Rieder. Die umstehenden Feuerwehrleute konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn alle wussten um das angespannte Verhältnis zwischen den Inselpolizisten und der Inselobrigkeit. Rieder war ihm unheimlich mit seiner Vergangenheit als Ermittler einer Berliner Mordkommission. Damp störte ihn mit seiner penetranten Ordnungsliebe.

„Warum erfahre ich als Letzter, was passiert ist?“, fuhr Durk Rieder an. Der wollte sich rechtfertigen, aber der Bürgermeister schnitt ihm das Wort ab. „Alle da unten“, damit deutete er auf die Ansammlung an den Leuchtturmwärterhäusern, „wissen, dass der Pfarrer tot aufgefunden wurde. Nur ich weiß es nicht!“

„Tut mir leid“, versuchte Rieder sich zu rechtfertigen, „aber wir mussten erst mal die Leiche bergen und …“

„Und was? Wie lange hat der Hubschrauber hierher gebraucht? Da war nicht Zeit, mal anzurufen?“ Durk holte noch mal tief Luft. „Das hat ein Nachspiel, Rieder, verlassen Sie sich drauf!“

Mit diesen Worten drehte sich Durk um und marschierte zurück. Damp hatte nicht ohne Genugtuung beobachtet, wie der Bürgermeister seinen Kollegen vor allen Leuten runtergemacht hatte. Nun sprang er zur Seite, um den immer noch wütenden Ortsvorsteher vorbeizulassen. Rieder blieb mit gebeugtem Kopf und zusammengesunkenem Oberkörper einsam zurück. Alle schienen von ihm abzurücken.

Else Bars schnappte sich ihren Rucksack mit den Malsachen. Heute würde hier kein Bild mehr entstehen. Ihr zitterten immer noch die Knie. Der jüngere der beiden Polizisten tat ihr leid. Offensichtlich war er nicht von hier und konnte es auch keinem recht machen. Ihr hatte es gefallen, wie er gleich die Initiative an sich gerissen hatte. Jetzt kam er auf sie zu.

„Ich müsste noch Ihre Aussage notieren und Sie bitten, heute Nachmittag oder morgen aufs Revier nach Vitte zu kommen, um sie zu unterschreiben. Wie war Ihr Name?“

Else Bars nannte ihren Namen, ihr Geburtsdatum. Schwieriger wurde es mit einer Adresse. Sie versuchte, Rieder mit ihrer Urlaubsanschrift auf Hiddensee und ihrer Handynummer zufriedenzustellen, denn Else Bars hatte keinen festen Wohnsitz. Im Sommer war sie auf Hiddensee, im Winter auf den Kanaren. Ihre Habe passte in einen großen Reisekoffer, ihr Arbeitsmaterial in den Rucksack. Was sie an Bildern auf der Insel nicht verkaufte, konnte sie bei Bröges unterstellen, die auch hin und wieder während ihrer Abwesenheit eines ihrer Bilder an Urlaubsgäste verkauften.

„Keinen festen Wohnsitz?“, fragte Rieder leise.

„Hat sich so ergeben“, antwortete Else Bars. „Im Sommer bin ich hier, im Winter auf La Palma. Eine Wohnung würde sowieso nur leer stehen und Kosten verursachen.“

„Okay, dann lassen wir es mal bei der Anschrift in Grieben.“

Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. „Danke. Das hätte Damp sicher nicht akzeptiert. Der ist mir schon ein paarmal wegen einer Gewerbegenehmigung auf die Pelle gerückt. Aber Sie sind schwer in Ordnung.“

Rieder konnte diese kleine Aufmunterung gebrauchen. Er notierte, wie sie zum Swantiberg gekommen war und den Toten entdeckt hatte.

„Und gestern haben Sie hier auch gemalt? Da ist Ihnen nichts aufgefallen?“

„Gestern habe ich dort oben auf dem Gipfel des Swantiberges gemalt. Von da kann man nicht die Steilküste herabblicken. Die Sanddornbüsche mit ihren gelben Beeren wollte ich mit auf dem Bild haben.“

„Wie lang waren Sie hier?“

„So von acht Uhr morgens bis mittags. Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Wenn ich fertig bin und das Bild trocken, packe ich meine Sachen. Spätestens 14 Uhr muss ich in Kloster stehen. Dann kommen die Reisegruppen zurück von ihren Inselrundfahrten. Das ist die beste Geschäftszeit, so bis 16.30 Uhr. Dann herrscht Flaute. Nur freitags läuft dann noch was. Die Urlauber, die am nächsten Tag abreisen, kaufen oft Bilder auf der Suche nach einem Souvenir der Insel. Sozusagen Last Minute, wie man neudeutsch sagt.“

„Und der Pfarrer ist während dieser Zeit am Vormittag nicht vorbeigekommen …“

„… und dann abgestürzt oder in die Tiefe gesprungen, ohne dass ich es gemerkt hätte? Lieber Mann, ich bin zwar etwas älter, aber noch nicht taub oder blind. Hier war es sehr ruhig. Montags kommen nicht so viele Touristen vorbei. Vielen ist der Weg bis auf den Berg zu beschwerlich. Und die Fuhrwerke fahren nur bis zur Lichtung hinter den Leuchtturmwärterhäuschen und drehen dort.“

„Kannten Sie den Pfarrer?“

„Ich war ein paarmal in der Kirche zum Gottesdienst. Wenn es am Sonntag geregnet hat. War kein Gewinn. Predigen konnte der nicht, kaum zu glauben, wenn man jetzt hört, was der so verfasst haben soll und dafür sogar einen Preis kriegt … Komisch nicht?“

Rieder wusste nicht, was er darauf antworten sollte und überspielte seine Verlegenheit, indem er sein Notizbuch zusammenklappte und eine Visitenkarte aus der Brieftasche zog. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich doch bitte an.“

Jetzt musste er im „Godewind“ anrufen, um den Raum für Bökemüller zu reservieren, und dann dafür sorgen, dass im Pfarrhaus die Zimmer versiegelt wurden. Damp war nirgendwo zu sehen.

Diesen plagte ein wenig das schlechte Gewissen. Vielleicht war er etwas zu hart mit Rieder umgesprungen. Warum musste der Neue auch immer so den Chef raushängen lassen?

Der Polizist saß im Hiddenseer Streifenwagen, der neben dem Inselfriedhof vor der örtlichen Informationstafel, genau gegenüber vom Pfarrhaus stand. Vielleicht war es auch nicht in Ordnung gewesen, so einfach von der Steilküste hierher zu fahren, ohne Rieder Bescheid zu sagen. Aber er wollte ihm einfach mal zeigen, dass er auch sein Handwerk gelernt hatte. Er versuchte, seine Kleidung zu ordnen. Seine Uniform hatte bei der Hetzerei durch das Gestrüpp am Steilufer gelitten. Er roch an seinen Achselhöhlen und verzog das Gesicht. Damp öffnete das Handschuhfach. Nach einigem Wühlen kam ein Deospray zum Vorschein. Großzügig sprühte er sich damit den Oberkörper ein und bekam von den ausströmenden Gasen einen Hustenanfall. Er kurbelte das Seitenfenster herunter, um wieder Luft zu bekommen.

Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, stieg er aus, setzte ordentlich die Dienstmütze auf den Kopf und ging zum Pfarrhaus. Er drückte den Klingelknopf neben der Tür.

Birgit Thurow öffnete. Ihre Augen waren gerötet. Sie trug heute einen eng anliegenden kurzärmligen schwarzen Rollkragenpullover und Damps Blick glitt unwillkürlich auf den sich abzeichnenden vollen Busen. Doch er riss sich zusammen.

Ehe er etwas sagen konnte, sagte die Küsterin: „Ich habe es schon gehört.“ Dann gab sie den Weg frei und Damp trat ein.

Das dunkle Gemeindebüro wurde nur vom Schein einer riesigen brennenden Kerze auf dem Schreibtisch erhellt. Birgit Thurow blieb davor stehen. Damp wusste nicht so recht, wie er es anfangen sollte.

„Frau Thurow …“ Er machte eine Pause, bemerkte, dass er noch die Mütze auf dem Kopf hatte, und riss sie augenblicklich herunter. „Eh … es tut mir leid. Mein Beileid. .Ich müsste die Räume des Pfarrhauses versiegeln.“

Sie schaute ihn mit leerem Blick an, als hätte sie ihn nicht verstanden.

„Verstehen Sie mich nicht falsch. Der Tod von Herrn Schneider geht auch mir nah … aber die Spurensicherung will die Räume untersuchen, auch die Zimmer des Pfarrers in der oberen Etage.“

Statt zu antworten, brach Birgit Thurow in einen heftigen Weinkrampf aus. Sie warf sich auf einen Stuhl. Damp war hin und her gerissen. Gern hätte er die Frau jetzt getröstet. Er wollte aber auch nicht seine Rolle als Polizeibeamter verlassen.

„Soll ich Ihren Mann informieren, dass er Sie abholt?“

Birgit Thurow schüttelte den Kopf. Da klingelte Damps Handy. Mit gedämpfter Stimme meldete er sich. „Wo sind Sie?“, rief ihm Rieder aus dem Hörer entgegen.

„Im Pfarrhaus.“

„Was? Was tun Sie dort?“

Damp straffte sich etwas, als müsste er sich für die Antwort an seinen Kollegen rüsten. Er flüsterte: „Ich wollte die Räumlichkeiten versiegeln, damit keine Spuren verwischt werden.“

Im Hörer herrschte plötzlich Stille. Dann gab es ein kurzes Räuspern.

„Sehr gut … Können Sie bitte Bökemüller und Behm vom Hafen in Kloster abholen und hierher bringen, zum Toten Kerl?“

Damp konnte sich, trotz der Situation, ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. „Ja, gern. Wenn ich das hier geklärt habe.“

„Okay.“

Damit beendeten beide das Gespräch.

Birgt Thurow war aufgestanden und hatte einige Unterlagen auf dem Schreibtisch zusammengesammelt. „Ich werde am besten erst mal mit dem Gemeindebüro in die Galerie am Torbogen umziehen.“ Die Galerie am Torbogen war früher das Küsterhaus der Hiddenseer Kirchengemeinde gewesen, aber vor einigen Jahren umgebaut worden. Der Name bezog sich auf ein kleines Backsteinportal, das gleich neben dem Gebäude am Weißen Weg stand und die letzte Spur des einstigen Klosters auf Hiddensee war. Im Erdgeschoss befanden sich Ausstellungsräume, im Obergeschoss ein Zimmer, das sowohl als Beratungsraum, Büro oder Bleibe für die ausstellenden Künstler diente.

Damp nickte zustimmend. Als Birgit Thurow die Unterlagen in die Tasche schieben wollte, hielt der Polizist seine Hand dazwischen. „Verzeihen Sie, aber ich muss sehen, was Sie mitnehmen.“ Die Küsterin überließ sie ihm. Damp schaute sie kurz durch, konnte aber nichts entdecken, was mit Schneider zu tun gehabt hätte.

„Sagen Sie, kennen Sie die Angehörigen des Pfarrers?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Seine Eltern sind tot. Sie liegen auf dem Inselfriedhof. Geschwister hatte er keine. Und sonst hatte er, soweit ich weiß, keinen Kontakt zu Verwandten. Wenn es überhaupt jemanden geben sollte.“

Damp notierte sich die Information, während Birgit Thurow noch ein Hinweisschild schrieb, das sie beim Verlassen des Pfarrhauses an die Tür heftete. Damp holte ein papiernes Dienstsiegel aus seiner Tasche und klebte es quer über Türschloss und Türrahmen. Grußlos ging Birgit Thurow davon. Damp blickte ihr nicht ohne Wehmut hinterher.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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321 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783954620845
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