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Der Wassermann – Tod im Landwehrkanal

Der Landwehrkanal in Berlin

... ist ein nur zehn Kilometer langer Schifffahrtsweg, der sich als Spreeseitenkanal zwischen dem Charlottenburger Spreekreuz und dem Osthafen erstreckt. Auf seiner vollen Länge ist er schiffbar für alle Arten von Flusskähnen. Zwei Schleusen, die Ober- und die Unterschleuse, regulieren den Verkehr.

Im Mittelalter gab es vor der Stadtmauer mal einen Landwehrgraben, der die Stadt vor Reiterangriffen schützen sollte. Als dieser nicht mehr gebraucht wurde, nutzten die Berliner ihn zur Entwässerung der Sumpfwiesen vor den Toren der Stadt. Nun konnten sie ihre Schafe, Ziegen und Kühe dort weiden lassen. Der Landwehrgraben wurde so zum Schafgraben. Wieder später nutzten die Holzfäller ihn zum Holztransport.

Aus dem Schafgraben wurde der Floßgraben. Die Stadt wuchs rasant. Plötzlich war der alte Floßgraben mitten in der Stadt. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. erteilte seinem Gartenbaumeister Lenné den Auftrag, den alten Floßgraben zu einer Wasserstraße auszubauen. Aber erst nach dem Tode des Königs wurde dieser Schifffahrtsweg im Jahre 1850 eingeweiht. Kaum jemand nahm Notiz davon, denn die Gegend, durch die er sich schlängelte, war für die meisten Berliner noch »janz weit draußen«.

Berühmtheit erlangte der Kanal durch den spektakulären Mord an der kommunistischen Politikerin Rosa Luxemburg, die im Januar 1919 von zwei Reichswehrsoldaten ins Wasser geworfen wurde. Auch die ominöse Zarentochter Anastasia soll angeblich im Jahre 1920 im Kanal ertränkt worden sein ...


Der Wassermann

Er galt als männliches Pendant zu den Nixen, und ihm wurden ähnliche Eigenschaften wie den Nixen zugeschrieben. Er galt lange Zeit als der uneingeschränkte Herrscher über Flüsse, Seen und Brunnen.

Meistens wurde er als grünhäutiger Riese mit verfilztem Haar und einem langen Haken, der manchmal auch ein Triton – also ein Dreizack – sein konnte, dargestellt. Damit zog er die Leute von den Schiffen in sein unterirdisches Reich hinab.

Den meisten Menschen zeigte er sich in vielfältiger Gestalt, mal als kapitaler Hecht oder dämonisch grinsender Wels, mal als kleines Männchen mit rotem Spitzhut und grünem Wams, ganz selten zeigte er sich auch als Fischwesen, halb Mensch, halb Schuppentier.

In der slawischen Mythologie wurde er als Vodyanoj bezeichnet, in den alten märkischen Sagen geisterte er als Neck oder auch als Nickert durch die Sagenwelt. Begegnungen mit ihm können gut oder auch böse ausgehen, je nach Gemütslage des Wassermannes.

Berlin-Tiergarten

Dienstag, 27. Dezember 2005

Die Fahrt im abendlichen Dämmerlicht war anstrengend. Schemenhaft rauschten Häuser, Bäume und Menschen an ihm vorbei. Im Autoradio dudelte Jazz. Eine Musik, die weder vordergründig störte noch sein angespanntes Gemüt provozierte.

Ziellos fuhr er nun schon seit fast zwei Stunden durch die immer dunkler werdende Stadt. Der Berufsverkehr begann abzuebben. In diesen Tagen waren ohnehin nur wenige Menschen auf Arbeit. Die meisten hatten frei. Die Zeit zwischen den Jahren war eine Zeit voller Müßiggang.

Nervös fingerte der Mann an seinem Jackett herum, suchte sein Handy. Wählte, fluchte, warf das Handy ungestüm auf den Beifahrersitz. Sein Blick war unstet. Dauernd blickte er auf die schwach leuchtenden Armaturen, schaute dann sofort wieder nach vorne.

Sein Tankfüllstand zeigte bedrohlich nach unten: fast leer. Die kleine gelbe Leuchtanzeige für die Tankreserve flackerte auch schon auf. Er suchte eine Tankstelle, fuhr ins gleißende Neonlicht hinein und stellte den Motor ab.

Wie ein Film liefen noch einmal die Ereignisse der letzten Tage vor seinem inneren Auge ab.

Der aus dem Nichts kommende Streit mit Karolin. Ihr lapidares »Es ist aus«. Sein Zusammenbruch. Die absurde Tristesse des Weihnachtsfestes als Rahmen für diese Tragödie. Der dramatische Auftritt von Karolins Mutter und ihr Tränen überströmtes Gesicht. Dazu das Jammern und Weinen, welches ihm eigentlich zugestanden hätte. Seine stundenlange Irrfahrt durch die Stadt. Die ersten Anzeichen von Wahnvorstellungen.

Berlin-Wedding

Nacht, 27. zum 28. Dezember 2005

Erschöpft lag er auf seinem Bett. Die abendliche Irrfahrt durch die Stadt hatte seine letzten Reserven aufgebraucht, innerlich fühlte er sich leer. Eine absolute Hoffnungslosigkeit hatte ihn befallen. Die große Wohnung wirkte öde. Auf dem Boden lagen achtlos ein paar Klamotten herum, ein paar Schuhe verteilten sich im Flur.

Was da in den letzten Stunden passiert war, konnte Zach nicht glauben. Innerhalb von nur einem Augenblick war er aus seinem gewohnten Leben gerissen worden.

Am frühen Morgen stand sie weinend vor ihm, in der Hand einen Brief, den sie ihm wortlos unter Tränen überreichte. Er konnte es zuerst gar nicht glauben, was sich in ihrer schwer leserlichen Handschrift zur Gewissheit formte, die ihm die Luft zum Atmen nahm.

Sie wollte nicht mehr weiter mit ihm leben, seine Prinzessin, die er abgöttisch liebte, für die er alles in Bewegung setzte, damit sie sich glücklich fühlte. Sie schien ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Was da im Brief stand, war ungeheuerlich.

Wochenlang soll sie heimlich auf ihrem Bett gesessen und still vor sich hin geweint haben?

Er hatte davon nie etwas bemerkt, genauso wenig von ihren dauernden Ohnmachtsanfällen und ihrer Schlaflosigkeit. Sie musste eine total unglückliche Frau sein, die ihr Leben mit ihm nur unter großem Widerwillen ertragen hatte. Was für eine Täuschung!

Am Heiligabend früh hatten sie noch Sex wie immer. Die vertraute Stimmung des freien Morgens hatte auf ihn stets eine stimulierende Wirkung. Er wühlte sich dann immer unter der Decke an sie heran, sog mit gierigen Zügen ihren Duft ein, um sie dann mit seinen Küssen und Liebkosungen zu bedecken. Willig wie immer ging sie auf das sich stets wiederholende Spiel von Annäherung und Entdeckerfreude ein. Nichts deutete auf ein Zerwürfnis. Nach dem Akt der Vereinigung lagen sie wie immer völlig ausgepumpt, aber zufrieden eng aneinandergeschmiegt, genossen diesen Moment der totalen Zweisamkeit.

Dann begann der Tag, erst duschen, dann Frühstück machen – alles wurde zelebriert. Für das Frühstück wurde der runde Tisch unter dem flämischen Leuchter im großen Esszimmer gedeckt. Wochentags saß man am kleinen Küchentisch. Frühstück am Wochenende war ein stundenlang sich hinziehendes Ritual mit klassischer Musikuntermalung, frisch gekochten Eiern, aufgebackenen Brötchen und diversen Leckereien, die speziell für dieses morgendliche Fest eingekauft worden waren.

Er genoss diese Zeit. Ein Bekannter hatte ihm einmal gesagt, dass beim Frühstück die Menschen ihr wahres Wesen zeigen würden. Ob sie glücklich seien oder nicht, würde diese Stunde offenbaren. Anfangs hatte er diese kryptischen Worte abgetan als eine dumme Redensart, aber mit der Zeit hatte er den wirklichen Sinn der Worte für sich erkannt. Es war ein totaler Luxus, sich diese Zeit zu gönnen und solch ein königliches Frühstück zu zelebrieren. Eigentlich kannte er nur wenige Menschen, die es ähnlich taten. Es war zutiefst spießig, aber es gefiel ihm. Und ihr auch, dachte er jedenfalls bisher.

Heute Morgen, ein freier Tag war dieser Dienstag auch, war alles anders. Sie war schon ungewöhnlich früh aufgestanden, huschte auf leisen Sohlen aus dem Schlafzimmer. Zach döste noch, nahm ihr Aufstehen nur im Halbschlaf wahr.

Sie musste öfters mal raus, war eben eine Frau. Irgendwann um kurz nach Neun stand er auch auf. Nichts war in der Wohnung anders, aber irgendetwas stimmte nicht mit diesem Tag. Wo war sie?

Er schlurfte in die Küche, setzte Kaffeewasser im Wasserkocher auf und knipste das Radio an, um diese ungewöhnliche Stille zu durchbrechen und das Gefühl der Irritation zu verdrängen.

Dann stand sie da. Heulend und irgendwie völlig verloren. Sie kam auf ihn zu, umarmte ihn, stammelte etwas Unverständliches, als ob sie es selbst nicht glauben könnte, dass sie jetzt hier so vor ihm stand, um diese Botschaft zu verkünden.

Zach wurde schwindelig. Er saß auf seinem Stuhl, erstarrt, unfähig, irgendetwas zu erwidern oder zu tun. In seinem Hirn hämmerte dauernd ein Satz durch die Windungen: Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, das kann nur ein böser Traum sein ...

Aber die Wirklichkeit blieb, so wie soeben erlebt. Alles wurde schlagartig grau um ihn. Er nahm alles durch einen Filter wahr, der die Wohnung und ihn in die farblose Welt der Tristesse tauchte.

In ihm wehrte sich alles gegen diese große Traurigkeit, aber es nützte nichts. Körperlich konnte er es spüren, wie jede einzelne Region seines Körpers von ihr befallen wurde. Seine Arme und Beine wurden wie Gummi, die Knie versagten ihren Dienst, er knickte einfach in sich zusammen. Die Kühle des Wintertags, die eigentlich draußen vor dem Fenster herrschte, breitete sich langsam in ihm aus.

Was da mit ihm passierte, konnte er rational nicht fassen, eine tiefe Verunsicherung hatte ihn erfasst. Karolin war aus der Küche gegangen und hatte ihn mit dem Brief allein zurückgelassen. Er versuchte sich zu sammeln, unmöglich überhaupt der Versuch, etwas Klarheit zu bekommen.

Warum nur?

Was hatte er getan?

Diese Fragen kreisten wie ein ständig sich wiederholendes Signal in Sekundenbruchteilen durch sein Hirn. Er konnte nichts Anderes denken, nur diese Worte erhoben sich aus dem Nichts der inneren Leere zu bedrohlich großen Riesenlettern, die in tiefstem Rot sich auf seine Netzhaut brannten und alles andere verdrängten.

Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Brustkorb. Er rang um Luft, konnte die Katastrophe nun körperlich spüren.

So etwas musste also das »gebrochene Herz« sein. In den romantischen Gedichten seiner Jugend wurde es oft beschworen, er hatte damals immer darüber gelächelt. Eine schöne Metapher für einen Seelenzustand des Verlassenwerdens, gern genutzt von allen jugendlichen Schwärmern. Das ihm so etwas zustoßen würde, hatte er nie zu träumen gewagt.

Er saß wohl eine Stunde, vielleicht auch länger, so erstarrt in der Küche. Kein Geräusch war mehr zu hören, das Radio war aus, von Karolin war nichts zu merken. War sie überhaupt noch in der Wohnung? Zach erhob sich langsam, der Schmerz im Brustkorb war deutlich spürbar beim Aufstehen. Er schlich den langen Flur entlang, spähte in die Zimmer, sah sie endlich hinter ihrem Computer sitzen und intensiv auf den Monitor schauen. »Karolin, was hast du nur getan?«

»Lass mich, ich kann jetzt nicht mit dir sprechen. Alles ist aus, es ist aus! Lass mich allein!«

Zach wandte sich ab, schlug die Tür in einer wilden Aufwallung von Wut zu. Ein lautes Krachen begleitete das Zuschlagen. Im Flur fiel eine kleine Statue vom Regal und zerbrach auf dem Boden. Zach suchte den Autoschlüssel und rannte dann die Treppen runter.

Nur weg, raus hier, er schien die Luft in der Wohnung nicht mehr atmen zu können. Quietschend setzte sich der Kombi in Bewegung, Zach raste durch die stille Nebenstraße, die an diesem Wintermorgen menschenleer war, bog auf die nächste Magistrale, ohne auf die Ampelschaltung zu achten. Alles drehte sich vor seinen Augen, er hatte Mühe, das Auto in der Spur zu halten. Was nur hatte er getan? Warum!? Warum!? Warum!?

Tief in seiner Seele suchte er nach Gründen für Karolins Entschluss. Sie war doch so glücklich gewesen, tanzte durch die großen Räume, leise vor sich hin trällernd, kam immer wieder zu ihm, umarmte ihn und strahlte ihn aus ihren rehbraunen Augen an. War das alles nicht wahr, war es nur ein Trugbild gewesen?

Sie hatten intensiv miteinander gelebt, vieles gemeinsam gemacht, waren alltagstauglich – so hatte Zach die Beziehung mit ihr immer eingeschätzt. Und nun?

Wieder schoben sich die roten Buchstaben bedrohlich vor sein inneres Auge. Warum? Warum? Warum? Ratlos kreuzte er durch die leeren Straßen Berlins.

Am Abend kam er zurück in die Wohnung. Das erste, was er spürte, war die Leere. Sie war nicht da. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.

»Bin bei Freunden«, stand da geschrieben. Zach saß im Wohnzimmer etwas verloren auf dem Sofa. Im Flur rumorten die beiden Katzen. Hatten wohl Hunger. Automatisch holte er zwei Dosen Futter, öffnete sie und schüttete den streng riechenden Inhalt in die beiden Näpfe. Die Katzen, ein bunt geschecktes Kätzchen und ein großer, grauer Tiger schnurrten schon in Erwartung der Leckerbissen. Karolin hing an den Katzen, egal wie sie sich benahmen und was sie anstellten.

Oft saß sie im Sessel und streichelte stundenlang den Katzen das Fell und flüsterte ihnen irgendwelche Geschichten ins Ohr oder kümmerte sich um die langen Krallen. Die Tiere ließen diese Prozedur mit stoischer Ruhe über sich ergehen.

Wenn Zach kam, stoben sie meist auf und davon. Das hing mit einigen unschönen Zusammenstössen zwischen ihm und den beiden Fellträgern zusammen.

In der Küche hatte er sie schon beim Räubern ertappt und entsprechend reagiert. Karolin schritt sofort ein: »Was können die armen Tiere dafür, wenn wir die Sachen liegenlassen!« Zach schüttelte den Kopf über diese Art von Tierliebe. Ihm ging das eindeutig zu weit. Aber letztendlich ließ er sie gewähren. Es war ja nicht lebenswichtig.

Er schnappte mit der Fernbedienung den Fernseher an. Klickte sich durch die Programme, nichts konnte ihn ablenken. Irgendwo blieb er bei einer Talkrunde hängen. Dem Gespräch konnte er nicht so richtig folgen, mit einem Ohr lauschte er immer Richtung Tür, doch nichts passierte. Sie kam die ganze Nacht nicht. Irgendwann dämmerte er für ein paar Minuten weg.

Berlin-Wedding

Donnerstag, 29. Dezember 2005

Übermüdet und vollkommen trostlos stand Zach am Fenster und beobachtete das Treiben der Flocken, die an diesem Dezembertag erste weiße Teppiche in der Stadt bildeten.

Eigentlich hatte er ja eine große Silvesterparty mit vielen Freunden geplant, aber irgendwie hatte er nicht den Mut, allen abzusagen. Karolin war heute früh zurückgekommen. Sie wich ihm aus, huschte nur durch die Zimmer wie eine Schattengestalt. Wortlos hatte sie ihm wieder einen mehrseitigen Brief in die Hand gedrückt, in dem sie ihm ihre Gründe für den plötzlichen Bruch noch einmal aufgeschrieben hatte.

Der etwas verworren gehaltene Text hatte für Zach nichts Neues gebracht, nur noch mehr Rätsel bauten sich vor ihm auf. Er zweifelte daran, dass diese Frau hier seine Lebensgefährtin war. Wie ausgewechselt erschien sie, als ob jemand einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt habe. Er versuchte erneut, mit ihr ins Gespräch zu kommen. In der Küche saßen sie sich am Tisch gegenüber.

Er hatte Tee zubereitet. Jeder hielt sich an seiner Tasse fest, als ob es sonst keinen Halt mehr gäbe. Zach spürte, dass ein Bruch durch die Beziehung ging, der nicht mehr zu kitten war, aber er wollte sich diese bittere Erkenntnis nicht eingestehen.

Zu sehr hing er noch dieser Illusion einer glücklichen Zeit zu zweit nach. Er schaute ihr in die Augen, die sonst immer seinen Blick erwidert hatten und ihn mit einem wohligen Schauer in die Gewissheit versetzt hatten, grenzenlos geliebt zu werden.

Jetzt war der Blick verhuscht, etwas war erloschen. Er spürte auch, dass Karolin ihm etwas verheimlichte. Ein Gespräch wollte nicht so recht zustande kommen. Seine Kehle schnürte sich immer mehr zu, je länger er so saß und sie beobachtete. Ihr schien dieses Sitzen am gemeinsamen Tisch sichtliches Unbehagen zu bereiten.

Die Unruhe, die von ihr ausging, übertrug sich auch auf Zach. Er sprang schließlich auf, konnte sich nicht mehr beherrschen.

»Was hast du gemacht! Bist du dir sicher, dass du das so willst?« Sie schwieg, schaute kurz mit einem seltsamen Blick zu ihm auf und zog sich innerhalb eines Sekundenbruchteils noch weiter in sich selbst zurück.

Etwas schien von ihr Besitz ergriffen zu haben, dessen sie sich selber noch gar nicht so richtig bewusstgeworden war. Sie wirkte wie ein gehetztes Tier, welches in die Ecke getrieben worden war.

Zach merkte, dass er mit seinen lauten Vorwürfen nichts bewirkte, schüttelte den Kopf und verließ die Küche.

Er musste raus aus der Wohnung, er brauchte andere Luft und andere Gedanken. Innerhalb weniger Stunden war sein persönliches Glück in sich zusammengefallen wie ein marodes Haus. Und er saß mitten drin, ohne eine Möglichkeit, den Zusammenbruch aufhalten zu können.

Wortlos schnappte er sich seine karierte Winterjacke, knallte die Tür hinter sich zu und stürmte die Treppenstufen hinab. Im Kopf drehte es sich bloß noch.

Dauernd erschien das »Warum?« vor seinem inneren Auge. Er suchte sein Auto, einen großen, dunkelblauen Kombiwagen. Etwas Vertrautes ging für ihn von seinem Wagen aus. Er fuhr oft damit durch die Stadt, wenn er seinen Kunden Ware auslieferte oder selber Waren abholte von den Speditionslagern. Hier drinnen fühlte er sich stets geborgen. Wenn die Wagentür ins Schloss fiel und der Stadtlärm schlagartig abebbte, atmete er stets tief durch. Der Stress baute sich automatisch ab. Auf diesen Effekt hoffte Zach auch jetzt wieder. Just in dem Augenblick, als er einsteigen wollte, klingelte in seiner Jackentasche das Handy. Etwas unwillig kramte er es hervor.

Eine helle Kinderstimme ertönte: »Papa, wann kommst du? Ich warte schon auf dich ...«

Natürlich, Adrian, sein kleiner Sohn wartete auf ihn. Heute sollte er ihn bei seiner Exfrau abholen, um die restlichen Ferientage bei ihm und Karolin zu verbringen, auch Silvester wollte er mitfeiern.

»Ich bin schon auf dem Weg zu dir. Mach dich schon mal fertig und pack deine Sachen zusammen...«, antwortete er betont fröhlich.

Er startete seinen Wagen und fuhr los Richtung Ostteil der Stadt, wo er früher gelebt hatte und wo jetzt noch seine Exfrau mit dem Jungen lebte. Sieben Jahre war diese Trennung nun schon wieder her. Damals brach für Zach ebenfalls eine Welt zusammen. Die Frau, die er liebte, mit der er den mühsamen Weg der Nachwendezeit bewältigt hatte und mit der er einen Sohn hatte, den er abgöttisch liebte, wandte sich ab von ihm.

Ihr war die Karriere wichtiger geworden als die Familie. Zach hatte damals hilflos mit ansehen müssen, wie die Beziehung nach und nach zerbröckelte. Er war unfähig, der Erosion etwas entgegenzusetzen, verfiel in ein depressives Grübeln. Es wurde kaum noch mit einander geredet. Er war jedes Mal froh, wenn er die Wohnung verlassen konnte, und gruselte sich schon vor dem Abend, wenn er in die Welt des Schweigens zurückkehren musste. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und lief davon. Er begann dann wieder beim Punkt Null und baute sich ein neues Leben auf.

Anfangs war es schwierig, das Leben so allein zu meistern. Hinzu kam, dass der Kleine damals erst zwei Jahre alt war. Sonntagnachmittags holte er ihn ab und brachte ihn, kaum ein Wort mit seiner Exfrau wechselnd, abends wieder zurück. Meist ging er mit dem Kleinen auf einen Spielplatz oder, wenn das Wetter schön war, in den Zoo.

Er sehnte diese Sonntagnachmittage herbei, freute sich die ganze Woche darauf. Dann überschüttete er den Kleinen mit Spielsachen und anderen kleinen Geschenken. Irgendwie hatte er dem Jungen gegenüber stets ein schlechtes Gewissen. Er war ja schließlich davongelaufen.

Es hatte lange gedauert, bis er sich aus diesem Tal herausgearbeitet hatte. Dann hatte er vor drei Jahren diese Begegnung, die sein Leben auf einem Schlag veränderte. Er glaubte bis dahin nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber als er diese Frau dann sah, war es um ihn geschehen.

Sie strahlte ihn an und er lächelte scheu zurück. Das war der Beginn einer wunderbaren Liebe. Zach fühlte sich plötzlich wieder auf der Sonnenseite. Schnell waren er und Karolin sich einig.

Man zog zusammen. Sie lebte damals mit ihrer Mutter zusammen. Es war eine recht eigenartige Wohngemeinschaft, die sie damals hatte. Die Mutter, eine etwas wunderliche, aber herzensgute Frau, bekochte ihre Tochter, kümmerte sich um die Wäsche, half ihr bei finanziellen Engpässen und fütterte die beiden Katzen, die eigentlich Karolin gehörten.

Als Gegenleistung ließ Karolin ihre Mutter an ihrem Leben teilhaben, indem sie ihr jeden Abend ausführlich berichtete, was so alles passiert war. Diese Abendgespräche waren das Lebenselixier für die Mutter. Tagsüber, wenn Karolin in der Stadt unterwegs war, traf sie sich mit anderen älteren Damen zum Kaffee oder sie frönte ihrer Leidenschaft, nähte aus allen möglichen Stoffresten Taschen und bastelte Püppchen. Eigentlich auf den ersten Blick ein harmonisches Miteinander.

Aber Karolin fühlte sich unglücklich in dieser Wohngemeinschaft. Sie wollte hinaus ins Leben und nicht versauern in der etwas plüschigen Welt ihrer Mutter. Es kam daher auch immer wieder zu Auseinandersetzungen. Meistens jedoch musste sie einlenken, denn wirtschaftlich war sie eben von ihrer Mutter abhängig. Aus dieser Ohnmacht wurde sie erst durch Zach befreit.

Jetzt hatte sie endlich einen triftigen Grund, diese eigentümliche Wohngemeinschaft auflösen zu können. Ihrem persönlichen Glück konnte sich ihre Mutter nicht entgegenstellen, dass wusste sie. Innerhalb von nur zwei Monaten hatte sich alles geregelt.

Durch einen Zufall war die Nachbarwohnung frei geworden. So blieb Karolin noch in unmittelbarer Nähe zur Mutter, konnte aber endlich in einer eigenen Wohnung leben. Die große Altbauwohnung wurde in kurzer Zeit von den beiden renoviert und eingerichtet. Zach war glücklich. Auch sein kleiner Sohn Adrian kam wunderbar mit Karolin zurecht. Sie hatte keine eigenen Kinder.

Irgendetwas schien bei ihr nicht zu funktionieren. Sie schob es auf ihre wilde Zeit als anarchistische Weltverbesserin. Damals hatte sie in München jede Demo mitgemacht, war bei den AKW-Gegnern engagiert und kettete sich an Schienen bei Castor-Transporten. Die bayrische Polizei war in den Achtziger Jahren rigoros gegen solche Störenfriede vorgegangen.

Sie erzählte etwas von Reizgas und anderen chemischen Keulen, die da zum Einsatz gekommen sein sollten und wovon sie letztendlich unfruchtbar geworden sei. Zach staunte nur, konnte aber mit all diesen Dingen nicht viel anfangen. Er war im Osten aufgewachsen und damit abgeschirmt von all diesen Kämpfen, welche die Bundesrepublik damals erschütterten. Zumal er sich seine Karolin nur schwer als anarchistische Barrikadenkämpferin vorstellen konnte.

Endlich hatte sein Traum von einer intakten und glücklichen Familie sich verwirklicht. Dafür hatte er vieles getan.


Auf den Straßen von Berlin

Samstagnacht, 31. Dezember 2005

Zach fuhr nun schon seit drei Stunden durch die Stadt. Irgendwie wurde seine Situation immer trostloser und verworrener. Er wusste sich einfach nicht weiter zu helfen und sah nur einen Ausweg aus seinem Dilemma.

Es war stockfinster draußen. In der Ferne waren erste Böller zu hören. Auch ein paar Raketen zischten immer wieder durch den dunklen Himmel und hinterließen farbige Spuren.

Er hatte schon längst die Orientierung verloren, steuerte mechanisch den Wagen durch ein dünnbesiedeltes Viertel hinter dem Nordbahnhof. Tagsüber war hier schon wenig los, aber nachts war die Gegend wie ausgestorben. Eine dichte Baumreihe filterte das Licht der trüben Straßenbeleuchtung durchs Geäst. Die dunkle Straße schluckte das Licht förmlich, ebenso die ewig lange Friedhofsmauer aus ergrauten Klinkern. Er fuhr hier öfters entlang, wenn er dem Stau in der Chausseestraße entgehen wollte und kannte die vielen kleinen Abkürzungen in der Innenstadt.

Vor sich sah er plötzlich ein rotes Licht. Es gehörte zu einem Fahrrad. Darauf eine seltsam vertraute Person. Zach erkannte sie sofort.

Es war Karolin, seine Karolin!

Was hatte die jetzt in der Nacht hier zu suchen? Wohin fuhr sie? Auf alle Fälle nicht nach Hause, denn das wäre die entgegengesetzte Richtung. In Zach stieg die Wut wie eine heiße Hitzewelle hoch. Der gesamte Frust der letzten Tage und Stunden kochte zu einem einzigen kompakten Gefühl zusammen: zu reiner Wut. Zach trat das Gaspedal durch und steuerte auf das rote Licht zu ...

Auf den Straßen von Berlin

Sonntag früh, 1. Januar 2006

Die letzte Nacht hatte Zach als Alptraum erlebt. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Immer wieder sah er die Frau im hohen Bogen über den Lenker stürzen und sah das kaputte Fahrrad im Schneematsch liegen. Und immer wieder schoss ihm durch den Kopf: Du hast sie umgebracht!

Das Geräusch des Auftreffens der Stoßstange auf das Fahrrad, der schrille Schrei der Frau auf dem Rad und das harte Aufschlagen ihres Körpers auf dem Straßenboden – alles war der Ablauf von gerade einmal ein bis zwei Sekunden, die für Zach unendlich langsam waren. In einer Art Zeitschleife liefen diese beiden Sekunden immer wieder in Slow-Motion vor seinem inneren Auge ab. Er sah sich selbst aus dem Auto steigen und zu der reglos am Boden liegenden Gestalt hinlaufen.

Sie lag vor ihm im Schneematsch und bewegte sich nicht mehr. Ihr Gesicht war merkwürdig bleich. Angst erfüllte in diesem Moment Zachs Innerstes und ließ ihn davonlaufen. Er setzte sich ins Auto und fuhr mit laut aufheulendem Motor los. Nur weg!

Erst nach einer halben Stunde hatte er sich wieder soweit im Griff, bis er ein paar klare Gedanken fassen konnte. Der erste Gedanke war zu helfen.

Sie konnte da nicht den Rest der Nacht über liegen bleiben, sie musste in ein Krankenhaus. Und zwar so schnell wie möglich. Zach drehte seinen Kombi und fuhr mit stark überhöhter Geschwindigkeit zurück. Er bog mit einem lauten Quietschen in die stille Straße am Friedhof ein. Die Stelle, wo sie lag, musste gleich kommen ...

Er erstarrte. Dort, wo eigentlich Karolin am Boden liegen musste, war nichts, absolut gar nichts. Nur das Fahrrad lag noch einsam herum. Der Schneematsch war vollkommen zertreten, als ob sie einen Tanz im Schnee gemacht hätte.

Unmöglich!

Er hatte es doch mit eigenen Augen gesehen: Sie lag ohnmächtig am Boden. Und jetzt war sie weg!

Zutiefst verunsichert stand Zach herum. Was sollte er nur machen?

Wenigstens das Fahrrad konnte er mitnehmen. Vielleicht war Karolin ja auch zu Hause oder im Krankenhaus? Er musste es herausfinden. Schnell legte er das Fahrrad zusammen und packte es in den geräumigen Frachtraum seines Kombis. Dann fuhr er los Richtung Wedding. Durch seinen Kopf jagten wirre Gedanken, die sich allesamt um den Unfall drehten. Irgendetwas stimmte jedoch nicht, und Zach hatte ein ungutes Gefühl.


Am Landwehrkanal

Montag früh, 2. Januar 2006

Irgendwie steuerte das Auto von selbst das Ufer des Landwehrkanals an. Zach war die Gegend vertraut. Hier war er mit seiner Karolin oft spazieren gegangen.

Im Sommer hatte das Ufer etwas Verträumtes. Die Bäume spendeten Schatten, unzählige Insekten schwirrten in der Luft und im Wasser gluckste es ab und an, so als ob ein Wassermann vom Grunde des Kanals ihnen einen Gruß heraufschickte.

Doch jetzt war es hier trist und grau.

Der Mann mit dem grauen Mantel trottete am Ufer entlang und schien gar nicht zu bemerken, was um ihn herum passierte. Er hatte alles verloren, was ihm wichtig gewesen war. Das war ihm inzwischen klargeworden. Karolin war verschwunden.

Er hatte alle Krankenhäuser nach ihr abgefragt. An Schlimmeres wagte er gar nicht zu denken. Es hatte ja sowieso keinen Sinn mehr. Seinem kleinen Sohn hatte er gestern noch einmal versichert, dass er ihn immer liebhabe. Der Junge hatte ihn etwas verstört angeschaut. Ein Blick, der Zach innerlich vollkommen aus der Balance gebracht hatte.

Er war sich nicht mehr sicher, was er machen sollte. Aber wenn er an die Ereignisse dieser Dezembernacht zurückdachte, wurde ihm immer mehr bewusst, dass er nur eine wirkliche Lösung seines Problems noch hatte.

Jetzt lag der Kanal als trübgraues Gewässer vor ihm. Keine Wasserbewegung war festzustellen. Zach stand am Ufer. Alles in seinem Kopf begann sich zu drehen. Bilder aus seinem Leben rollten in erstaunlicher Detailtreue und Genauigkeit noch einmal vor ihm ab.

Er hatte keine Angst mehr. Alles war so gekommen, wie es kommen sollte. Noch einmal schaute er nach oben und sog tief die kalte Winterluft in sich ein. Mit einem Lächeln verabschiedete er sich von der Welt und sprang.

384,09 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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718 стр. 98 иллюстраций
ISBN:
9783967525137
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