Читать книгу: «Morgenroths Haus», страница 2

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Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Die Schaufenster wurden kleiner: Ein Schuster, ein Schneider und die Leuchtschrift des Messerschmiedes Dörfer in dritter Generation.

„Da drüben ist es!“, sagte Fritz feierlich.

Martin war ein bisschen enttäuscht. Von außen machte das Haus nicht viel her: Kleine Fenster, vor denen blaue Gardinen hingen, eine schwach beleuchtete Tür und ringsum keine Menschenseele.

„Wir sind noch etwas früh dran!“, sagte Fritz. „Erst ab zehn geht es so richtig los. Aber wir können schon unsere Karten holen.“

Sie schritten forsch in die Empfangshalle. Auf dem Teppichboden konnte man allerlei Badeszenen beobachten. Martin lief gedämpften Schrittes auf den Bildern nackter Damen und Herren herum. Fritz kümmerte sich inzwischen um das Geschäftliche.

„Die Herren wünschen sich zu amüsieren?“, fragte eine Dame in die Untiefen ihres Dekolleté hinein.

„Jawohl“, sagte Fritz Teumer, der Leichtmatrose und hinterlegte das geforderte Geld. Nun bekam er eine Karte mit Bändchen an der Seite.

„Und was ist mit dem verträumten Jüngling dort?“, fragte die Dame.

„Ein Anfänger, mit Verlaub!“, sagte Fritz. „Geld hat er kaum, aber mit dieser kleinen Kostbarkeit wird es schon gehen, nicht wahr?“ Die Dame nahm das Kistchen Pepe in die Hand und prüfte das Gewicht.

„Ihr Kerle habt doch keine Bambushölzchen drin?“

„Wo denken Sie hin!“

„Man erlebt hier so manches, mein Lieber. Ich habe schon eine vollständig versiegelte Flasche Champagner entgegengenommen, in der nichts als Seifenwasser war. Nun gut, der Kleine muss es sowieso mit seiner Erwählten selbst aushandeln. Gib ihm die Kiste zurück!“, sagte die Vollbusige und händigte die zweite Karte aus.

„Junge, das sind doch nur Bilder!“, sagte Fritz zu seinem in den Fußboden versunkenen Freund. „Das kommt alles noch viel besser. Hier, nimm!“

Und so kam das Zigarrenkistchen Pepe in den Genuss, das erlesenste Freudenhaus der Freien und Hansestadt Hamburg kennen zu lernen. Es schritt mit dem verklärten Martin durch den Saal. Dort saßen allerlei elegant gekleidete Herren und rauchten Pfeife oder lange Zigaretten. Auch ins Casino schlenderte Fritz mit seinem Freund, wo die Großkopfer, wie er sagte, ihr Geld verspielten. Die Herren saßen an einem riesigen Tisch und starrten so fiebrig auf den Lauf der Kugel, als ob ihr Schicksal davon abhinge.

„Der Reeder Emsmussen hat hier im Laufe der Zeit seine neun Schiffe verloren und sich dann im Stadtpark aufgeknüpft. Spielen ist noch schlimmer als Saufen. Lass am besten von beidem die Finger!“

Wir sehen bewundernd: Fritz Teumer war seinem jugendlichen Gefährten ein wirklich guter Freund. Er bemühte sich, ihn vor dem Schlimmen zu bewahren und zum Schönen zu verführen.

Das Schöne war freilich noch nicht da. Es war gerade mal acht und die Damen marschierten erst Punkt Zehn in einer langen Parade ein. Aber die so genannten Badenixen arbeiteten schon. Gegen ein kleines Trinkgeld massierten sie sogar die müden Schultern und Rücken. Sie trugen hochgeschlossene Kleider und ließen sich auf keinerlei Wünsche eines verfrühten, durch Baddämpfe und eigene Nacktheit erwachten Begehrens ein. Im Badesaal war um diese Zeit noch wenig los. Martin hatte zunächst Probleme mit dem Entkleiden, denn es bestand noch eine beträchtliche Unausgewogenheit zwischen seinem männlichen Sehnen und seiner kindliche Scham.

„Das erste Mal?“, fragte eine Frau, die schon jenseits der mittleren Jahre war.

„Ja, sozusagen.“

„Delegiert?“, fragte sie.

„Bitte?“

„Ob du vom Vater geschickt worden bist, Kleiner?“

„Ich habe keinen Vater.“

„Ach so, weißt du, die vermögenden Väter schicken ihre Söhne gern zu uns. Sie sollen das Handwerk von Professionellen lernen. Und nun setz dich da rein! Es dampft zwar ordentlich, aber du wirst dich nicht verbrühen.“

Martin ließ sich in das Schaumbad fallen. Es war wunderbar. Nicht weit von ihm sang Fritz Teumer aus vollem Halse die Hymne der Bayern, die noch vor wenigen Tagen der gerührte Alois unter allerlei Tränen gehört hatte, bevor er gemeuchelt auf den Meeresgrund sank, wo er das Gebirg’ nun endgültig nicht mehr sehen wird.

„Na, wie ist es?“, rief Fritz, als er seinen Gesang beendet hatte.

„Wunderbar“, erwiderte Martin aus dem Schaum heraus, „aber sie hat meine Sachen fortgetragen.“

Fritz lachte: „Die bekommst du schon zurück. Nach der Wanne geben sie einem immer Bademäntel. Die muss man sich später, wenn die Bescherung kommt, nicht einmal selbst ausziehen.“ Martin verspürte wieder dieses flaue Gefühl in der Magengegend. Man konnte sich furchtbar blamieren bei diesen Dingen.

„Hier Kleiner, ich leg alles auf den Stuhl“, sagte die Badedame.

„Deine Zigarren stehen auch dabei. Du lässt sie wohl niemals aus dem Auge?“

„Ich brauche sie zum Bezahlen!“

„Das dachte ich mir. Mach’ sie nicht nass, sonst gehst du heute Abend leer aus!“

Das Zigarrenkistchen Pepe hörte die Bewegungen des Wassers, das Singen des Leichtmatrosen, der nun zu frivolen Seemannsliedern überging, und das Lachen der beiden Damen, die etwas abseits saßen. Irgendwann brachten sie den Herren große Handtücher, massierten sie mit einem Duftöl, das die Atmung beschleunigte, und gaben ihnen lange, weiße Bademäntel mit tiefen Taschen, in die nun das Zigarrenkistchen Pepe wanderte. Es ging auf halb Zehn, und die ersten Herren aus dem Billardzimmer trafen ein. Sie schauten etwas abschätzig auf Fritz und Martin in ihren sorgfältig geschlossenen Morgenmänteln und setzten sich auf die andere Seite.

„Saupack, elendes!“, knurrte Fritz und verbat sich, auszuspucken.

„Wenn du einmal reich wirst, Kleiner, dann bleib immer auf deinem Korridor. Mach’ es nicht so wie die da drüben!“

Jetzt traten die ersten Tänzerinnen auf. Sie warfen die Beine in die Höhe und bückten sich rittlings, die Röcke über den Rücken nach oben schleudernd.

„Das sind nur die Anheizerinnen!“, sagte Fritz.

Die Herren aus dem Spielcasino trafen ein, sofern sie nicht, vom Spiel berauscht, die ganze Nacht hocken blieben. Die Kapelle spielte einen Tusch, die Tänzerinnen verschwanden und nun war es kurze Zeit still. Nur die Ungezogensten riefen Unflätiges, wurden aber sogleich ermahnt. Es war ein bisschen wie Weihnachten im bürgerlichen Heim: Die Spannung riss an der Stille, die Erwartung machte das Atmen schwer. Die weiße Garde in ihren Bademänteln, fast alle von irgendeinem stolzen Schiff im Hamburger Hafen ausgespuckt, verknotete die Hände, bis sie weiß wurden. Amor, der Geiger, fiedelte mancherlei jauchzenden Ton und endlich, endlich zogen die Damen ein. Jetzt begannen die Bravorufe, die Pfiffe und das Gejohle. Einige klatschten, andere hatten die Hände nicht frei. Die Herrlichkeiten betraten die Bühne, eine nach der anderen, bis sie in einer langen Reihe standen und hinabwinkten. Alle trugen hohes Schuhwerk, das die Beine noch mehr streckte, die ja ohnehin bis zu den Bäuchen langten. Einige verrauschten sich in durchsichtigen Strümpfen, die auf halber Höhe der Oberschenkel endeten.

Die nackten Hälse zeigten wie Finger nach unten, wo die Brüste durch aufgeklebte Goldsterne mehr verziert als verdeckt wurden.

„Kruzitürkennochemol!“, rief Fritz Teumer im Dialekt des verblichenen Alois. „Hat sich die ganze Schinderei doch wieder gelohnt!“ Martin, unser Schiffsjunge mit Pepe in der Tasche, bestaunte die Bäuche der Damen, auf die man Zahlen gemalt hatte. Von der 1 bis zur 42 war mancherlei zu sehen: ganz Schlanke fast ohne Wölbung, richtig Fette, deren Wülste überhingen, und natürlich auch die dazwischen, denen das Schicksal die göttliche Idealziffernkombination geschenkt hatte.

„Siehst du die 17?“, flüsterte Fritz. „Das ist Helene. Die hatte ich beim letzten Mal. Ein bisschen albern, aber sehr eifrig, Die könnt ich dir empfehlen.“

Die ersten Herren riefen ihre Nummern. Hier musste man schnell sein. Die Nummer 21 beispielsweise war sofort weg. Ein blondes Traumweib mit Beinen, die bis zum Himmel gereicht hätten, wären sie nicht von anderem aufgehalten worden. Auch die 9 hatte keine Not, sich zu verdingen. Ein reiferer Herr mit Monokel zog mit ihr davon.

„Die wird nicht viel Freud’ haben mit dem Gockel da!“, sagte Fritz ärgerlich. Er hätte die 9 auch gern gehabt. Jetzt nahm er halt die 12, schwarzhaarig, voll in den Hüften und oben herum das Gebirg’ des verstummten Alois.

„Du musst dich ranhalten, mein Junge“, sagte Fritz im Gehen, „am Ende stehen nur noch die Ladenhüter im Schaufenster.“

Aber Martin hockte trockenen Mundes wie festgeklebt auf seinem Stuhl. Er hatte ein zartes Mädchen mit wunderschönen Augen entdeckt, kaum älter als er selbst. Auf der Bühne standen nur noch siebzehn Damen. Martin fürchtete bei jedem weiteren Ruf, nun werde Nummer 31 wohl erwählt. Aber sie blieb stehen, und endlich gab sich Martin einen kräftigen Stoß, rief, so laut es ihm sein kratziger Hals erlaubte: „Einunddreißig.“

Da erschrak die Schönäugige ganz entsetzlich. Sie sah mit ihren flehenden Augen zu ihm hin. Aber er war schon aufgestanden, um sie zu holen, seinen Preis des Abends. Und so ging sie mit ihm. Auch das Zimmer, in dem sie verschwanden, war die 31. Es gab ein breites Bett darin, ein Tischchen mit Gebäck und Wein, einen Kleiderständer und die gedämpfte Lampe. Martin setzte sich.

„Es tut mir leid“, sagte er, „ich bin zum ersten Mal hier und kenne die Gepflogenheiten nicht. In Wahrheit war ich überhaupt noch nie mit einer Frau zusammen. Mir fehlt die Erfahrung in diesen Dingen.“

Jetzt erst wagte er aufzublicken.

„Mir auch“, sagte die Zarte leise.

„Aber Sie sind doch hier angestellt!“, sagte Martin verwundert.

„Ja, seit Montag, aber es hat mich nie jemand genommen, und mir wars recht so.“

Martin blickte auf, sah ganz tief in die braunen Pupillen hinein und verliebte sich zum ersten Mal in seinem jungen Leben gleich dermaßen heftig, dass ihm ganz schwindlig wurde. Er nahm die Decke und legte sie dem Mädchen um die Schultern. Jetzt war ihr kleiner Sternenbusen ebenso bedeckt wie die schlanken Beine. Martin griff verlegen in die Tasche, wo er auf Pepe, das Kistchen stieß, einen Voyeur wider Willen.

„Das habe ich als Bezahlung mitgebracht“, sagte er. „Rauchen Sie?“ Sie lachte: „Auch darin bin ich noch unschuldig. Bei uns im Heim war es streng verboten.“

Plötzlich sah der Schiffsjunge Martin das Waisenheim „Theodor Fontane“ wieder vor sich und wurde hellhörig.

„Sie waren auch im Kinderknast?“

„Ja, sozusagen.“

„Dann verbindet uns ja doch etwas. Im übrigen bin ich Martin Winter, der Schiffsjunge.“

„Angenehm“, sagte sie, „Irene Friedenthal. Verhinderte Prostituierte.“

Sie sahen sich lachend in die Augen, und plötzlich begann in Zimmer 31 ein langes, bitteres und doch unerhört vertrautes Fragen und Antworten, Kichern und Schluchzen und vor allem ein heißes Verlieben in den gequälten Herzen. Als die zwei Stunden verstrichen waren und draußen der Gong ertönte, da saß das Mädchen Irene noch immer dicht bei dem Schiffsjungen Martin, in die Decke gehüllt, jungfräulich beide nach wie vor, aber glücklicher als alle anderen in diesem freudenreichen Haus. Pepe hatte mancherlei gehört, aber wenig gesehen und wars zufrieden. Was interessiert sich ein Zigarrenkistchen auch für die fleischlichen Dinge?

Fritz Teumer, der selige Leichtmatrose, hockte schon fertig angezogen da, als Martin mit der schönäugigen Irene kam.

„Aber Kumpel“, sagte Fritz, „du darfst die Dame des Abends doch nicht einfach mitnehmen. Wo denkst du hin?“

„Mach ich aber“, sagte Martin übermütig, „und vielen Dank für alles!“

Fritz sah ihn entgeistert an: „Die Lust hat dich doch nicht zum Narren gemacht, mein Freund?“

„Wenn schon, dann die Liebe!“, erwiderte Martin, seine Irene fest im Arm haltend.

„Hast du denn nicht ...“

„Nein, wir mussten einfach zu viel reden.“

„Und die Zigarren?“

„Die sind noch da“, sagte Martin.

Nun wurde Pepe mitten im Hamburger Nobelbordell geöffnet, denn man findet hier genügend Abnehmer für brasilianische Zigarren.

Bis auf eine einzige wurde Pepe leer gekauft und das verliebte Paar beschloss nun in seinem fröhlichen Übermut zu verreisen. Am Bahnhof las man einander allerlei mögliche Ziele laut vor: Hameln, Querfurt, Rothenstein. Aber am verheißungsvollsten klang Sonneberg in Thüringen. Als Martin zum Fahrkartenschalter ging, erklärte man ihm dort, dass sein Geld nicht bis Sonneberg reichte. Man könne auf dieser Strecke allenfalls bis Themar kommen.

Das klang zwar vom Namen her nicht so schön, wie es dann in Wirklichkeit war, aber die beiden Hochverliebten waren in so ausgelassener Stimmung, dass sie nun eine Fahrkarte von Hamburg nach Themar lösten. Martin bestaunte die riesige Dampflok ausgiebig und plauderte mit Lokführer Ludwig. Am Ende stellten beide erfreut fest, dass die Bahn einen unbestreitbaren Vorteil hat: Sie kann nämlich niemals untergehen.

Die zarte Irene, die vollständig angezogen viel bezaubernder aussah als unter ihren Goldsternen, schenkte dem Lokführer Ludwig die letzte Brasil, so dass unser Kistchen Pepe nun leer, aber durchaus sehr erleichtert war.

Auf der langen Fahrt mit mehrmaligem Umsteigen schmiegten sich die beiden Liebenden aneinander. Die schöne Irene legte ihren Lockenkopf auf Martins Schoß. Im benachbarten Abteil der dritten Klasse führte eine Bäuerin zwei Gänse in einem Käfig mit sich. Das Federvieh machte einen so entsetzlichen Lärm, dass Martin seine großen Hände über die Ohren der Liebsten legte, ihren Schlaf zu behüten. Er wusste schon damals, dass er sie beschützen musste – ihr ganzes Leben lang. Allerdings ahnte er noch nicht, wie nötig sie seine großen Hände einmal haben würde. Irene war nämlich Halbjüdin von Geburt, und es kamen bald die Jahre ganz anderer goldener Sterne in ihrem Leben. Sie wurden auf die Jacke genäht und bedeuteten das sichere Todesurteil. So fuhr Martin schließlich im Jahre 1937 noch einmal mit dem Schiff, und zwar mit Irene und den Kindern nach Amerika. All seine Ersparnisse langten nicht, aber es gab Menschen mit offenen Händen im kleinen Themar, den Schnitzer und den Geschäftsinhaber eines gewissen Kaufladens.

Aber so weit sind wir noch nicht.

Irene schlief noch, beschützt von einem Liebsten, den sie auf höchst ungewöhnliche Weise kennen gelernt hatte. Die Gänse stiegen jetzt aus und ein Offizier ein. Er schaute das Paar durch seinen Feldstecher hindurch an und eine kleine Sehnsucht regte sich in ihm. Aber seine Seele war bei Verdun gestorben und lag verschüttet in einem der eingestürzten Schützengräben.

Auch Martin war nun eingeschlafen. Das Kistchen Pepe stand neben ihm, leer an Zigarren, aber reich an Erfahrungen eines kurzen und doch ereignisreichen Lebens.

Der Zug rumpelte dahin. Manchmal pfiff die Lok laut auf. Ein andermal hörte man die Bahnschranken klirren. Im Ozean sank gerade das letzte Zigarrenkistchen, durch eine freundliche Strömung bisher immer in Bewegung gehalten, auf den Meeresboden hinab, wo schon Alois, der Bayer, und fünfzehn Leichtmatrosen ruhten. Nur den Schiffskoch hatten die Piraten mitgenommen, denn ihr Fraß war bisher schauerlich, und das rettete ihm das Leben.

In Erfurt stiegen Irene und Martin zum vorletzten Mal um. Irene streichelte Pepe ganz zart: „Mein Glückskistchen!“, sagte sie leise.

Die beiden Liebsten hatten noch niemals einen Tunnel passiert. Nun stürzten sie plötzlich in Finsternis, erschraken, hielten sich aneinander und lachten, als es wieder hell wurde.

Und so kamen sie schließlich in Themar an, ein leeres Zigarrenkistchen im Gepäck. Als sie vom Bahnhof aus Richtung Kirche gingen, da standen sie plötzlich vor Morgenroths Haus. Pepe entdeckte in der Auslage einen Bruder, das Zigarrenkistchen Rio, das schon vor einem halben Jahr angekommen war.

„Ich habe noch drei Pfennige“, sagte Irene, „wir wollen sehen, was wir dafür bekommen können.“

Im Laden standen zwei Männer in sägemehlweißen Latzhosen. Sie drehten sich natürlich um, denn die Liebe kommt auch hier nicht jeden Tag so fröhlich hereinspaziert. Die eifrige Frau Morgenroth fragte nach dem Begehr und Irene legt das letzte Geld auf den Ladentisch.

„Ich hab da auch noch ein leeres Zigarrenkistchen“, sagte Martin.

„Hm“, murmelte Frau Morgenroth „nun gut. Als Behältnis immer willkommen.“

Sie kochte Kaffee, belegte einige Brote mit Wurst und schaute zufrieden, als die beiden aßen. Dann holte sie den Kuchen vom Sonntag und Martin aß ihn ganz allein auf, denn Irene war immer viel zu schnell satt. Als die beiden schließlich hinter einem der Arbeiter herzogen, weil er ein Zimmer für sie hatte und Arbeit für den kräftigen Martin, blieb das Zigarrenkistchen Pepe endgültig zurück. Aber wenn Irene später in Morgenroths Haus kam, um einzukaufen, dann warf sie stets einen dankbaren Blick auf Pepe.

Als sie im Jahr 1937 mit der Bahn nach Hamburg zurückreisen und nach Amerika auswandern mussten, weil es Martin glücklicherweise so wollte, sagte Irene zu den traurigen Morgenroths:

„Ich komme wieder. Hebt mir den Kleinen auf!“

Und die tüchtigen Ladeninhaber nickten, allerhand Tränen in den Augen. Es war nach der kalten Nacht der Kristalle, als der Mob sich austobte und mit Lust brandschatzte. Der kluge Martin, einst Schiffsjunge und verhinderter Liebhaber, erkannte die Unheilszeichen der Zeit und handelte. Diesmal hatten sie den treuen Pepe nicht im Gepäck, aber sie hatten einander, die Kinder und allerlei Erinnerungen, die eine Rückkehr versprachen. In Themar wartete eine Tischlerei, ein Kaufmannsladen und eine gut gehütete Zigarrenkiste, die der dreijährige Kaufmannssohn Arnd Morgenroth im Jahre 1945 zum ersten Mal ganz bewusst wahrnahm. Dass er daraufhin sofort „Pepe“ sagte, ist nur ein Gerücht, aber ein sehr liebenswertes.

Irene, Martin und die Kinder Johanne, Annemarie und (wir erinnern uns, aus welchem Grunde:) Fritz kehrten im Jahre 1952 zurück nach Themar und zu Pepe, dem alten hölzernen Kameraden in Morgenroths Haus.

Warum? Weil diese Geschichte einen guten Schluss haben muss. Basta und Pepe!

Mannsbilder im Freibad

Schaut euch das mal an“, sagte Ulli, „fünfzig laufende Meter Unterwäsche.“

Frank pfiff ordentlich durch die Zähne, denn fünfzig laufende Meter Unterhosen, Seidenstrümpfe und manches mehr auf einer Wäscheleine unweit der Ladestraße, das ist schon was. Selbst wenn es eigentlich nur zwölf Meter waren.

„Und wo sind die BHs?“, fragte ich.

„Die hängt sie nicht raus! Die müssen auf dem Dachboden trocknen.“

„Aber bei der Tochter des Bürgermeisters nicht.“

„Nein“, sagte Frank, „bei der hängen sie zwischen den Obstbäumen.“

Die Tochter des Bürgermeisters hieß Ellen und war das unerreichbare Ziel unserer verfrühten Männersehnsüchte. Sie hatte alles, was man sich mit zwölf Jahren erträumt.

„Ich hab sie schon mal fast nackt gesehen“, sagte ich.

„Ja, ja, die Geschichte kennen wir schon.“

„Sie hatte ja noch was an!“, maulte Andreas.

„Nur ein rotes Höschen und einen Büstenhalter.“

„Toller Erfolg, echt!“, spottete Ulli.

So ging das oft. Wir drangen nur bis in den Vorhof all der Geheimnisse, die sich mit den großen Damen verbanden. Frauen waren rätselhafte Fabelwesen, was ihre Körper betraf, Sirenen, die unentwegt lockten und dennoch keinerlei Erfüllung schenkten.

Auch die Mädchen in unsere Klasse waren zum Teil um Lichtjahre weiter und lachten uns aus, wenn wir beim Umziehen schief auf ihre Bäuche starrten. Sie schwärmten für Kerle aus der neunten oder zehnten Klasse, nicht für uns. Und wir berauschten uns an der drallen Tochter des Bürgermeisters, außerdem an Marion, die in käuflichem Ruf stand, und an Sebastians Mutter, Mitte dreißig schon, aber mit dem Körper einer Göttin gesegnet. Der Schöpfer hatte die Welt mit allerlei Reizvollem ausgestattet, unter anderem auch mit Lippen, Augenwimpern und Wölbungen unter engen Pullovern, die mehr versprachen als die Gleichberge bei Römhild. Die ganz Kecken unter uns behaupteten, alles schon zu wissen. Das waren die schlimmsten Lügenbolde.

„Die Marion machts mit den Kerlen für Geld“, meinte Ulli mit einem leichten Schaudern in der Stimme.

„Ja, das sagt man“, nickte Frank.

„Wir könnten sie ja mal fragen“, sagte ich.

Andreas war dagegen. Er war ja auch noch ein bisschen jünger als wir.

„Man muss doch nur bis zur siebenten Klasse warten. Dann kommt das in Bio dran!“, sagte er trotzig.

„Das geht doch nicht theoretisch.“

„Wieso nicht?“

„Weil mans machen muss, sonst hat es keinen Zweck.“

„Mein Bruder sagt, man muss dabei an Urlaub denken“, sagte Frank.

„Quatsch!“

„Doch, an Palmen oder so was eben. Sonst geht es nicht.“

„Große Brüder lügen bei solchen Themen immer“, behauptete Ulli.

„Die tun wer weiß wie und dann haben sie noch gar keine Frau gehabt.“

„Also, stimmen wir ab!“, sagte ich ungeduldig. „Wer ist dafür, dass wir Marion fragen? Wir können doch unser Taschengeld zusammenlegen, und wenn es nur für einen langt, dann gucken die anderen halt zu.“

Andreas war dagegen, Ulli wollte nur zuschauen. Also mussten Frank und ich es ausknobeln. Es erwischte natürlich wieder mich. Ich hatte ja auch den Mund zu voll genommen.

„Gut, und jetzt?“, fragte Frank.

„Jetzt bringen wir uns erst einmal in Stimmung!“, sagte ich.

„Was soll das denn nun wieder werden?“, fragte Andreas.

„Wir gehen ins Waldbad und schauen durch die Löcher in die Umkleidekabinen!“

„Das letzte Mal hast du uns den nackten Hintern unseres Mathematiklehrers gezeigt.“

„Gut, das war halt Pech. Diesmal klappt es besser.“

Wir liefen also in einem großen Bogen von hinten an das Themarer Waldbad heran. Dort, wo der Zaun am niedrigsten war, kletterten wir drüber und schlenderten auffällig sorglos über die große Liegewiese.

„Guck mal, die Brigitte!“ hauchte Ulli aufgeregt.

Tatsächlich, da lag die schöne Schlanke aus der neunten Klasse, ein Traumweib mit Beinen, so lang wie die heißen Gedanken daran.

„Sie liegt auf dem Bauch und der Rücken ist frei!“, stammelte nun sogar Andreas.

„Wenn die sich jetzt umdreht!“

Sie drehte sich aber nicht um. Die aufregende Brigitte las gerade in einer Romanzeitung und lag rückenfrei vor uns.

„Was glotzt ihr denn so?“, fragte sie unvermittelt, ohne auch nur einmal von ihrer Lektüre aufzublicken.

„Wir wollten nur ...“, stotterte Frank, aber es fiel ihm nichts ein.

„Macht die Mücke, Babys!“, sagte sie in hartem Befehlston, und wir gehorchten natürlich.

„Die spinnt wohl. So spricht man nicht mit einem Mann!“, sagte Ulli, als wir in sicherer Entfernung waren.

„Nee, mit einem Mann nicht“, spottete Andreas, „aber mit uns schon.“

„Du hast genauso hingeglotzt!“, maulte Frank.

„Hab ich nicht!“, behauptete Andreas.

Immerhin, es war ein richtiger Festtag für uns. Auf der linken Seite lag nämlich die Schwarzhaarige aus der Eisdiele, Waltraut, die Weiche. Ein bisschen zu füllig, aber immer an den richtigen Stellen.

„He, die Waldi ist auch da!“, sagte Frank.

„Ja, schon!“, erwiderte ich. „Aber wenn alle hier draußen rumliegen, dann kann ja nur noch der Magerquark in den Kabinen sein.“ Das war unser Wort für die Kleinen und Dürren, an denen man überhaupt keine vernünftigen Sichtstudien betreiben konnte.

„Jetzt sind wir einmal hier, da versuchen wir es auch!“, sagte Ulli.

„Klar“, meinte Frank, „wir verteilen uns. Wer einen Treffer hat, gibt Zeichen.“

Es war gar nicht so einfach, im Freibad einen Treffer zu landen. Es zogen sich ja nicht alle Damen gleichzeitig um, und die Auserwählten schon gar nicht. Man musste viel Glück haben.

Wir verteilten uns und schlichen von hinten an die Holzkabinen heran. Ulli hatte wieder Pech. Seine war leer. Andreas durfte den Bauch eines Klempners aus Reurieth bewundern, aber Frank hob den Daumen, während ich gerade vorsichtig mein rechtes Auge an einen ordentlich breiten Spalt legte. Man musste nämlich höllisch aufpassen. Die Damen konnten ausgesprochen brutal zu Werke gehen, wenn sie sich ertappt fühlten. Einmal war der kleine Bodo Binsenstein schreiend auf die Wiese gelaufen, das rechte Auge wild reibend. Ein Mädchen aus der Achten hatte ihm durch das Guckloch Shampoo in die Pupille gespritzt und der Bademeister spülte das Auge lange, bis die Schmerzen nachließen. Binsenstein musste nach Meiningen zum Augenarzt und war noch einige Tage der Dumme in der Schule mit seinem feuerroten Auge.

Frank hatte in seinem Sichtfenster eine halbnackte Mutter mit Kleinkind erwischt und die anderen wollten sie auch mal sehen. Reden durfte keiner, nur Zeichen geben oder Winken.

Ich blieb, wo ich war und spähte durch den Spalt. Als ich mich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, traute ich meinen Augen nicht: Patrizia Weihmann, die Mutter aller unzüchtigen Knabenträume, splitterfasernackt! Ich wollte die anderen herbeiwinken. Sie würden mir nachher sowieso nicht glauben bei all dem, was ich immer erfunden habe. Endlich kam wenigstens der Ulli angerannt und sah durch den Spalt. Ich dachte schon, er würde wieder sein blödes

„Sau, noch mal!“ herausbrüllen, aber er nahm sich glücklicherweise zusammen. Patrizia Weihmann rieb sich mit Sonnenöl ein. Das dauerte glücklicherweise eine ganze Weile. Sie fuhr mit ihren Fingern über alle möglichen Erdteile. Als die anderen endlich begriffen hatten, dass wir nicht schummelten, entbrannte ein mörderischer Kampf um den Durchblick zum Paradies. Selbst Andreas mischte nun mit. Das Ungestüme aber ist in solchen Momenten immer das Falsche. Und dann war es auch schon passiert.

„Saubande, elende!“, schrie Patrizia, die Göttliche, von innen. Dummerweise hatten wir nicht bemerkt, dass auf der anderen Seite Patrizias Beschützer wartete, fast zwei Meter groß und von entsprechenden Kräften. Der kam nun um die Ecke geflitzt. Frank floh nach hinten, Ulli und ich nach links, und so erwischte es Andreas, der wie versteinert stehen blieb. Er musste es nun ausbaden. Wir warteten in sicherer Entfernung. In solchen Fällen gibt es nur eine begrenzte Solidarität. Da muss jeder selbst klarkommen.

Jetzt bog auch noch Patrizia, in knappem Badeanzug, um die Ecke und mischte mit. Dem guten Andreas ging ordentlich die Muffe, das konnte man sehen. Es nutzte ihm jetzt auch nichts mehr, dass er als einziger dagegen gestimmt hatte. Abweichlern geht es irgendwann immer an den Kragen.

„Soll ich ihm die Birne einschlagen?“, fragte der Kerl triumphierend.

„Verdient hätte er’s ja, aber wir wollen gnädig sein. Wir stechen ihm nur die Augen aus“, sagte Patrizia.

Mein Freund Andreas wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Patrizias Liebhaber hatte nämlich tatsächlich ein Taschenmesser. Der Kerl fuhr mit der Klinge vom Bauchnabel bis zum Kinn.

„Wie heißt du?“, fragte er.

„Äh, äh, ich heiße Andreas.“

„So, in Zukunft heißt du blinder Andreas.“

„Aber das können Sie doch nicht machen!“

„So, kann ich nicht?“

Mir reichte es. Ich verließ das Gebüsch, die anderen folgten.

„Du lässt das jetzt!“, rief ich.

„Oh, da sind ja die anderen Spanner!“, sagte Patrizia. „Seid ihr wenigstens auf eure Kosten gekommen?“

„Es tut uns ja leid“, sagte Frank, „aber ein Staatsverbrechen ist das doch nun auch wieder nicht.“

„Nein, aber einen von euch müssen wir schon bestrafen, oder?“

Sie kam auf uns zu. Wir konnten gar nicht hinschauen. Wir hatten noch das andere Bild von ihr im Kopf.

„Es sei denn, ihr befreit ihn irgendwie aus dieser unangenehmen Lage“, sagte sie, dicht vor mir stehend.

„Das machen wir auch“, erwiderte ich kämpferisch. Andreas keuchte noch immer im Würgegriff des Riesen.

„Also, wer von euch Knalltüten hat genug Mut?“

Frank schaute zu Boden, Ulli kaute an seinen Fingernägeln.

„Tja, Kleiner, tolle Freunde hast du!“

Andreas schaute mich kurz an. Jetzt war es klar: Ich musste mich opfern. Sonst brauchte ich gar nicht mehr im ersten Stock Georgstraße 17 an die Tür zu klopfen. Das konnte ich mir dann für alle Zeiten abschminken. Also trat ich vor.

„Ich mach das.“

„Oh, doch ein Held! Na, dann wollen wir mal“, sagte Patrizia mit einem unheildrohenden Lächeln auf den tollen Lippen. „Siehst du die Frau da unten auf dem blauen Handtuch?“

„Die mit der Badekappe?“

„Ja, genau die. Kennst du sie?“

„Nö, nie gesehen.“

„Das ist meine Klassenlehrerin, ein fieses Raff, ein Ausbund an Gemeinheit. Sie hat ihre Lieblinge in der Klasse, die Streber und die Duckmäuser. Alle anderen sind am Arsch. Letzte Woche hat sie mir eine Fünf gegeben, obwohl ich fast alles richtig hatte. Du wirst

jetzt zu ihr gehen und ganz laut ‚fette, schmierige, alte Kuh‘ sagen.“

„Bist du verrückt geworden?“

„Toll, Patrizia, das ist echt fetzig!“, sagte der Riese plötzlich. „Das haut voll durch.“

„Aber die zinkt mich doch an!“, protestierte ich.

„Du musst dich entscheiden!“, lächelte Patrizia. „Der kleine Blinde wird es dir ewig übel nehmen, wenn du das Falsche tust.“

Das war natürlich nicht von der Hand zu weisen. Mein bester Freund Andreas, im Schwitzkasten und mit einer kühlen Klinge auf der Haut: Das war schon ein unschlagbares Argument.

Also ging ich langsam los.

„Und so laut, dass es alle hören können!“, sagte Patrizia. „Sonst gilt es nicht. Soll ich dir die Botschaft noch einmal vorsprechen?“

„Danke“, sagte ich, „das war nicht so schwer zu merken.“

Also lief ich schneller. Es hatte ja keinen Sinn, das Ganze in die Länge zu ziehen. Davon wurde es auch nicht besser. Also baute ich mich vor der Dame auf. Ich konnte ihren faltigen Körper sehen, den Hängebauch und die braunen Flecken darauf. Es konnte also gar nicht so schwer sein, zu ihr etwas ganz Gemeines zu sagen. Aber es war verdammt schwer. Ich sah mich um, entdeckte meine Freunde und blickte in das triumphal grinsende Engelsgesicht der schönen Patrizia. Dann sagte ich, so laut es mein zugeschnürter Hals erlaubte: „Sie fette, schmierige, alte Kuh!“

Bevor die Dame so richtig begriff, was geschehen war, hatte ich schon das Weite gesucht.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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