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Читать книгу: «Der gläserne Fluch», страница 3

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Drei Tage später …

Im ehrwürdigen Gebäude der Universität zu Berlin liefen die Vorbereitungen für den Vortrag auf Hochtouren. Der weitläufige Campus war in einem Abstand von etwa hundert Metern abgesperrt worden und wurde von Dutzenden berittener Polizisten bewacht. Der Vorplatz wurde von Fackeln erhellt, deren Flammen ihr weiches Licht gleichermaßen auf Zuschauer wie auf Besucher verteilten. Tausende von Schaulustigen hatten sich außerhalb der Umzäunung versammelt und warteten ungeduldig auf das Eintreffen des Regenten und seiner Gattin. Als der Kaiser und die Kaiserin dann endlich in ihrem prächtigen Landauer und in Begleitung ihrer fünfzehnköpfigen Leibgarde eintrafen, brach das Volk in laute Jubelrufe aus. Kaiser Wilhelm der Zweite und seine Gattin, Auguste Viktoria, winkten den Leuten fröhlich zu, beeilten sich aber, rasch ins Innere zu gelangen. Es hatte zwar aufgehört zu schneien, aber die Temperaturen an diesem Abend waren immer noch recht frostig.

Dann durften die Gäste eintreten. Stilvoll gekleidetes Personal prüfte gewissenhaft jede einzelne Einladung, ehe sie den Weg freigaben. Vor dem Gebäude entstand eine Schlange und es dauerte eine Weile, bis auch der letzte Gast die Türen passieren durfte.

Im Inneren ging es nicht minder prächtig zu. Die Kronleuchter und Wandhalter des mehrstöckigen Hauptgebäudes waren mit unzähligen Kerzen bestückt worden, die das Innere der Universität in ein Meer aus Flammen tauchten. Zwar hatten hier, wie in den meisten großen Gebäuden der Stadt, Gaslampen Einzug gehalten, aber zu Ehren des Kaisers und aus diesem besonderen Anlass hatte man bewusst darauf verzichtet. Kerzenlicht wirkte auf den Gesichtern der Damen doch um ein Vielfaches vorteilhafter als der kalte Schein einer Gaslaterne.

Charlotte hatte so einen Prunk noch nicht erlebt. Sie stand ganz nahe bei ihrem Onkel und blickte mit großen Augen auf die vornehm gekleideten Besucher. Die Damen waren zumeist in prächtige Kleider gehüllt und trugen sorgfältig toupierte Frisuren. Die Herren hingegen steckten in maßgefertigten Anzügen, trugen ihre Bärte gezwirbelt und ihre Haare pomadisiert, ganz nach dem Vorbild des Kaisers. Die Säle waren erfüllt von dem Geruch kostbaren Parfüms und edler Zigarren und allenthalben wurde Champagner ausgeschenkt. Charlotte wagte kaum zu atmen und lauschte mit geröteten Wangen den Unterhaltungen der Gäste. Bei genauerer Betrachtung waren diese meist ziemlich öde und oberflächlich, aber in dieser Umgebung und zu diesem Anlass wirkte jedes Wort, als bestünde es aus Gold. Die Aufregung half ihr sogar, für einen Moment den Brief zu vergessen, den sie vor drei Tagen erhalten hatte. Ein Brief, der schwerwiegende Konsequenzen haben würde.

»Onkel, ich hätte gern ein Glas Champagner.«

Humboldt war der Einzige, der sich an diesem Abend nicht zu amüsieren schien. Sein Blick wanderte über die Köpfe der Anwesenden zurück zu seiner Nichte. »Was hast du gesagt?«

»Champagner«, erwiderte Charlotte. »Ich hätte gern ein Glas davon.«

»Aber du bist erst sechzehn.«

»Onkel, bitte.«

Der Forscher stieß ein unverständliches Grunzen aus, dann wählte er einen Diener aus und nahm zwei Gläser von dessen Tablett. »Hier«, sagte er, als er zurückgekehrt war. »Aber nur dieses eine.« Sie stießen an. »Übrigens, du siehst heute Abend bezaubernd aus.«

Charlotte spürte, dass sie rot wurde. Schnell trank sie einen Schluck. Sie hatte noch nie in ihrem Leben Champagner getrunken, fand aber, dass heute eine passende Gelegenheit war. Das prickelnde Getränk strömte ihre Kehle hinab und hinterließ einen seltsamen Geschmack im Mund.

»Und?« Humboldt blickte sie aufmerksam an.

Charlotte erforschte den Geschmack. »Irgendwie sauer«, bemerkte sie und griff nach einem Appetithäppchen, um den Geschmack zu neutralisieren. Nachdem sie das Käsegebäck gegessen hatte, versuchte sie es erneut. Doch auch diesmal war das Ergebnis eher unbefriedigend. »Ich weiß nicht«, murmelte sie und schaute auf das Glas. »Ich kann dem irgendwie nichts abgewinnen.«

»Geht mir auch so.« Der Forscher kippte sein Glas in einem Zug runter. »Ziemlich saure Plörre. Aber vielleicht fällt es uns damit leichter, die unsäglich dummen Gespräche auszublenden. Komm, lass uns in den Hörsaal gehen.«

Charlotte stellte das Glas zurück und folgte ihrem Onkel.

Der Hörsaal war bereits gut besetzt. Sie fanden einige Plätze in der vierten Reihe, unweit des Bühnenaufgangs, und ließen sich dort nieder. Charlotte warf einen Blick nach hinten. Wilhelm und seine Gattin saßen, umrahmt von der Leibgarde sowie einigen Mitgliedern des Hofstaats, in der Loge und blickten auf sie herab. Im Licht der Kerzen konnte Charlotte unzählige blank polierte Manschetten, Knöpfe und Ehrenabzeichen schimmern sehen. Federbüsche und Pickelhauben ragten in die Höhe.

Ihr Onkel hatte ganz recht. Es war eine schrecklich aufgeblasene Veranstaltung. Ein Schaulaufen der Schönen und Mächtigen, bei dem es nur darum ging, beim Kaiser einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. Mit Forschung und Wissen hatte das alles nur sehr wenig zu tun. Blieb zu hoffen, dass wenigstens der Vortragende an diesem Missstand etwas ändern konnte.

In eben diesem Moment betrat Richard Bellheim in Begleitung des Direktors und einiger hochrangiger Würdenträger der Universität die Bühne. Er war ein schlanker, ausgezehrt wirkender Mann von vierzig Jahren, dessen Haar bereits schütter und an manchen Stellen leicht ergraut war. Er trug Vollbart und Nickelbrille und unter seinem Arm einen Aktenordner. In einen einfachen braunen Anzug gekleidet, die Ellenbogen mit Lederflicken besetzt und die Schuhe leicht angestoßen, bot er einen wohltuenden Gegensatz zu all den feinen und herausgeputzten Herrschaften im Publikum. Als er zu sprechen begann, war seine Stimme tief und wohlklingend.

Charlotte lehnte sich zurück. Sie faltete die Hände und lauschte mit wachsender Begeisterung den Erzählungen vom Schwarzen Kontinent.

6

Zwei Stunden später war der Vortrag zu Ende. Der Völkerkundler bedankte sich, signierte Bücher und Reiseberichte und verschwand dann mit den Kuratoren der neu eröffneten Afrikaausstellung hinter dem Podium. Bellheim hatte seinen Schwerpunkt auf Völker und Kulturen anstatt auf Kolonialpolitik gelegt. Humboldts Sorgen waren also unbegründet gewesen. Im Publikum herrschte Aufbruchsstimmung. Der Kaiser und die Kaiserin waren bereits in Richtung Kutsche aufgebrochen und so bestand für die meisten Anwesenden kein Grund, noch länger zu verweilen. Charlotte und Humboldt warteten, bis die Zahl der Besucher auf ein erträgliches Maß gesunken war, dann standen sie auf und gingen dorthin, wohin Bellheim verschwunden war.

Ein Saaldiener versperrte ihnen den Weg.

»Sie wünschen?«

Humboldt überragte den Mann um etwa eine Handbreit.

»Ich möchte mit Professor Bellheim sprechen«, erwiderte er. »Ich würde ihm gerne meine Glückwünsche und Komplimente zu dem gelungenen Vortrag übermitteln.«

Der Diener schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, mein Herr, aber ich habe strikte Anweisungen, niemanden durchzulassen.«

»Bei Herrn Humboldt dürfen Sie eine Ausnahme machen«, ertönte eine Stimme von links. Eine blasse Dame in einem rosafarbenen Kleid und weißen Schuhen trat auf sie zu und reichte dem Forscher die Hand. »Mein Name ist Gertrud Bellheim.«

»Dann haben wir Ihnen also die Einladung zu verdanken, gnädige Frau?«

»Ganz recht. Ich hoffe, Sie fanden den Vortrag interessant.«

»Außergewöhnlich interessant.« Humboldt deutete einen Handkuss an. »Dies ist meine Nichte Charlotte.«

»Wie reizend. Interessieren Sie sich für Afrika, meine Liebe?«

»Nicht nur für Afrika«, erwiderte Charlotte. »Ich interessiere mich für alle Naturwissenschaften. Physik, Chemie, Biologie, Geografie. Es ist eine so aufregende Welt.«

»Ich sehe schon, Herr von Humboldt, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Sie schenkte Charlotte ein warmherziges Lächeln.

»Haben Sie Lust, meinem Mann einen Besuch abzustatten? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie ihn gern wiedersehen würden, nach so vielen Jahren …«

»In der Tat«, sagte Humboldt. »Wir waren einmal sehr eng befreundet. Ich möchte ihm zu seinem gelungenen Vortrag gratulieren.«

»Dann folgen Sie mir bitte.« Die Gattin des Völkerkundlers ging voran und winkte sie an dem Diener vorbei hinter die Bühne.

Während sie einem Gang folgten, der bei einer Treppe ins Untergeschoss mündete, unterhielt sich Frau Bellheim angeregt mit Charlotte. Sie vertrat dabei einige sehr moderne Ansichten. Zum Beispiel war sie der Meinung, es sei eine Schande, dass Frauen immer noch nicht studieren dürften. Charlotte, die bei diesem Thema regelmäßig rote Wangen bekam, konnte ihr nur aus tiefstem Herzen beipflichten. Erst letztes Jahr war wieder ein Antrag auf Zulassung von Frauen zum Studium abgelehnt worden. Dabei bestand das Recht in der Schweiz bereits seit 1840, in Großbritannien seit 1849 und in fast ganz Europa seit 1870. Nur in Preußen und Österreich-Ungarn hatte man sich nicht dazu durchringen können. Ein Skandal, wie Frau Bellheim betonte, während sie ihre Gäste in den unteren Stock begleitete.

Vor einer der Türen hielt sie an.

»Da wären wir. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie mit meinem Geschwätz gelangweilt habe. Ich bin in letzter Zeit etwas nervös und neige zum Plappern.«

»Aber nein«, sagte Charlotte entschieden. »Ich habe es sehr genossen, Ihre Ansichten zu hören. Vielleicht können wir uns ja irgendwann mal weiter über das Thema unterhalten.«

»Sehr gern, meine Liebe. Aber jetzt lassen wir den Herren den Vortritt.« Sie klopfte an.

»Herein!«, schallte es von drinnen.

Die Frau des Völkerkundlers öffnete die Tür und ließ die Gäste eintreten. Richard Bellheim war gerade damit beschäftigt, die Karten und Unterlagen, die er während des Vortrags benutzt hatte, in Koffer zu packen und diese zu schließen. Sein Vorbereitungszimmer glich einer Rumpelkammer, durch die der Wind gefegt war.

»Richard, dies sind Carl Friedrich von Humboldt und seine Nichte Charlotte. Sie waren heute Abend Gäste deines Vortrags.«

Der Völkerkundler blinzelte zweimal, dann neigte er den Kopf. »Humboldt? Der Name klingt vertraut. Sie sind doch nicht etwa mit Alexander von Humboldt verwandt?«

Der Forscher runzelte verwundert die Stirn, dann sagte er: »Alexander war mein Vater.«

»Da haben Sie aber großes Glück. Sehr großes Glück, aber auch eine große Verantwortung. In welchem Beruf sind Sie tätig?«

»Ich bin Naturwissenschaftler.«

»Soso.«

Charlotte blickte zwischen ihrem Onkel und dem Völkerkundler hin und her. Das Gespräch nahm eine andere Wendung, als sie vermutet hatte. Ihr Onkel schien das genauso zu sehen.

»Richard«, sagte er. »Ich bin es, dein Freund Carl Friedrich.«

Bellheims Blick drückte Unverständnis aus. Er legte die Dokumentenrolle zur Seite und trat auf den hochgewachsenen Forscher zu.

»Wie sagten Sie, war Ihr Name?«

»Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt. Aber vielleicht sagt dir der Name Donhauser ja etwas.«

»Carl Friedrich Donhauser?« Bellheim musterte das Gesicht seines Gegenübers im Schein der Kerzen. »Woher sollten wir uns kennen?«

»Wie kannst du das vergessen haben?« Humboldt war sichtlich erschüttert. »Wir haben vier lange Jahre zusammen studiert. Weißt du nicht mehr, die Semester bei Alois Krummnagel? Artenkunde und Präparation I–IV. Irgendwann haben wir uns mal in die Ausstellungsräume geschlichen und Tierfelle übergezogen, erinnerst du dich? Was hatten wir für einen Spaß!«

Bellheim zwinkerte verständnislos mit den Augen. Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem. Bedaure, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.«

»Richard …«

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich nicht dauernd duzen würden«, sagte Bellheim, nun schon merklich ungehaltener. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann, aber Sie sehen ja, ich habe viel zu tun. Vielleicht besuchen Sie ja noch einen meiner anderen Vorträge. Haben Sie vielen Dank für Ihren Besuch. Gertrud, wenn du die Herrschaften bitte hinausbegleiten würdest …«

Humboldt stand seinem Freund fassungslos gegenüber. Er schien mit sich zu ringen, entschied dann aber, dass es nichts bringen würde. »Na dann … haben Sie vielen Dank, Herr Bellheim.« Er verließ den Raum. Charlotte ging ihm hinterher, dicht gefolgt von Bellheims Frau. Kaum hatte sie die Tür zugezogen, als der Forscher sich umdrehte. »Was sollte dieser Auftritt da eben? Ich verlange eine Erklärung.«

Gertrud Bellheim lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid. Ich hatte so gehofft, dass er Sie erkennen würde. Wenn Sie möchten, erkläre ich Ihnen alles. Aber nicht hier. Lassen Sie uns hoch in den Salon gehen. Dort werden wir sicher eine Tasse Tee bekommen.«

Der Salon war gut besucht. Etliche Besucher des Vortrags saßen bei einem Wein, einem Bier oder einer Tasse Kaffee beisammen und sprachen über das Gehörte. Gelächter erklang und im Hintergrund klapperte Geschirr. Ein leichter Geruch von Tabak durchströmte den Raum.

Gertrud Bellheim deutete auf eine rot gepolsterte Sitzgruppe und winkte einen Diener herbei. »Möchten Sie etwas bestellen?«

Charlotte nahm eine heiße Zitrone und Humboldt einen Tee. Sie selbst bestellte einen Wein und ein Glas Wasser. Nachdem der Diener davongeeilt war, begann sie zu erzählen.

»Mein Verdacht, dass etwas nicht stimmte, fing etwa zwei Wochen nach seiner Rückkehr an. Richard war früher nie vergesslich, aber jetzt neigte er dazu, Dinge herumliegen zu lassen und morgens bis zehn oder elf zu schlafen. Anfangs dachte ich mir nichts dabei und schob es auf die Strapazen der Reise, doch nach einer Weile wurde ich misstrauisch. Er war schon oft auf Reisen gewesen und immer hatte er schnell wieder ins Alltagsleben zurückgefunden. Doch diesmal war es anders. Er schien die einfachsten Dinge vergessen zu haben: wie man sich einen Schnürsenkel zubindet, wie man Messer und Gabel hält, wie man sich eine Pfeife anzündet. Und er vergaß Erlebnisse, die uns einmal viel bedeutetet haben. Wie wir uns kennengelernt hatten, unser erstes Rendezvous, unseren ersten Kuss …« Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln. Sie öffnete ihre Handtasche, holte ein Stofftuch heraus und tupfte sie ab.

»Ich kann gut verstehen, wie schlimm ein solcher Gedächtnisverlust für den Ehepartner sein muss«, sagte Humboldt mitfühlend. »Haben Sie Rücksprache mit einem Arzt gehalten?«

»Natürlich«, schniefte sie. »Wir waren sogar an der Charité. Ich nahm Richard unter dem Vorwand einer allgemeinen Gesundheitsüberprüfung mit und ließ ihn von Kopf bis Fuß untersuchen. Er wehrte sich nicht mal dagegen.«

»Und was kam dabei heraus?«

»Nichts. Die Ärzte attestierten ihm die Gesundheit eines jungen Mannes. Nur sein Gedächtnis sei etwas schwach, aber das könne bei Männern um die vierzig schon mal vorkommen, sagten sie. Ich aber wusste es besser.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Art seiner Vergesslichkeit, das war es, was mir Sorgen bereitete. Es waren ja nicht irgendwelche Kleinigkeiten, an die er sich nicht mehr erinnerte. Es waren Dinge, die eine große Bedeutung für ihn hatten. Weg, fort, verschwunden.« Sie schnippte mit dem Finger. »So, als hätte es sie nie gegeben. An andere Dinge erinnerte er sich dafür mit unglaublicher Klarheit. Zum Beispiel wusste er, wie viele Steinplatten auf dem Weg zu unserem Haus liegen und wie viele Seiten unsere Bibliothek umfasst. Überhaupt, Bücher …« Sie steckte das Taschentuch zurück. »Ganze Passagen konnte er mir aufsagen. Wörtlich zitiert und ohne den geringsten Fehler. Dafür wusste er nicht mehr, an welchem Tag sein Geburtstag ist.«

»Vielleicht ist es eine bestimmte Form der Demenz«, warf Charlotte ein. »Eine krankhafte Form der Vergesslichkeit.«

»Das war auch mein erster Gedanke, aber die Ärzte schlossen das kategorisch aus. Sie sagten, dafür sei sein Kurzzeitgedächtnis zu ausgeprägt.« Mit einem entschuldigenden Lächeln nippte sie an ihrem Wein. »Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich mich an Sie gewendet habe.«

Charlotte konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Es war bewundernswert, wie sehr sie ihre Gefühle unter Kontrolle hielt.

»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Humboldt.

Gertrud Bellheim stellte das Glas zurück und sah dem Forscher fest in die Augen. »Ich möchte Sie einladen, mich und meinen Mann am Silvesterabend zu besuchen. Ich habe einige Gäste eingeladen, hauptsächlich Bekannte aus Richards Jugend. Ich möchte ihm das Gefühl vermitteln, umgeben von alten Freunden zu sein. Vielleicht hilft das ja seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Es würde mir viel bedeuten, wenn Sie und Ihre Begleiter kommen könnten. Nicht nur, weil Sie einer seiner ältesten Freunde sind, sondern vor allem, weil Sie den Ruf haben, unerklärlichen Phänomenen auf die Spur zu kommen.« Sie warf dem Forscher einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ganz recht, ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie scheinen genau der richtige Mann für eine solche Aufgabe zu sein. Selbstverständlich würde ich Ihnen dafür ein angemessenes Honorar zahlen. Was sagen Sie?«

Humboldt lehnte sich zurück, tief in Gedanken versunken. Als er wieder sprach, klang seine Stimme gedämpft. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Um ehrlich zu sein, mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, immerhin ist Richard einer meiner ältesten Freunde. Ich habe das Gefühl, ich würde ihn hintergehen. Trotzdem nehme ich Ihre Einladung an. Was ich heute Abend erlebt habe, gibt mir Anlass zur Sorge. Vielleicht gelingt es mir ja tatsächlich, etwas herauszufinden.«

»Danke. Vielen Dank. Sie ahnen nicht, was mir das bedeutet.«

»Danken Sie mir nicht zu früh. Noch wissen wir nicht, womit wir es zu tun haben. Das Ergebnis ist vielleicht erschreckender, als wir beide uns das zu diesem Zeitpunkt vorstellen können. Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?«

»Aber gewiss. Was wollen Sie wissen?«

»Welche Augenfarbe hat Ihr Mann?«

Frau Bellheim war einen Moment sprachlos, dann erschien ein amüsierter Zug um ihren Mund. »Braun. Ein warmes, leuchtendes Haselnussbraun.«

»Genau das hätte ich auch geantwortet. Ich erinnere mich sehr genau an seine Augenfarbe, ich habe lange genug ein Zimmer mit ihm geteilt.«

»Und?«

»Die Augen des Mannes da drin sind grün. Strahlend grün.«

7

Zur selben Zeit in New York …

Max Pepper warf einen besorgten Blick nach Norden. Die 5th Avenue in Richtung Central Park war ein einziges Chaos. Etwa hundert Meter vor ihnen war ein Brauereigespann gegen eine Schneeverwehung gefahren und umgekippt. Hunderte von Litern Bier hatten sich über den Schnee verteilt und die Straße in eine glatte und stinkende Eisbahn verwandelt. Kutschen, Fuhrwerke und Omnibusse standen kreuz und quer, während Fahrer, Passanten und Polizisten um die Wette stritten, wer schuld sei und wen man dafür zur Verantwortung ziehen könne. Als ob sich dadurch irgendetwas ändern würde. Nicht mal die dicke Schneedecke konnte den Lärm mindern, der von vorn zu ihnen herüberschallte.

Es ging weder vor noch zurück und Max hatte einen wichtigen Termin. Das Gebäude des Global Explorer an der Kreuzung zur 58th East war bereits in Sichtweite. Das Firmenlogo, ein gigantisches X mit dem Slogan »X-plore the world in one day« schimmerte im fahlen Licht der neu installierten elektrischen Glühlampen. Die zehn Flaggen, die eine Weltkugel umrahmten, hingen schlaff herunter.

Max blickte durch die beschlagenen Scheiben, dann traf er eine Entscheidung. Er verließ den Bus, sprang hinaus in die Kälte und machte sich zu Fuß auf den Weg. Die Straße war rutschig und seine glatten Ledersohlen nicht eben geeignet für einen solchen Untergrund. Trotzdem schaffte er es, die anderthalb Kilometer zum Verlagsgebäude zurückzulegen, ohne einmal hinzufallen. Nur auf der breiten Treppe, die zum Haupteingang emporführte, geriet er einmal ins Straucheln. Er konnte sich jedoch gerade noch rechtzeitig am Geländer festhalten und gelangte so unbeschadet ins Innere.

Die Redaktionsräume lagen im ersten Stock und Max war ganz schön aus der Puste, als er oben ankam. Wie durch ein Wunder standen die Türen zum Sitzungssaal offen. Sein Chef, Alfons T. Vanderbilt, hatte die Eigenart, sie nach einer festgesetzten Frist zu schließen, mochten die Redakteure nun anwesend sein oder nicht. Wer zu spät kam, musste draußen bleiben und durfte ein paar Tage später mit einer Abmahnung rechnen. Dreimaliges Zuspätkommen führte zur sofortigen Kündigung, mochte man auch noch so gute Gründe für die Verspätung haben.

Heute jedoch war das anders. Max bemerkte die gebeugte Gestalt von Vanderbilts Leibdiener Aloisius Winkelman, doch dieser machte keine Anstalten, die Tür zu schließen.

Das war seltsam.

Bekümmert dreinblickend stand der Kalfaktor neben dem Eingang und polierte die Klinken. Als Max an ihm vorbei in den Konferenzsaal ging, gab er ein enttäuschtes Hüsteln von sich, dann schloss er die Türen.

Es war siebzehn Minuten nach fünf.

Vanderbilt stand am Fenster und blickte hinaus auf das verschneite New York. Sein massiger Körper und sein kugelrunder, kahler Kopf erinnerten Max jedes Mal an ein riesiges Baby, das man in einen Anzug gestopft hatte, doch das war nur ein flüchtiger Eindruck. Man tat gut daran, den Firmengründer nicht zu unterschätzen. Er war bekannt für sein cholerisches Temperament. In dem Moment, als Max den Saal betrat, fuhr er herum und blickte ihn über den Rand seiner goldenen Nickelbrille hinweg an. »Da sind Sie ja endlich, Pepper«, sagte er und sein Doppelkinn schwabbelte vorwurfsvoll. »Sie sind spät dran.«

Max schlich an seinen Platz und stellte die Aktentasche ab. Die Schweinsäuglein verfolgten jede seiner Bewegungen.

»Was soll ich bloß mit Ihnen machen?«

Max überlegte kurz, ob er von dem Unfall erzählen sollte, schwieg dann aber. Ausreden zählten nicht. Um Vanderbilts wulstige Lippen spielte ein Lächeln. »Vielleicht haben Sie ja eine Idee, Mr Boswell.«

Max blickte überrascht nach links. Für einen Moment hatte er gedacht, er wäre der Einzige, doch jetzt erkannte er, dass das nicht stimmte. Ein Mann stand im Schatten eines langen Regals und war, wie es schien, in ein Buch vertieft. Auf Vanderbilts Ruf hin stellte er es zurück und kam auf sie zu.

Graues Haar, grauer Bart, eine abgewetzte Cordjacke und blaue Nietenhosen. In dem von vielen Lachfältchen zerfurchten Gesicht leuchteten ein Paar strahlend blaue Augen.

»Hallo, Max.«

Max hob überrascht die Brauen. »Harry?«

»Worauf du einen lassen kannst.« Der Mann trat auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. Max fiel ein Stein vom Herzen. Harry Boswell war Fotograf und außerdem sein Freund. Einer der besten in seinem Job. Max war mit ihm bereits in Südamerika gewesen, hatte ihn aber seit einiger Zeit nicht gesehen. Ein Auftrag in Neufundland, wenn er richtig informiert war.

Boswell klopfte Max auf die Schulter. »Na, du altes Haus? Wie geht es dir? Immer noch treu sorgendes Familienoberhaupt?«

»Das wird immer so bleiben«, lachte Max. »Familienvater ist kein Job, den man so einfach an den Nagel hängen kann.«

»Deshalb habe ich mir nie Frau und Kinder angeschafft.«

»Du weißt nicht, was du verpasst. Ich dachte, du wärst noch im Norden. Wann bist du zurückgekommen?«

»Gestern Abend«, erwiderte Boswell. »Mit dem Postschiff. Eine ziemlich holprige Fahrt. Aber wenn unser Chef mich ruft, bin ich natürlich zur Stelle.«

Vanderbilt lächelte und streckte die Hand aus. »Nehmen Sie Platz.«

»Darf ich rauchen?«, fragte Boswell.

»Aber ja. Stecken Sie sich ruhig eine an.«

Max strich über seinen Schnurrbart. Er konnte sich nicht erinnern, seinen Chef jemals so aufgeräumt und umgänglich erlebt zu haben. Vanderbilt war sehr freundlich. Zu freundlich, um genau zu sein.

Argwöhnisch beobachtete Max, wie der Firmengründer ans Fenster trat und damit begann, die Vorhänge zuzuziehen. Als er fertig war, schritt er zum Kopfende des Tisches, wo ein großer Holzkasten stand. Er thronte auf einem dreibeinigen Stativ und hatte vorn einen Tubus, der wie ein Kanonenrohr aus dem Holzkasten lugte. In der Öffnung schimmerte eine gläserne Linse. Mit einem Mal schoss ein blendend helles Licht daraus hervor. An der Wand erschien das Abbild eines Mannes, das riesig und leuchtend über die Wand waberte. Boswell stieß einen überraschten Laut aus. Max rutschte unwillkürlich einen Meter zurück.

»Seien Sie nicht alarmiert, meine Herren.« Vanderbilt lächelte. Er schien mit dem Ergebnis seiner Demonstration durchaus zufrieden. »Das ist nur eine fotografische Projektion. Etwas ganz Neues auf dem Gebiet der Fotografie.«

Max hatte trotz Vanderbilts Erklärung den Eindruck, das Bild würde sich bewegen. Vielleicht lag es am Rauch, der von Boswells Zigarre aufstieg. Zu sehen war ein korpulenter Mann mit markanten breiten Wangenknochen und zusammengebundenen Haaren. Er trug eine Art Uniform, zu der lackierte Stiefel und ein wertvoll aussehender Degen gehörten.

»Das, meine Herren, ist Sir Jabez Wilson, ein guter Freund von mir. Das Bild wurde vor zwei Jahren gemacht, anlässlich seiner Erhebung in den Adelsstand. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört.«

Boswell zog an seiner Zigarre und stieß eine Qualmwolke in die Luft. »Wilson? Der Meteoritenjäger?«

»Ganz recht.« Vanderbilt ging nach vorn, wobei sein Körper einen riesigen Schatten an die Wand warf.

»Jabez ist eine bekannte Persönlichkeit drüben in England. Ein fabelhafter Kerl, der weiß, wie man die Presse zu behandeln hat. Ich helfe ihm gelegentlich, indem ich dafür sorge, dass sein Name regelmäßig in den Zeitungen auftaucht, er beliefert mich dafür mit guten Storys. Jabez ist ein Teufelskerl, er weiß, wie das Geschäft läuft.« Vanderbilt schnäuzte sich ausgiebig, dann steckte er das Taschentuch wieder ein.

»Vor zwei Tagen erhielt ich ein Telegramm von ihm. Er plant eine neue Expedition. Eine abenteuerliche und sehr gefährliche Unternehmung, wie er sagte. Er erzählte mir alles darüber und ich war sofort Feuer und Flamme. Und als er fragte, ob ich ihm dafür zwei gute Reporter empfehlen könne, dachte ich sofort an Sie beide.« Er lächelte verschwörerisch.

Max schluckte. Nicht schon wieder.

Was war nur an ihm, dass Vanderbilt ihn immer zu solchen Himmelfahrtsunternehmen abkommandierte? Sah er etwa aus wie ein Draufgänger? Er hatte einen guten Job, bezog ein regelmäßiges Einkommen und war sozial abgesichert. Nichts Aufregendes, aber manch einer beneidete ihn darum.

»Und wohin soll die Reise gehen?«, fragte er vorsichtig.

Vanderbilt lachte. »Pepper, Sie überraschen mich. Ich erinnere mich noch gut, was für eine Szene Sie mir letztes Mal gemacht haben, als ich Sie nach Südamerika geschickt habe. Heute schreien Sie nicht gleich Nein, sondern holen wenigstens vorher ein paar Erkundigungen ein. Aus Ihnen wird noch ein richtiger Abenteurer.« Er ging zurück zum Projektionsgerät und legte eine weitere Aufnahme ein. Diesmal erschien eine Landkarte. Eine Region irgendwo in Nordafrika. Vanderbilt schnappte seinen Zeigestock und umkreiste eine Region von mehreren Tausend Quadratkilometern. »Das ist die Sahel, eine der dürrsten Regionen der Erde«, sagte er. »Sie grenzt im Süden an die Sahara und erstreckt sich vom Atlantik bis zum Roten Meer. Nichts als Wüsten, Halbwüsten und Savannen. Hier im Westen liegt Französisch-Sudan. Jabez berichtete mir, dass er dort einem besonders spektakulären Fund nachgehen will. Ich möchte, dass Sie ihn begleiten und alles dokumentieren. Je spannender und dramatischer, umso besser.« Er deutete auf die beiden Reporter. »Sie, Harry, sind für die Fotos zuständig, und Sie, Max, sorgen für das Schriftliche. Ich wünsche Fotos, Zeichnungen, Erlebnisberichte, das komplette Programm.«

Boswell hob den Kopf. »Soll es ein Einzelartikel werden oder eine Reihe?«

»Viel besser: Es wird ein Buch.« Vanderbilt schaltete den Projektor ab und zog die Vorhänge zurück. »Jabez und ich haben schon vor langer Zeit davon gesprochen, ein solches Werk herauszugeben, uns hat nur das geeignete Sujet gefehlt. Diese Reise dürfte sehr aufregend werden und ist daher bestens dafür geeignet. Abgesehen davon, werden Sie alle an den Einkünften beteiligt.« Er warf den beiden einen vielsagenden Blick zu. »Was Ihre Sicherheit betrifft, so können Sie ganz unbesorgt sein. Sie sind in den besten Händen. Jabez reist immer mit einer bewaffneten Eskorte.«

Max schluckte. »Wann soll es losgehen?«

»Ich habe auf der Campania zwei Kabinen für Sie reservieren lassen. Die Überfahrt nach London startet morgen früh und dauert sechs Tage. Melden Sie sich bei Sir Wilsons Assistent in der Königlich Astronomischen Gesellschaft, alles Weitere erfahren Sie vor Ort.« Er schob ihnen zwei prall gefüllte Kuverts über den Tisch. »Tickets, Geld, Visa und Empfehlungsschreiben. Alles, was Sie brauchen. Verlieren Sie sie nicht.« Er stand auf und verabschiedete die beiden Männer mit einem warmen Händedruck. »Viel Glück, meine Herren, und kommen Sie mit einer guten Story zurück.«

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9783948093358
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