Читать книгу: «Blutgeschwister», страница 2

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Kruschek wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er war langsam echt zu alt für den Scheiß. Noch knapp achtzehn Monate, dann würde er in Pension gehen und mit seiner Frau und seinem Hund nach Norwegen ziehen. Sehnsüchtig blickte er aus dem schmalen Fenster.

3

Es waren noch 3,5 Kilometer bis zum Ziel. Langsam, aber sicher bemerkte Peer, dass er an seine Grenzen kam. Dabei hatte er sich mit voller Absicht bei diesem Lauf angemeldet. Einer der wenigen Halbmarathons, die abends stattfanden. Die Strecke um den Dortmunder Phönix-See war dafür wie gemalt, die hohen Laternen spendeten ein angenehmes Licht. Allerdings hatte das Wetter nicht mitspielen wollen. 25 Grad bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit. ‚Ein Hoch auf den Klimawandel‘, dachte Peer, als er plötzlich ein fieses Zwicken in seiner linken Wade spürte. Der Muskel schien nun endgültig zuzumachen. Die wenigen Male, die Peer von einem Wadenkrampf heimgesucht wurde, fanden alle mitten in der Nacht statt. Ein harmloses Drehen im Bett von links nach rechts, dann dieses unaufhaltsame Ziehen, das sich erst zu einem beißenden, dann reißenden Schmerz entwickelte, bis Peer der Schrei förmlich auf den Lippen saß. In solch einem Moment hielt er kurz die Luft an, wartete, bis das schlimmste Reißen überstanden war, um dann wieder langsam auszuatmen und die Wade durch das behutsame Hochziehen des Fußes zu dehnen. Es war eine echte Wohltat, wenn der Schmerz nachließ. Allerdings spürte Peer noch Tage später das Ziehen in der Wade und ging ein wenig unrund. Beim Laufen oder gar in einem Wettkampf war ihm das noch nie passiert. Jetzt aber bahnte sich die Premiere an. Und das, obwohl er sich wirklich vorbildlich auf diesen Halbmarathon vorbereitet hatte. Peer hatte den Vorgaben seines Laufprogramms minutiös Folge geleistet, Läufe mit hoher und geringer Intensität wohl dosiert und kurze Tempoläufe ebenso eingestreut wie Steigungen. Dabei war sein Puls immer im aeroben Bereich geblieben. Kurzum: Er war fit wie seit Jahren nicht mehr und drohte nun dennoch schlappzumachen.

Die Anfeuerungen der Zuschauer an der Strecke nahm er nur noch gedämpft wahr, er versuchte vielmehr, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Wenn er jetzt ständig ,Bloß kein Krampf, bloß kein Krampf‘ dachte, würde er schneller schreiend zu Boden gehen, als es ihm lieb war. Es waren keine drei Kilometer mehr. Karl Resslers Gesicht, seine letzte hässliche Fratze, bevor er starb, war das, was Peer nun auf der Strecke hielt. Er hatte seinen bislang härtesten Fall gelöst, warum sollte ein läppischer Wadenkrampf ihn ausgerechnet jetzt aus der Bahn werfen können? Hatte er gerade wieder das Wort ,Wadenkrampf‘ gedacht? Verdammt, schon war dieses unangenehme Ziehen wieder da, nur diesmal wollte es nicht mehr verschwinden. Peer biss die Zähne zusammen, als sein Handy klingelte, das er zur Zeitmessung an seinem linken Oberarm befestigt hatte. Warum er sich für die Titelmelodie aus Die Straßen von San Francisco als Klingelton entschieden hatte, wusste er nicht, in diesem Moment war es ihm allerdings ziemlich peinlich, weil natürlich alle um ihn herum mitbekamen, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie sank, sogleich aber sein Handy aus der Halterung nahm und das Telefonat mit einem „Auahallo“ entgegennahm. „Wer ist da? Was, woher zum Teufel haben Sie meine Nummer?“ Peer saß wie ein begossener Pudel auf dem Boden und beobachtete die unregelmäßigen Zuckungen in seiner linken Wade. Plötzlich musste er lachen. „Kommissar Modrich, sind Sie noch dran? Hallo?“ Modrich hatte Tränen in den Augen, sein Lachanfall wollte und wollte nicht aufhören. Kopfschüttelnd liefen die letzten Läufer an ihm vorbei, selbst die 72-jährige Dame, die als älteste Teilnehmerin bereits vor dem Lauf geehrt worden war. Modrich starrte unentwegt auf seine Wade, die mittlerweile nicht mehr zuckte, sondern wie verrückt kribbelte – der Wadenkrampf schien sich zu verabschieden. Langsam sammelte Peer sich wieder, konnte es aber weiterhin nicht fassen: „Leichner – oder wie Sie auch immer heißen – Sie wagen es, mich kurz vor dem Ziel meines Halbmarathons anzurufen? Wissen Sie, was ich mit Ihnen mache, wenn ich Sie zwischen die Finger kriege? Und wer zum Teufel hat Ihnen meine Handynummer gegeben?“ „Das war Ihr Chef!“, kam es zurück. „Es gibt einen Mord im Musikbusiness. Sagt Ihnen der Name Joe Sanderson etwas?“,Heppner, dieses qualmende Stück Hundescheiße‘, dachte Peer. Es war an der Zeit, diesem Korinthenkacker eine Lektion zu erteilen. „Joe Sanderson? Sagten Sie gerade wirklich Joe Sanderson? Was ist mit ihr?“ „Sie ist das Mordopfer, Kommissar Modrich. Das ist es ja, was ich Ihnen bereits die ganze Zeit erzählen wollte. Sie wurde während eines Auftritts erschossen!“ Modrich versuchte aufzustehen. Der Wadenkrampf hatte allerdings noch nicht ganz aufgegeben, er war sogar zu neuem Leben erwacht. Peer zog sein linkes Bein hinter sich her wie ein Kriegsversehrter und hielt dabei sein Handy an sein vom Schweiß getränktes Ohr. „Joe Sanderson ist tot? In der Westfalenhalle? Also während eines Auftritts? Wow! Gut, ich beeile mich. Rufen Sie bitte noch mal im Dezernat an und verlangen nach Gudrun Faltermayer. Die soll mich doch netterweise in einer halben Stunde zu Hause abholen. Danke!“

Die Blicke der verbliebenen Zuschauer hafteten auf Peer. Alle anderen Teilnehmer hatten wohlbehalten das Ziel erreicht, offenbar wollte man den armen Kerl mit dem Wadenkrampf doch noch dazu ermuntern, die letzten Meter zu überstehen. Rhythmisch fingen die Leute an zu klatschen, im Dunkeln waren sie kaum noch zu sehen. Plötzlich bekam Peer die zweite Luft und lief langsam los. Nach nicht einmal hundert Metern war das flaue Gefühl in der Wade vollends verflogen, sodass Peer dem Ziel zwar als Letzter, aber dennoch glücklich entgegensteuerte. Joe Sanderson war wichtig, diesen Halbmarathon zu beenden war Peer Modrich in diesem Moment jedoch wichtiger.

„Wie siehst du denn schon wieder aus?“ Guddis Blick war zugleich amüsiert und angeekelt. Peer hatte zwar geduscht, die Zeit, sich optisch wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen, hatte er allerdings nicht gehabt. Als er Guddi die Tür öffnete, trug er lediglich eine frische Unterhose und ein Paar graue Socken, die ursprünglich mal weiß waren und aus deren Vorderseite die viel zu langen Nägel von Peers Großzehen herauslugten. „Igitt“, war Guddis spontaner Kommentar beim Anblick ihres Kollegen. „Gib mir bitte zwei Minuten. Muss nur noch frische Klamotten anziehen und die Zähne putzen!“ „Denk vielleicht besser über eine gute Gesichtscreme nach. Du siehst aus wie nach ’nem Schlaganfall … ach ja, und wie lange haben deine Fußnägel keine Schere mehr gesehen?“ „Ich hab dich auch lieb“, schallte es aus dem Badezimmer zurück. „Hast du schon genauere Infos zur Tat?“ Guddi hob die Augenbrauen. Das war wieder so typisch! Vor gerade mal ein paar Minuten war sie über den Mord an Joe Sanderson informiert worden. Wie um alles in der Welt sollte sie bis jetzt neue Erkenntnisse gesammelt haben? Manchmal machte sie sich Sorgen um ihren Kollegen. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie sich den alten, ständig verkaterten und von Morbus Meulengracht zerschundenen Peer Modrich zurückwünschte. Seit er dem Fitnesswahn verfallen war und ihm seine Lauf-App mehr bedeutete als ein feuchtfröhlicher Abend mit seinen Freunden oder Kollegen, war Peer Modrich schon etwas seltsam geworden. Das Sprichwort ‚Mens sana in corpore sano‘ traf auf Peer definitiv nicht zu. Er las Bücher über Low-Carb-Ernährung, stellte sich zweimal täglich auf die Digitalwaage, machte um Gesottenes und Gebratenes einen Riesenbogen und hörte plötzlich Musik von Element of Crime und Rio Reiser. Was war da los?

„Und? Hast du oder hast du nicht?“ Peer tänzelte die Treppe hinunter, in der rechten Hand seine Sneaker, in der linken einen Kamm, mit dem er sich unbeholfen die frisch geföhnten Haare frisierte. „Wenn du mich fragst, wird die Suche nach dem Täter extrem langwierig sein. Ich kenne allein in meinem Bekanntenkreis mindestens ein halbes Dutzend Leute, die Joe Sanderson die Trennung von Crusade nie verziehen haben und ihr die Beulenpest an den Leib wünschten. Und unter uns: So gut sie bei Crusade war, so belanglos sind ihre Songs seit Beginn ihrer Solokarriere geworden. Oder was meinst du?“ „Lass uns bitte im Auto weiterquatschen, Peer“, entgegnete Guddi etwas gequält, „die Kollegen von der Spurensicherung sind bereits in der Halle, alle warten nur noch auf uns. Und nein: Es gibt bislang noch keine neuen Erkenntnisse. Der Täter scheint nach dem tödlichen Schuss in der Menschenmenge aufgegangen zu sein und die Panik ausgenutzt zu haben, um das Weite zu suchen. Liegt ja auch nahe.“

4

Wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, war Joe Sanderson auf der Bühne in sich zusammengesunken. Das Kapitel war nun abgeschlossen. Ein für alle Mal. Er hatte seine Schwester gerächt, so wie sie es sich vor langer Zeit geschworen hatten. Er zitterte noch immer am ganzen Leib. Es war sein erster Mord. Es war sogar seine erste Straftat. Es gab nichts zu bereuen, sie hatte es verdient. Das Chaos nach dem Schuss hatte es ihm, wie geplant, leicht gemacht zu verschwinden. Während er nun, im Schutze der Dunkelheit, dasaß und eine Zigarette rauchte, hoffte er, dass seine Schwester ihre Rolle überzeugend spielen und die ­Bullen auf eine falsche Fährte locken würde.

5

Vor der Halle herrschte das reinste Chaos. In Tränen aufgelöste Fans von Joe Sanderson redeten wild gestikulierend auf Polizei- und Sicherheitskräfte ein. Sie hätten schließlich ein Recht darauf, zu erfahren, was mit ihrem Idol passiert war. Nur sehr langsam bahnten sich Guddi und Peer den Weg durch die aufgebrachte Menge. Als Guddi den Motor ausschaltete, polterten einige weibliche Fans mit den Fäusten auf die Motorhaube. Dabei blickten sie derartig entrückt, dass Peer und Guddi sich in einer Szene von Ein Zombie hing am Glockenseil wähnten.

„Meine Fresse, gleich knallt’s! Finger weg von der Karre!“ Peer war außer sich. Guddi musste ihn zurückhalten, er wäre sonst sicherlich ausgestiegen und hätte sich einen antiken Faustkampf mit diesen wild gewordenen Furien geliefert. „So sehr scheinst du dich dann doch nicht geändert zu haben“, bemerkte Guddi süffisant. „Lass uns jetzt ganz ruhig aussteigen und diese Hyänen einfach ignorieren, ja? Da drin wartet Arbeit auf uns und wir werden bei diesem Mord nicht so viel Zeit bekommen wie bei einem ,herkömmlichen‘.“ „Was meinst du damit, dass ich mich doch nicht geändert habe? Ach scheiß drauf, hast recht. Langsam wird mir allerdings klar, warum Joe Sanderson so einen gewaltigen Erfolg hatte!“ Guddis Gesicht verwandelte sich in Sekundenschnelle. Mit zusammengekniffenen Augen und emporgerecktem Kinn drehte sie sich zu Peer und spuckte ihm ein „Ich höre“ entgegen. „Och bitte! Im Ernst? Du etwa auch?“ Peer wandelte am Ohrfeigenbaum, das stand außer Frage. Dass seine Partnerin, die sonst eine so toughe, mit messerscharfem Verstand ausgestattete Frau war, ausgerechnet auf den Weichspülpop einer Joe Sanderson stehen sollte, war ihm nicht nur vollends entgangen, er hätte es vermutlich auch ignoriert, hätte er davon gewusst. „Okay, sorry, ich wollte dich nicht verletzen. Guddi, seit wann …?“ „Schon immer. Wirklich. Sie ist meine Heldin, seit den ersten Tagen bei Crusade. Dass du und andere Kollegen sie die irische Variante von Helene Fischer titulieren, geht mir definitiv gegen den Strich, das kannst du mir glauben. Aber lassen wir das jetzt. Wir müssen ermitteln. Wenn wir das Schwein erwischen, das das hier getan hat, werde ich ihn höchstpersönlich verhören.“ „Woher willst du wissen, dass es ein Mann war?“ Guddi sah Peer mit einem geringschätzigen Blick an. „Eine Frau würde so etwas nie tun. Nie! Joe Sanderson hat mit ihren Texten so vielen Frauen aus der Seele gesprochen. Sie war das Sinnbild der modernen, starken Selfmade-Frau. Ich meine, sie hat sich von all der unsachlichen Kritik nach der Trennung von Crusade nie beirren lassen. Sie hat selber nie schlecht über ihre alte Band geredet, im Gegenteil! Versteh mich nicht falsch: Sie war und ist sicher keine Heilige. Aber ihr Beitrag für die moderne Popmusik ist immens und wird vermutlich erst in ein paar Jahren wirklich gewürdigt werden!“

Peer Modrich war selten sprachlos. Jetzt war der Moment gekommen. Offenbar kannte er seine Kollegin nicht so gut, wie er gedacht hatte. Für Guddi war mit dem Mord an Joe Sanderson eine Welt zusammengebrochen. Ab sofort musste er sich mit beißenden Kommentaren über Joe Sanderson, aber auch über andere Bands und Künstler definitiv zurückhalten, wenn er sich weiterhin auf die bedingungslose Zuverlässigkeit von Gudrun Faltermeyer verlassen wollte. Klingt unprofessionell, war es auch. Joe Sanderson war in ihrer Trivialität kaum zu toppen. Und singen konnte sie auch nicht wirklich. ‚Schluss jetzt‘, dachte Peer. Diese talentfreie Person war sein nächster Fall geworden. Der Mord an ihr war niederträchtig, der Täter hatte die Öffentlichkeit gesucht und dabei weitere Opfer riskiert. Nicht auszudenken, wenn eine noch größere Panik ausgebrochen wäre. Insofern war die Ermittlung des Täters oder der Täterin nun etwas, in das sich Peer mit akribischer Wucht stürzen würde, dabei musste er seine Abneigung gegen das Opfer beiseiteschieben.

6

Jan Kogler war noch immer am leben. Wie konnte das sein? Er hatte es zu Ende bringen wollen, die Spuren verwischen, so wie er es sich vorgenommen hatte. Plötzlich war da dieses Kind. Ein Mädchen? Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur, dass er Kindern nichts und niemals etwas hätte antun können. Hals über Kopf war er verschwunden, hatte gehofft, dass die Jauchegrube den Rest besorgen würde. Das normale Leben, der Alltag würde dafür sorgen, dass er wieder einen klaren Kopf bekam. Und einen Plan, wie er seinen Auftrag zu Ende bringen könnte. Sich nur noch kurze Zeit unterm Radar bewegen, um dann zuzuschlagen. Alles würde gut werden, ganz bestimmt.

7

Der Backstagebereich der Westfalenhalle war mittlerweile hermetisch abgeriegelt worden. Natürlich hatten sich in der Zwischenzeit Dutzende von Reportern vor der Halle eingefunden, um völlig aufgelöste Fans zu interviewen und zu fotografieren. Sex sells, aber Mord noch viel mehr. Beim größten Kölner Privatsender Prime TV lief der Mord an Joe Sanderson bereits als Breaking News in Dauerschleife. Bodo Gleiwitz, der Starreporter des Senders, streute sogar das Gerücht, dass es sich um einen terroristischen Akt handeln könnte. Einfach unverantwortlich. Es war also höchste Zeit, dass Peer und Guddi das Feuer löschten, bevor es sich zu einem Flächenbrand auswuchs.

In dem Moment, als Modrich die Garderobe betrat, klingelte sein Handy. Sein Chef hatte wie immer ein untrügliches Gespür für den richtigen Moment. „Herr Heppner, ich bin hocherfreut, Ihre Stimme zu hören. Allerdings ist es gerade äußerst ungünstig, weil …“ „Modrich, hören Sie mir zu, egal wo Sie sind und was Sie gerade tun: Meine Frau ist seit gestern Abend verschwunden! Kein Anruf, keine Nachricht, einfach nichts! Ich habe das Gefühl, ihr ist etwas zugestoßen … bitte kommen Sie so schnell wie möglich zu mir!“ „Das ist ja schrecklich, Kurt!“ Warum er seinen Vorgesetzten ausgerechnet jetzt beim Vornamen nannte, wusste Peer selbst nicht. „Ich bin gleich bei Ihnen, muss aber vorher in Sachen Joe Sanderson ermitteln. Was? Ja genau, diese furchtbare Sängerin. Was mit ihr ist? Ich dachte eigentlich, Sie wissen das: Sie ist vor ungefähr neunzig Minuten vor den Augen ihrer Fans auf der Bühne erschossen worden. Ja, tot … mausetot sogar! Ich beeile mich und bin kurz nach Mitternacht bei Ihnen, passt das?“ Modrich verdrehte die Augen. „Mann, ist der durcheinander.“ Guddi sah ihn ungläubig an. „Habe ich das eben richtig verstanden? Gesine Heppner wird vermisst? Wenn du mich fragst, hat sie das Weite gesucht. Kurt Heppner ist ein solcher Tyrann. Wenn er zu Hause nur halb so schlimm ist wie bei der Arbeit, hätte ich an ihrer Stelle schon längst die Koffer gepackt. Wenn sie clever ist, hat sie ihre Spuren gut verwischt und liegt jetzt irgendwo auf Jamaica am Strand und lässt es sich gut gehen.“

Modrich und Guddi untersuchten die Leiche der Sängerin nur kurz. Zum einen schien Guddi der Ohnmacht nah zu sein, zum anderen kam ihr beim Betrachten der komplett zerschossenen Halsschlagader lediglich die Erkenntnis, dass sie nicht gelitten haben konnte. „Gibt es irgendwelche Zeugenaussagen, die uns weiterbringen könnten?“, rief Peer in den Raum hinein. Leitner und Kruschek saßen schon länger wie bestellt und nicht abgeholt vor der Garderobe herum. Vermutlich hatten sie bereits Feierabend und sehnten ihre Ablösung herbei. Darauf würden sie jetzt allerdings noch etwas warten müssen. „Wir haben etliche Fans befragt“, warf Leitner ein, „die meisten von ihnen waren so hysterisch, dass wir keine brauchbaren Aussagen bekommen konnten. Bei anderen hatten wir das Gefühl, dass sie sich nur wichtig machen wollten. Einmal in der Öffentlichkeit stehen, kennt man ja. Allerdings …“ „Allerdings was? Och Kollegen, jetzt lasst euch nicht alles aus der Nase ziehen!“ Guddi war äußerst ungehalten. Der Anblick von Joe Sandersons Leiche hatte sie in einen anderen Aggregatzustand versetzt. Gudrun Faltermeyer war nun gasförmig, jeder noch so kleine Funken könnte sie zur Explosion bringen. Modrich versuchte sich als Mediator: „Wir wissen alle, dass der Mord an einer solch prominenten Persönlichkeit in Windeseile die Boulevardpresse auf den Plan ruft. Wir müssen daher gründlich und schnell sein. Also bitte: Haben wir irgendetwas Brauchbares?“ Leitner sah Kruschek, der neben ihm auf einem Stuhl saß, vielsagend an. Kruschek verlagerte seinen Sitzschwerpunkt und ließ dabei fast unmerklich einen fahren. Aber eben nur fast. Guddi war außer sich und starrte Kruschek an, als wollte sie ihn töten. Wenn Modrich nicht in unmittelbarer Nähe gewesen wäre, hätte sie Kruschek vermutlich die Augen ausgekratzt oder entmannt – oder beides. „Das kann jetzt nicht ihr werter Ernst sein, Polizeihauptmeister Kruschek!“ Modrich war nun auch kurz davor zu explodieren. Kruschek war sein Fauxpas ganz offenbar peinlich, so rot war er das letzte Mal gewesen, als seine Frau ihn beim Masturbieren erwischt hatte. „Es tut mir leid“, brabbelte er los, „wir haben vorne im Pförtnerhäuschen tatsächlich eine Zeugin, die eventuell eine brauchbare Aussage machen kann. Zumindest hat sie uns in einer ersten kurzen Vernehmung gesagt, dass sie den Täter gesehen haben will. Das Beste wird sein, wenn wir sie jetzt noch mal befragen. Was meinen Sie? Ach ja, und brauchen Sie dabei mich und den Kollegen Leitner? Wenn nicht, würde ich ihn gerne in den Feierabend schicken.“ Guddi schüttelte den Kopf.

Die Person, die da im Pförtnerhäuschen auf einem Stuhl saß, war völlig aufgewühlt. Sie kaute an den Nägeln ihrer linken Hand, während sie im Sekundentakt tiefe Züge aus einer filterlosen Zigarette nahm. Als sie Peer und Guddi sah, hatte sie gerade einen besonders tiefen Zug genommen und bekam nun einen geradezu epischen Hustenanfall. Die Zigarette lag glimmend neben ihr auf dem Boden, während sie scheinbar kurz davor stand, sich übergeben zu müssen. Peer beugte sich über sie und redete beruhigend auf sie ein. Es war mehr ein Brummeln als etwas wohl Artikuliertes, was Guddi einen mehr als ratlosen Gesichtsausdruck bescherte. Als habe er ihr etwas Furchteinflößendes erzählt, schnellte die Frau plötzlich nach oben und knallte mit ihrem Hinterkopf gegen Peers Unterkiefer. Es knackte leise, ungefähr so, als habe jemand ein Ei aufgeschlagen. Während Peer laut aufschrie und sich das Kinn hielt, schien die Frau keinerlei Schmerzen zu spüren, obwohl sie eine immens blutende Platzwunde am Hinterkopf hatte. Kruschek und Guddi näherten sich vorsichtig ihrem Kollegen, der beide Hände vors Gesicht hielt und leise vor sich hin winselte. „Peer, alles okay? Komm, lass doch bitte mal sehen.“ Guddi wollte Peers linke Hand vorsichtig zu sich ziehen, damit sie einen Blick auf sein lädiertes Kinn erhaschen konnte. Peer jedoch stieß sie rüde zurück und murmelte etwas Unverständliches in sich hinein.

„Mein Schwager hat ’ne riesige Hasenscharte. Wenn der redet, klingt er genauso wie …“ Guddi fuhr herum und gab Kruschek mit einem wilden Blick zu verstehen, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für lausige Vergleiche war. Die Zeugin war in der Zwischenzeit von den herbeigerufenen Sanitätern am Hinterkopf provisorisch zusammengetackert worden. „Sie müssen damit auf jeden Fall noch ins Krankenhaus, Ihre Wunde muss genäht werden“, ermahnte sie der Sani, woraufhin sie sich wieder setzte, ihre nächste Kippe ansteckte und apathisch in die Gegend starrte. Peer nuschelte erneut etwas vor sich hin. „Jetzt lassen Sie mal sehen“, sagte der Sanitäter zu Peer. Dieser wiederholte das soeben Genuschelte, nur dreimal so laut. Dabei spie er blutiges Sputum, was Kruschek angeekelt zur Kenntnis nahm. „Ich glaube, er will, dass wir die Lady hier weiter vernehmen und ihre persönlichen Daten aufnehmen.“ „Das habe ich auch so verstanden, Kruschek. Einigen wir uns aber darauf, dass die ‚Lady‘ unsere wichtigste Zeugin ist und ich mir wünschen würde, dass Sie die Dame auch entsprechend behandeln. Ist das klar?“ Peer liebte Guddi in solchen Momenten und versuchte zu lächeln, wobei ihm Blut aus dem Mund rann. Es war wie in einem Horrorfilm. Er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Unterkiefer. Dieser wackelte hin und her, war monströs geschwollen und entstellte Peers Gesicht aufs Übelste. „Wow“, war dann auch der erste Kommentar des Sanitäters, als Peer langsam die Hände senkte. „Das sieht mir nach einem sauberen Bruch aus. Würde vorschlagen, wir bringen Sie direkt ins Krankenhaus. Damit ist nicht zu spaßen. Am besten fahren Sie mit der Zeugin, der KTW ist bereits auf dem Weg.“ Peer schüttelte widerwillig den Kopf. „Isnichsoschimm“ entfleuchte ihm, was Guddi mit einem Schmunzeln kommentierte. „Bringen Sie ihn bitte nach vorne“, sagte sie zum Sanitäter, „ich fürchte, wir können die Vernehmung besser ohne ihn fortsetzen. Wir sorgen dann dafür, dass die Zeugin später ins Krankenhaus gebracht wird. Ich nehme an, Sie bringen meinen Kollegen ins Prosperhospital?“ „Ja, Unfallchirurgie, um es ganz genau zu sagen. Bitte warten Sie nicht allzu lange. Ich habe die Wunde zwar desinfiziert, aber bei der Größe des Cuts muss man vorsichtig sein. Eventuell hat sie auch eine Gehirnerschütterung davongetragen. Bitte lassen Sie die Vernehmung also nicht länger als eine halbe Stunde dauern.“ Guddi nickte und klopfte ihrem geschundenen Kollegen zum Abschied jovial auf die Schulter. „Bis gleich, Peer. Halt die Ohren steif. Und denk dran: Nicht so viel reden – ist ’n bisschen ekelig, was da grad so alles aus deinem Mund herausläuft!“

399
477,84 ₽
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262 стр. 5 иллюстраций
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9783942672580
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