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Der Oberstaatsanwalt kam nun zu der Karriere Reinhold Hannings innerhalb des NS-Apparates. Nach der Volksschule habe er zunächst in einer Fahrradfabrik gearbeitet und sich im Juni 1940 zur Waffen-SS gemeldet. Als Angehöriger der SS-Division Das Reich habe er auf dem Balkan und später in Russland gekämpft, bis er Anfang 1942 als Sturmmann nach Auschwitz gekommen sei. Dort habe seine Karriere Fahrt aufgenommen: im Februar 1942 Beförderung zum SS-Rottenführer, im September zum SS-Unterscharführer. Dass ihm nur die Verbrechen ab 1943 zum Vorwurf gemacht wurden, begründete der Staatsanwalt damit, dass Hanning kurz vorher einundzwanzig Jahre alt geworden sei und damit volljährig. Zu der Zeit müsse er zudem gewusst haben, woran er sich da beteiligte.

»Reinhold Hanning waren sämtliche Tötungsarten und -methoden bekannt«, schloss der Oberstaatsanwalt. »Ihm war bewusst, dass sämtliche Tötungsmethoden ständig bei einer hohen Zahl von Menschen angewandt wurden und dass auf diese Art und Weise und mit der geschehenen Regel­mäßigkeit nur getötet werden konnte, wenn die Opfer­ durch Gehilfen wie ihn bewacht wurden. Er wollte mit seiner Wachdiensttätigkeit die vieltausendfach geschehenen Tötungen der Lagerinsassen durch die Haupttäter fördern oder zumindest erleichtern.« Mit diesen Worten zog sich der Oberstaatsanwalt hinter seinen Aktenstapel zurück.

Nun hatte die Verteidigung das Wort. Hannings Rechtsanwalt verschränkte seine Arme vor der Robe und verkündete: »Unser Mandant wird sich derzeit nicht zur Sache äußern.« Stattdessen stellte er zunächst den Antrag auf Widerspruch der Verwertbarkeit der Aussagen seines Mandanten bei dem Verhör im Jahre 2014. Reinhold Hanning sei von den Ermittlern überrascht worden. Der alte Mann sei dieser überfallartigen Situation nicht gewachsen gewesen und sei Opfer einer »kognitiven Schwäche« geworden. Entsprechend sei sein Geständnis, in Auschwitz tätig gewesen zu sein, nicht gerichtsverwertbar. Eine Beteiligung an den Morden bestreite er ohnehin grundsätzlich. Weitere Aussagen werde er zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht machen.

Stattdessen referierte der Verteidiger nun seinerseits den Lebenslauf des Angeklagten. Danach war Hanning seit 1940 beim Militär gewesen und 1944 in englische Kriegsgefangenschaft geraten. Am 20. Mai 1948 sei er daraus wieder entlassen worden, habe ein Jahr lang als Koch bei der Standortverwaltung gearbeitet, anschließend als Verkäufer und Ausfahrer in einer Molkerei, die er 1969 übernommen und bis 1984 geführt habe. In diesem Vortrag fiel nicht ein einziges Mal das Wort Auschwitz und auch von der SS-Mitgliedschaft seines Mandanten sprach der Rechtsanwalt nicht.

Fabian Heller konnte das Unwohlsein, das sich angesichts dieser technischen Abarbeitung eines Bereichs des wohl umfassendsten Massenmordes aller Zeiten im Gerichtssaal ausgebreitet hatte, geradezu mit Händen greifen. Wie musste den Opfern wohl zumute sein, deren individuelles Leid derart technokratisch auf ein juristisches Taktieren zu Gunsten des Täters reduziert wurde?

Das schien auch die Richterin zu spüren und so verkündete sie eine Anmerkung, bevor die Beweisaufnahme eröffnet würde. Sie stellte fest, dass dieser Prozess ein ganz besonderer sei, weil er eine politische Dimension habe. Und sie machte klar, dass es vor allem um die individuelle Schuld des Angeklagten gehe. »Der geschichtliche Kontext, das Grauen von Auschwitz, ist hinreichend geklärt«, stellte sie klar und ließ ihren Blick durch den Saal gleiten, bis er sich an dem Verteidiger Hannings verfing. »Darum wird es hier in Detmold nicht mehr gehen!«

Heller verstand das als Warnung an die Adresse der Verteidigung, nicht zu versuchen, unnötige Nebenkriegsschauplätze aufzumachen und Nebelkerzen zu werfen.

Hier werde es nun vielmehr um das Anliegen der Opfer gehen, die Geschichte ihres Leidens vor einem deutschen Gericht vorzutragen. »Und dem wollen wir nachkommen«, sagte die Richterin in einem Tonfall, der keinerlei Zweifel zuließ.

Nachdem das geklärt war, eröffnete sie die Beweisaufnahme, rief den Zeugen Leon Schwarzbaum in den Zeugenstand und forderte ihn auf, zunächst seine biografischen Daten zu Protokoll zu geben. Der vierundneunzig Jahre alte Mann wirkte gefasst, aber seinem Gesicht glaubte Heller das Leid ansehen zu können, das er seit über siebzig Jahren mit sich herumtrug. In seinem schwarzen Anzug und mit dem schütteren Haar wirkte er älter und gebrechlicher als Reinhold Hanning.

Schwarzbaum entfaltete einen Zettel, blickte kurz darauf und berichtete dann, dass er in Hamburg geboren worden und im Alter von drei Jahren mit seiner Familie in die Heimat seiner Mutter, nach Bedzin in Polen, vierzig Kilometer von Auschwitz entfernt, übergesiedelt sei. Dort habe er ein gutes Leben gehabt, mit Musik und Sport.

»Dann brach das Grauen über uns herein«, sagte er tonlos. 1943 sei das gewesen, als seine Eltern abgeholt und nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden seien, am 22. Juni. In den folgenden drei Tagen seien viele Bedziner Juden, unter ihnen seine Eltern, vergast worden. Vier Wochen später hätten die Nazis dann ihn abgeholt. »Fünfund­dreißig Mitglieder meiner Familie wurden ermordet«, las Leon Schwarzbaum von seinem Zettel ab und Heller bewunderte den alten Mann für die Haltung, die er hier im Gerichtssaal angesichts dieser fürchterlichen Erlebnisse bewahrte. »Man ahnte, was in Auschwitz geschah. Die Maurer, die dort Gaskammern bauten, erzählten davon. Eltern warfen daraufhin ihre Kinder aus den Zügen in der Hoffnung, dass wenigstens diese überlebten.« Bei der Beschreibung der Geschehnisse auf der Rampe versagte Leon Schwarzbaums Stimme kurz, aber er zwang sich, weiterzuerzählen: »Ich stand daneben, als ein siebzehnjähriges Mädchen erschossen wurde. Sie hatte rote Haare. Ich sah, wie der SS-Sturmführer Schwarzhuber auf dem Motorrad vor einem Lastwagen herfuhr, auf dem nackte Menschen zusammengepfercht waren. Sie weinten, sie schrien, sie reckten die Hände zum Himmel. Dantes Inferno. Ich träume noch heute davon. Jeden Tag verfolgen mich die Bilder aus Auschwitz. Die SS war grausam und sadistisch.«

Im Gerichtssaal war es nun totenstill. Mit der Aussage Leon Schwarzbaums hatte sich die Atmosphäre vollständig geändert. Nichts mehr war zu spüren von der kalten juristischen Technokratie. Nur Reinhold Hanning schien von der Leidensgeschichte vollkommen unberührt.

Der Zeuge blickte von seinem Zettel auf und fragte in nachdenklichem Tonfall ohne bestimmtes Ziel: »Warum haben sie das getan? Warum haben sie alle diese Menschen umgebracht? Was war die Motivation? Das möchte ich gerne wissen.« Und direkt an den Angeklagten gewandt, fuhr er fort: »Herr Hanning, wir sind fast gleich alt und bald stehen wir vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordern: Sprechen Sie darüber, was Sie und Ihre Kameraden getan und erlebt haben.«

Der Angeklagte blickte vor sich auf die Tischplatte und schwieg. Keine Regung war seinem Gesicht anzusehen, kein Zucken um die Mundwinkel, nichts, das auch nur ansatzweise so etwas wie Gefühl verraten hätte.

Stattdessen meldete sich sein Verteidiger zu Wort: »Die Verhandlungszeit für meinen Mandanten ist abgelaufen. Laut medizinischem Gutachten sind ihm nur zwei Stunden zuzumuten. Davon müssen die Fahrt zum Gericht und fünfzehn Minuten vor Verhandlungsbeginn abgezogen werden. Folglich sind wir schon fünf Minuten drüber.«

Heller hätte den Mann erwürgen können.

Vor dem Gebäude hielt er nach der jungen Frau Ausschau, die vor der Verhandlung an der Aktion gegen die alte Dame beteiligt gewesen war. Sie befand sich in einer erregten Diskussion mit anderen Prozessbeobachtern und ereiferte sich gerade über die Schlussbemerkung des Verteidigers.

»Das ist doch unerträglich«, wütete sie. »Der arme Massenmörder kann nicht mehr als zwei Stunden am Tag behelligt werden, aber den Opfern mutet man zu, aus Israel und Kanada anzureisen, um hier ihre Aussagen zu machen. Der Rechtsstaat macht sich lächerlich und wir lassen das zu!«

»Immerhin findet der Prozess nun statt«, wandte ein Mann ein, den Heller auf etwa fünfzig Jahre schätzte. »Der Staat duldet keine Beteiligung am Massenmord. Das ist doch ein wichtiges Signal.«

»Ja, siebzig Jahre nach der Tat! Aber lassen wir das.« Die junge Frau winkte ab und wandte sich zum Gehen.

Heller trat ihr in den Weg und machte, als sie ihn grimmig anfunkelte, eine beschwichtigende Geste. »Fabian Heller, freier Journalist«, stellte er sich vor. »Ich würde Sie gerne einen Moment sprechen.«

»Worum geht’s?«

»Um die Situation vorhin hier vor dem Gebäude. Wer war die alte Frau, mit der Sie in Streit geraten sind?«

»Ich bin nicht mit ihr in Streit geraten, ich habe dafür gesorgt, dass sie verschwindet.«

»Das habe ich gesehen. Aber warum?«

»Weil das eine vorbestrafte Holocaust-Leugnerin ist. Ursula Haverbeck hat schon bei dem Gröning-Prozess in Lüneburg behauptet, dass Auschwitz gar kein Vernichtungslager gewesen sei, sondern lediglich ein Arbeitslager. Die Alte ist deshalb zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, aber das hält sie nicht davon ab, ihre rechte Hetze weiterhin zu verbreiten. Wenn wir sie nicht daran gehindert hätten, dann hätte diese Nazi-Tante eben im Gerichtssaal gesessen. Das wäre eine Verhöhnung der Opfer gewesen und die Polizei hätte nichts dagegen unternommen. Die wussten ja nicht mal, wer das war.«

Heller machte sich Notizen auf einem kleinen Spiralblock und sagte dann: »Frau …«

»Hesse.«

»Frau Hesse, Sie sind offenbar eine sehr engagierte Bürgerin. Ich habe Ihre Wut eben mitbekommen. Können Sie mir sagen, warum Sie so wütend auf die Justiz sind?«

»Weil sie sich vorführen lässt. Gucken Sie sich den Prozess gegen Beate Zschäpe in München an. Seit über drei Jahren führt die Nazisse die Justiz an der Nase herum. Die hat drei Verteidiger und wenn es eng wird, stellt sie einen Antrag auf Mandats-Entbindung. Diese Verbrecher bekommen jede Unterstützung und wie ist man mit den Opfern umgegangen? Kriminalisiert hat man die. Die Nachfahren und Überlebenden müssen mit ansehen, wie die Ehre ihrer Väter mit Füßen getreten wird, während die Ehre der Mörderin – mutmaßlichen Tatbeteiligten, da muss man ja sehr gut aufpassen – stets gewahrt werden muss. Und hier läuft wieder genau dieselbe Scheiße. Zwei Stunden sind dem Herrn Massenmörder zumutbar. Zwei Stunden! Das hat seit siebzig Jahren Methode in Deutschland. Wissen Sie, wie ich das finde? Zum Kotzen finde ich das!«

Sie drehte sich abrupt um und rauschte ohne Gruß in Richtung Parkplatz davon. Heller sah ihr nach und fragte sich, warum er selbst so ruhig bleiben konnte, obwohl er doch all dem zustimmte, was die junge Frau gesagt hatte. Und auch sonst regte sich niemand in seinem Umfeld dermaßen auf. Woher kam dieser Mangel an Empathie, diese Gleichgültigkeit?

Er steckte seinen Spiralblock in die Tasche und machte sich sehr nachdenklich auf den Rückweg zu seinem Wagen.

4

Die Paderborner Kreispolizeibehörde war in der Riemeckestraße untergebracht, in einem dreistöckigen Klinkerbau mit Flachdach. Das Gebäude machte einen hellen und freundlichen Eindruck, ganz anders als der schmutzigrote Ziegelbau der Hammer Polizeidirektion, der noch aus der Kaiserzeit stammte. Aber irgendwie wirkt das hier auch verschlafen, dachte Lenz. Hier also, in Paderborn, dem schwärzesten Loch der ostwestfälischen Provinz, würde er von nun an sein berufliches Leben fristen.

Na ja, wenigstens war das heute nur sein Antrittsbesuch. Gleich nachher würde er zu seiner neuen Wohnung in der Kisau fahren, sich ein, zwei Stunden aufs Ohr hauen und dann die Kneipen-Szene der Domstadt erforschen. Mit Bedacht hatte er sich inmitten von Studentenkneipen direkt am Paderquellgebiet eingemietet. Solche Viertel versprachen Abwechslung. Das bevorstehende Wochenende würde schon dafür sorgen, dass er den einen oder anderen Zufluchtsort für die langen Abende nach dem eintönigen Dienst fand. Seufzend schloss er die Zentralverriegelung seines Wagens.

In der funktionalen Halle suchte er sich auf dem Raumplan den Weg zur Direktion Kriminalität und zum Büro von Kriminaldirektor Heitkamp im 2. Stock. Dort angekommen, klopfte er an die Tür des Vorzimmers. Als er nichts hörte, drückte er die Klinke und trat ein. Der Schreibtisch der Sekretärin war leer, die Tür zum Büro nebenan stand offen. Also wandte er sich direkt dorthin.

Ein verhärmter Mittfünfziger in dunklem Anzug und mit glatten schwarzen Haaren saß hinter seinem Schreibtisch und blickte durch seine schwarzgerahmte Brille erstaunt auf, als Lenz an den Türrahmen klopfte und sich räusperte. Der Mann schien nicht gewohnt zu sein, von sich aus auf Leute zugehen zu müssen, und wartete mit missbilligendem Blick auf eine Erklärung für das unangemeldete Eindringen. So stellte man sich einen verknöcherten Verwaltungsbeamten vor.

»Kriminalhauptkommissar Stefan Lenz. Ich soll mich heute hier melden.«

»Herr Lenz!« Kriminaldirektor Heitkamp schnellte hoch und knöpfte sein Jackett zu. Dabei entwickelte er eine Lebendigkeit, die der Hauptkommissar ihm gar nicht zugetraut hätte. »Schön, Sie zu sehen. Bitte, nehmen Sie Platz.« Er deutete auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. »Haben Sie uns gut gefunden?«

»Bisschen komische Verkehrsführung an der Autobahnabfahrt, aber sonst kein Problem.«

»Schön, dass Sie es schon heute einrichten konnten«, freute sich Heitkamp. »Das gibt uns die Gelegenheit, offene Fragen vorab zu klären. Dann können Sie am Montag gleich durchstarten.« Erwartungsvoll strahlte er seinen neuen Mitarbeiter an.

Lenz hatte keine offenen Fragen. Er würde die Leitung des Kriminalkommissariats 1 der Paderborner Kreis­polizei­behörde übernehmen, das für Todesermittlungen, Sexualdelikte, Qualifizierte Körperverletzungen, Brandermittlungen und Umweltdelikte zuständig war. Die Bewerbung war glatt durchgegangen. In Hamm war er längst abgemeldet, heute war der letzte Tag seines Resturlaubs, ab Montag stand er den Paderbornern zur Verfügung. Was sollte es da noch für offene Fragen geben? Also wartete er ab, was von dem Kriminaldirektor kam.

Aber auch der schien von sich aus das Gespräch nicht voran­treiben zu wollen. Schließlich räusperte er sich verlegen und griff nach einer Mappe, die oben auf einem Stapel zu seiner Rechten lag. »Ihre Personalakte ist eingetroffen. Sie haben eine beeindruckende Aufklärungsquote. Ich bin sicher, dass Ihre Vorgesetzten in Hamm Sie ungerne ziehen lassen.« Er lachte trocken auf und blickte Lenz auffordernd an.

Der hütete sich, das Gegenteil zu gestehen. Heitkamp würde ihn früh genug selbst kennenlernen. Stattdessen nickte er zweideutig lächelnd.

»Nun ja«, fuhr der Kriminaldirektor fort und schloss die Personalakte wieder. »Von meiner Seite aus ist alles klar. Wenn Sie keine Fragen haben, schlage ich vor, dass ich Ihnen Ihre neuen Kollegen vorstelle.«

»Gerne.« Lenz schob den Stuhl zurück und stand auf.

Kriminaldirektor Heitkamp umrundete seinen Schreibtisch und ging vorweg zur Tür. »Sie werden sicher gut mit Ihrem Kollegen Schröder auskommen. Ein umgänglicher Typ, immer korrekt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Lenz hoffte, dass er den Kriminaldirektor nicht richtig verstand. Korrekte Typen hatte er gefressen. Die machten Cops wie ihm immer nur das Leben schwer. Aber er verkniff sich eine entsprechende Replik.

»Frau Gladow ist erst seit Kurzem bei uns«, fuhr Heitkamp fort, während sie zügig den Flur entlanggingen. »Sie kennt sich mit den modernen Medien hervorragend aus und ist schon allein dadurch eine Bereicherung für unsere Dienststelle.« Wodurch sonst noch, ließ er offen.

Am Ende stieß er ohne anzuklopfen eine Tür auf, neben der ein Wandschild darauf hinwies, dass sich KHK Schröder und KK Gladow das Büro teilten. »Niemand da«, stellte er nach einem etwas zu langen Rundumblick enttäuscht fest.

Er eilte durch eine Verbindungstür nach links in das Vorzimmer, Lenz immer hinter ihm her. Eine dunkelhaarige Frau saß an einem Schreibtisch und tippte etwas in ihre Computertastatur.

»Frau Gellert, darf ich Ihnen Ihren neuen Chef vorstellen? Das ist Kriminalhauptkommissar Lenz. Er wird ab Montag diese Dienststelle leiten.«

Frau Gellert blickte zunächst erstaunt, setzte aber dann ein professionelles Lächeln auf und reichte ihrem neuen Chef die Hand. »Freut mich.«

Lenz wunderte sich über den frostig distanzierten Unterton. Im Widerspruch dazu fühlte er die zarte Haut der Hand und verfing sich für einen Moment in den blauen Augen. Mitte bis Ende dreißig, schulterlange Haare, hübsches Gesicht, nicht zu püppchenhaft, ganz ansehnliche Oberweite – genau sein Beuteschema.

Nicht schon wieder, dachte er erschrocken und ließ die Hand los. Sex am Arbeitsplatz bringt nur Ärger. Ein paar Wochen Spaß, dann wird man die Weiber nicht mehr los und am Ende zicken sie nur noch rum und stören den Betriebsfrieden. Nach dem letzten Fiasko mit einer Kommissar-Anwärterin in Hamm, mit dem er nur haarscharf an einem Disziplinarverfahren vorbeigeschrammt war, hatte er sich selbst ein Gelübde auferlegt: In Zukunft waren Kolleginnen und Mitarbeiterinnen grundsätzlich tabu. Schade eigentlich, dachte Lenz nun und löste sich mühsam aus Frau Gellerts blauen Augen.

»Wo sind Schröder und Gladow?«, fragte Heitkamp.

»Im Besprechungsraum. Wir haben heute Morgen eine Leichensache reinbekommen.«

»Eine Leichensache?«, fuhr Heitkamp auf. »Und warum weiß ich davon nichts?«

Frau Gellert schwieg, während der Kriminaldirektor sich wieder Lenz zuwandte.

»Hm, das ist natürlich dumm jetzt.« Heitkamp dachte sichtbar angestrengt nach. »Ach was«, sagte er schließlich. »Kommen Sie, Herr Lenz. Das ist eine gute Gelegenheit, sich sofort ein Bild von Ihrer neuen Mannschaft zu machen.« Er stürmte durch die Bürotür und bog schnellen Schrittes nach links ab.

»Herzlich willkommen«, sagte Frau Gellert nun lächelnd und zwinkerte Lenz zu.

Der zog die Augenbrauen hoch und folgte dem Kriminaldirektor.

»Sieht nach unglaublichem Hass aus«, stellte Kriminalhauptkommissar Schröder gerade fest, als Heitkamp und Lenz den Raum betraten.

Auf einem Smartboard lief eine Diashow mit Tatortfotos ab, bei der viel Blut und wenig Mensch zu erkennen waren. Um einen u-förmigen Tisch saßen drei Männer und kritzelten Notizen auf ihre Blöcke, eine junge Frau tippte flink auf einem Tablet herum.

Schröder ignorierte die Neuankömmlinge und fuhr fort: »Der Täter hat gezielt den Kopf des Opfers zerstört und die Hände. Man darf annehmen, dass er dadurch eine Identifizierung zumindest erschweren wollte. Außerdem gibt es frische Verletzungen auf dem Rücken, die auf Folter hinweisen und offenbar von einer Peitsche herrühren. Genaueres wird die Obduktion ergeben.«

Lenz betrachtete das aktuelle Foto und war sofort wie elektrisiert, als er den völlig zermalmten Schädel sah, beziehungsweise das, was einmal ein Schädel gewesen sein musste. Das war mal was anderes als die Schuss- und Stichverletzungen, mit denen er es in den letzten Jahren im Hammer Südstraßen-Milieu überwiegend zu tun gehabt hatte.

»Dürfen wir kurz stören?«, unterbrach Kriminaldirektor Heitkamp ungeduldig, wobei sein Tonfall schon voraussetzte, dass ein Nein undenkbar war. Entsprechend wartete er nicht auf eine Antwort. »Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen den neuen Leiter des Kriminalkommissariats 1 vorstellen. Kriminalhauptkommissar Lenz wechselt von der Polizeidirektion Hamm nach Paderborn und wird am Montag seinen Dienst bei uns antreten. – Herr Lenz, das hier ist also Ihre neue Mannschaft.«

Als wäre gerade eben eine Handgranate explodiert und hätte nichts als Vernichtung hinterlassen, herrschte augenblicklich absolute Stille im Raum. Alle Augen richteten sich distanziert auf Lenz. Dann machte sich Gemurmel breit und die Kollegin und Kollegen blickten KHK Schröder an, als erwarteten sie von ihm nun eine eindeutige Reaktion. Der stand jedoch wie versteinert vor dem Smartboard und war offenbar zu keiner Regung in der Lage.

Oha, dachte Lenz, der hat bis eben geglaubt, dass er den Job kriegt. Er deutete Heitkamp mit dem Kopf an, dass er ihn auf dem Flur zu sprechen wünsche. Irritiert wanderten die Augen des Kriminaldirektors zwischen Lenz und Schröder hin und her, dann nickte er kurz und trat hinaus. Lenz folgte und zog die Tür hinter sich zu.

»Auf ein Wort, Herr Kriminaldirektor«, begann Lenz und blickte seinem Vorgesetzten direkt in die Augen. »Ich bin es von meinen bisherigen Dienststellen in Dortmund und Hamm so gewohnt, dass nichts hinter dem Rücken der Kollegen geschieht. Und ich bin ein Verfechter des offenen Wortes. Deshalb muss ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Vorgehensweise nicht in Ordnung finde.«

Kriminaldirektor Heitkamp fixierte Lenz mit hochgezogenen Brauen. »Wie darf ich das verstehen?«, fragte er mit lauerndem Unterton.

»Ich hatte eben den Eindruck«, fuhr Lenz unbeirrt fort, »dass kein Mensch in meiner neuen Abteilung darauf vorbereitet worden ist, jemanden von außen vor die Nase gesetzt zu bekommen. Das geht nicht. Es erschwert meine Arbeit hier, bevor ich noch richtig angefangen habe. Und ich kann es noch nicht einmal jemandem verübeln, wenn er mich im Regen stehen lässt, denn Ihr Vorgehen ist in höchstem Maße unkollegial den anderen Anwärtern gegenüber. In Zukunft erwarte ich von Ihnen, dass Sie mir und meinen Mitarbeitern mit offenem Visier begegnen. Schließlich erwarten auch Sie Loyalität von uns.«

Kriminaldirektor Heitkamps Augen hatten sich während der letzten Sekunden zu Schlitzen verengt. Sein Gesichtsausdruck war kalt und versteinert. »Herr Lenz«, entgegnete er mit drohend leiser Stimme, »Sie sind neu hier und kennen mich noch nicht, deshalb werde ich Ihnen diese Unverschämtheit nicht nachtragen. Aber lassen Sie sich für die Zukunft eines gesagt sein: Hier bei uns gilt der Richtspruch: ›Man beißt nicht die Hand, die einen füttert‹. Bedenken Sie das bitte, bevor Sie noch einmal derart subordinär werden.«

Damit wollte er sich grußlos entfernen, doch das ließ Lenz nicht zu. »Kann es sein, Herr Kriminaldirektor, dass Sie einem Irrtum unterliegen?«

Heitkamp drehte sich halb herum und schaute ihn erstaunt an. »Welcher Art sollte der sein?«

»Sie scheinen zu glauben, dass ich Ihnen Dank schulde, weil Sie mir die Leitung des Kommissariats anvertraut haben.«

Nun drückten Heitkamps groß aufgefahrene Augen so etwas wie Erstaunen darüber aus, dass jemand das anders sehen könnte als er.

»Dem ist aber nicht so«, fuhr Lenz standhaft fort. »Sie haben mich auf den Posten geholt, weil ich ein sehr guter Bewerber war und über erstklassige Beurteilungen verfüge. Das Einzige, was ich Ihnen dafür schulde, ist sehr gute Arbeit. Das hat für Sie den Vorteil, dass Sie mir für meine Dienstausübung ebenfalls nichts weiter schuldig sind, als dafür zu sorgen, dass ich die nötigen Kapazitäten zur Verfügung habe, und dass das Land mir mein Gehalt pünktlich überweist. Ich denke, auf der Basis lässt sich wunderbar zusammenarbeiten, solange ich nicht ständig das Gefühl haben muss, dass Sie noch etwas in petto haben.«

»Dann strengen Sie sich mal an, damit Sie auch Erfolge liefern, Herr Lenz, sonst sehe ich auf mittlere Sicht Schwarz für eine gute Zusammenarbeit. Der aktuelle Fall bietet Ihnen eine gute Gelegenheit dazu. Ich schlage vor, Sie fangen sofort an. Für mich sahen die Tatortfotos so aus, als würde die Bildung einer Mordkommission notwendig. Ich erwarte dann zeitnah Ihren Bericht. Guten Tag!«

Super Einstand, fluchte Lenz innerlich und blickte dem davoneilenden Kriminaldirektor nach. Dann zuckte er die Achseln und ging zurück in den Besprechungsraum.

Schröder hatte sich inzwischen offenbar gefangen und den Bericht fortgesetzt. Nun schaute er fragend auf. Lenz gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er sich nicht unterbrechen lassen solle, und setzte sich auf einen freien Stuhl. Die anderen Beamten fixierten betont angestrengt ihre Schreibblöcke, nur die junge Kollegin sah ungeniert neugierig zu Lenz herüber.

Schröder räusperte sich und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Der Tote konnte noch nicht identifiziert werden, weil er keine Ausweispapiere bei sich trug. Eine Anfrage bezüglich vermisster Personen bei den Kollegen läuft und bringt uns hoffentlich bald weiter. Solange wir noch keinen Anhaltspunkt haben, werden wir nach ähnlichen Fällen suchen, zunächst rückwirkend für die letzten zehn Jahre. Hier im Kreis Paderborn ist mir kein vergleichbarer Fall bekannt, deshalb beziehen wir die Nachbarkreise mit ein und zapfen auch die Datenbank des LKA an.«

Lenz ahnte, was in den Köpfen der Kollegen vor sich ging. Niemand vergrub sich gerne in alten Akten und stocherte im Ungewissen. Umso erstaunter war er über die Disziplin, die in dieser Dienststelle an den Tag gelegt wurde: Alle nickten zustimmend, niemand stöhnte oder verzog auch nur das Gesicht. Da war er aus Hamm Anderes gewohnt.

Schröder wechselte zu dem nächsten Foto, das einen blutigen Felsbrocken auf Kopfsteinpflaster zeigte. »Die Kriminaltechnik konnte inzwischen anhand eindeutiger Spuren nachweisen, dass der Stein, mit dem das Opfer erschlagen wurde, von dem bewaldeten Hang unterhalb der Burg stammt. Vielleicht lassen sich Fingerabdrücke darauf sichern, aber ich fürchte, die Chance, dass der Täter sich auf dem Stein verewigt hat, ist denkbar gering. Tja, Kollegen, mehr haben wir momentan leider noch nicht. Hat jemand eine Frage?«

»Wenn ich die Örtlichkeiten richtig vor Augen habe«, meldete sich einer der jungen Beamten zu Wort, »dann befindet sich der Tatort doch in der Nähe von Wohnhäusern.«

»Das ist richtig«, antwortete Schröder. »Gegenüber der Burgmauer befinden sich einige wenige Häuser, allerdings mit ihrer Rückseite. Von den Anwohnern hat niemand etwas gehört oder gesehen.«

»Was auf einen Tatzeitpunkt hindeutet, der irgendwann zwischen zwei Uhr nachts und fünf Uhr morgens liegen dürfte«, stellte der junge Kollege fest. »Also in einem Korridor, in dem der Täter nahezu sicher sein konnte, dass niemand mehr wach ist und noch keiner für die Frühschicht aufgestanden ist.«

»Davon ist auszugehen, ja.« Schröder nickte. »Allerdings ist die Umgebung der Burg auch nicht gerade das Zentrum des Dorfes. Wer nicht im Kreismuseum oder in der Jugendherberge arbeitet, benutzt die Zufahrtstraße nicht.« Er blickte in die Runde und wartete auf weitere Fragen. Als niemand Anstalten machte, sich zu Wort zu melden, sah er Lenz her­aus­fordernd an.

Der nickte, stand auf und ging nach vorne. Er stellte sich neben Schröder und nahm der Reihe nach Blickkontakt zu jedem der Anwesenden auf.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen«, begann er dann, »mir ist natürlich nicht entgangen, dass Sie von meinem Erscheinen überrascht worden sind. Ich war davon ausgegangen, dass Kriminaldirektor Heitkamp Sie vorher informiert hat. Nun gut … Dass das nicht geschehen ist, ändert nichts an der Tatsache, dass wir ab sofort zusammenarbeiten werden. Über die Struktur unseres Kommissariats mache ich mir Gedanken, wenn ich mir einen Überblick verschafft habe. So lange bleibt der Kollege Schröder übergangsweise mein Stellvertreter.«

»Was soll das heißen: übergangsweise?« Schröder drehte sich Lenz mit schräggelegtem Kopf halb zu und stemmte die Fäuste in die Seiten. Die leichte Röte seiner Wangen verriet, dass seine anfängliche Versteinerung sich in einen gesunden Zorn verwandelt hatte. »Ich bin der dienstälteste Beamte hier und habe das Kommissariat bisher stellvertretend und seit der Pensionierung Kriminalrat Schultes kommissarisch geleitet.«

»Das heißt genau das, was ich gesagt habe. Ich werde eine Neuordnung des Kommissariats vornehmen, sobald ich einen hinreichenden Überblick habe. – Und nun, Herr Kollege, stellen Sie mir bitte alle Anwesenden vor.«

Schröder hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. Er biss sich auf die Unterlippe und atmete schwer. Lenz ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich wieder zu fangen, und sah sich derweil um. Dabei entging ihm nicht, dass die junge Beamtin, die Mitte oder höchstens Ende zwanzig sein konnte, auffallend hübsch war mit ihren dunklen, nach hinten zum Pferdeschwanz zurückgebundenen Haaren und rehbraunen Augen. Sie hatte ein schlankes Gesicht mit deutlich strukturierenden Wangenknochen, aber nicht hager, sondern sehr schön proportioniert. Ihre fast schon provokativ körperbetonte Kleidung wirkte so sportlich wie leger: Zu einer dunklen Bluse, deren obere Knöpfe nicht geschlossen waren, trug sie knallenge Jeans und knöchelhohe dunkelrote Lederstiefel. Außerdem begegnete sie Lenz’ Blick mit einem spöttischen Grinsen, wie der nun peinlich berührt feststellen musste.

Schröder, der sich inzwischen wieder gesammelt hatte, stellte sie ihm als Kriminalkommissarin Gina Gladow vor. Die männlichen Beamten waren Kriminalkommissar Gisbert Henke und die Oberkommissare Jochen Steinkämper und Franz-Georg Jakobsmeier. Gemessen an ihrer Kollegin sahen sie durchschnittlich aus und wären Lenz auf der Straße sicher nicht näher aufgefallen. Allerdings schienen alle Beamten sich in einem Alterskorridor zwischen Mitte dreißig und vierzig zu bewegen, von Gladow und Schröder einmal abgesehen. Ein junges Team, dachte Lenz, da würde es ihm nicht schwerfallen, sich von Anfang an Respekt zu verschaffen. Nur mit Hauptkommissar Schröder musste er angesichts seines Dienstalters umsichtig sein, das war ihm klar.

»Danke, Herr Schröder.« Er wandte sich den jungen Kollegen zu. »Wir werden genau so verfahren, wie der Kollege Schröder vorgeschlagen hat, und erst einmal klären, wer das Opfer ist. Die Mordkommission wird vorerst von unserem Kommissariat gebildet. Die Arbeitseinteilung nimmt Herr Schröder vor, da er Ihre individuellen Kompetenzen besser einschätzen kann als ich. Sollte sich herausstellen, dass wir weitere Expertise aus anderen Abteilungen oder eventuell sogar aus benachbarten Kreisen benötigen, werden wir die Moko ausweiten. Sie, Kollege Schröder, leiten das gegebenenfalls unbürokratisch in die Wege. Ich möchte allerdings vorab informiert werden.«

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
562 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839265208
Издатель:
Правообладатель:
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