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Que Lastima

Route 45 South, Texas

Freitag, 21:40 Uhr

Im Regen sank die Temperatur so weit, dass ich die Autoheizung einschaltete. Die Scheiben beschlugen allmählich immer mehr, und weil mich die Straßenbeleuchtung der Nässe wegen bereits blendete, brauchte ich ganz bestimmt nicht auch noch einen geisterhaften Schleier, der mein Sichtfeld eintrübte; das erledigte der Whiskey für sich genommen nämlich schon relativ gut. Die Scheibenwischer bewegten sich im Takt zu Willie Nelsons »It’s Cryin’ Time Again« und schläferten mich beinahe ein, doch die laute Hupe eines Sattelschleppers rüttelte mich sofort wieder wach. Die Schwellenstreifen am Fahrbahnrand dienten mir als weitere Mahnmale dafür, dass ich, falls ich nicht aufpasste, einen Unfall bauen würde. Und das hätte diesem vollkommen beschissenen Tag wirklich noch die Krone aufgesetzt. Ich riss das Lenkrad herum und bemühte mich, den Barracuda wieder in die Spur zu bringen. Als ich ihn wieder zwischen den Markierungen platziert hatte, atmete ich erleichtert auf.

Ich fuhr mit starkem Rückenwind, und im Blitzgewitter, das die texanische Nacht erhellte, fiel plötzlich ein Foto hinter der Sonnenblende heraus direkt auf meinen Schoß. Ich nahm es und warf einen kurzen Blick darauf. Der Wagen scherte nun unvermittelt aus, da ihn gerade eine weitere Bö erfasste.

Deshalb hielt ich am unbefestigten Randstreifen an und brachte den Schaltknüppel in Parkstellung. Das Foto rutschte mir aus den Fingern, doch ich erwischte es in der Luft. Dann drückte ich es an meine Brust und kämpfte abermals gegen die Tränen an. Schließlich streckte ich mich zur Beifahrerseite aus, öffnete das Handschuhfach und nahm den Flachmann wieder heraus. Ich lehnte mich zurück und verschnaufte kurz. Nach einem kräftigen Schluck atmete ich schon wieder ruhiger, konnte aber weiterhin nichts anderes tun, als das Bild anzustarren.

»Es tut mir so leid.« Jetzt flossen meine Tränen, genauso wie der kalte Guss draußen rings um den brummenden Plymouth herum. Mein Körper bebte vor Verzweiflung, während dieser merkwürdige gelbe Regen das stehende Fahrzeug umwehte. Heute Nacht würde ich es nicht mehr bis nach Houston schaffen, denn der Versuch wäre glatter Selbstmord gewesen. Nicht, dass selbiger an diesem miserablen Punkt in meinem Leben eine allzu schlechte Option gewesen wäre, doch meine innere Stimme der Vernunft setzte sich schließlich durch. Ich beschloss, eine Weile zu pausieren, mir vielleicht etwas zum Futtern zu besorgen und dann ein Nickerchen zu machen.

Nachdem ich das Foto geküsst hatte, steckte ich es in meine Hemdtasche, schaltete die Automatik wieder ein und fuhr zurück auf den nassen und glatten Highway. Die breiten Reifen des Barracudas ließen Schotter in die Höhe stieben, bevor ich weiter in Richtung Süden fuhr, wo ich eine anständige Unterkunft für die Nacht finden wollte.

Dazu hätte mir eigentlich jede Neonreklame genügt, die Alkohol versprach, und irgendetwas sagte mir, dass Inez sowieso nicht zu Hause sein würde, wenn ich dort eintraf. Ich nahm den Flachmann wieder vom Beifahrersitz und trank weiter – ich leerte ihn und warf ihn dann nach hinten, wo er klingelnd auf weiterem Leergut im Fußraum landete. Jetzt musste ich erst recht eine Kneipe finden.

Hier war ich nun: James Matthew McCutcheon, Texas Ranger und bärbeißiger Aufklärer aus dem Marinekorps, ein Krieger hart wie Stahl und doch weitaus schwächer, als ich es je jemandem gezeigt hatte oder es zuzugeben bereit gewesen wäre, weil mir einfach die Chuzpe dazu fehlte – eine gehörige Lehre, dir mir von James McCutcheon Senior erteilt worden war. Mir waren zahlreiche Narben zur Erinnerung an die harte Ausbildung unter der Fuchtel des Kanoniers geblieben, doch es gab immer noch Dinge zu lernen, auf die mich der alte, versoffene Marine nicht hatte vorbereiten können. Die Dämonen der McCutcheons waren nämlich von einem meiner Whiskey- und blutgetränkten Ahnen zum nächsten weitergegeben worden. Zu keiner Zeit im Laufe der Jahrhunderte hatte irgendein Vorfahr irgendetwas anderes als das Herz der Frau gebrochen, die ihn liebte, und die Kieferknochen derer, die ihm in die Quere kamen.

Meine Mutter hatte unter dem Familienfluch gelitten, meine ältere Schwester Amy ebenfalls. Dem Kanonier waren nämlich immer leicht die Sicherungen durchgebrannt, und das Mädchen hatte sich offenbar noch so sehr bemühen können, ihn dabei aber nur noch schneller in Fahrt gebracht. Jedenfalls schien sie stets alles ausbaden zu müssen. Amy war jedoch stark gewesen und hatte dem Veteranen nie gezeigt, dass er ihr wehtat. Sie hatte seine Hiebe ertragen – schweigsam unterwürfig und verstockt entschlossen. Ich hatte jedes Mal einschreiten wollen, wenn die schwere Hand über meiner großen Schwester niedergegangen war, und es einmal sogar versucht; ein Nasenbruch war jedoch Garant dafür gewesen, dass ich nie wieder so mutig handeln würde. Viele Nächte lang hatte ich damit verbracht, in mein durchgeschwitztes Kissen zu weinen, während Amy mit ihrer täglichen Tracht »Disziplin« bedacht worden war – und zu Gott gebetet, er möge sie doch bitte wegzaubern und vor der rohen Gewalt meines alten Herrn bewahren.

Meine verzweifelten Bitten wurden aber erst zwölf Jahre später erhört, als Amy beschloss, die McCutcheon-Dämonen endgültig zum Schweigen zu bringen, und zwar mit dem Lauf einer Kanone.

Das Einzige, was der verbitterte Kanonier bei ihrer Totenwache zu bieten gehabt hatte, war: »Das Miststück hatte einfach kein Gefühl für Ehre … keinen Stolz. Sie war schwach, denn nur Schwächlinge schlucken eine Kugel. Gut, dass wir sie los sind.«

Nach diesen ätzenden, vom Alkohol durchdrungenen Worten, die geradezu von seinen giftigen Lippen getropft waren, hatte sich der alte Mann mit einem Ärmel den Mund abgewischt.

Jener faule Apfel war aber offenbar nicht weit vom der Hölle entwachsenen Stamm gefallen. So sehr ich mich auch um das Gegenteil bemühte und dagegen ankämpfte, war ich doch auf dem besten Weg dazu, die Tradition fortzuführen. Während die Meilen im Regen an mir vorbeizogen, schwirrte mein Kopf vor guten aber auch finsteren Erinnerungen. Auch weil ich spürte, wie erneut Tränen in meinen erschöpften Augen aufwallten, wusste ich genau, dass ich diese Pause unbedingt brauchte. Aus dem Bauch heraus, setzte ich deshalb den rechten Blinker und verließ den Highway in der Hoffnung, Zuflucht in einer Flasche finden zu können.

Auf einer halb beleuchteten Neontafel in Rot und Blau las ich trotz Regen und kalter Finsternis: »Moes Whiskey Horseshoe Lounge und Busstation – die besten Grillspezialitäten diesseits des Mississippis« Das Schild trotzte der Nacht, und kam mir deshalb wie ein Fanal der Hoffnung und Erlösung vor. Was es genau bedeutete, war mir vollkommen gleich. Ich wollte … und brauchte nur eines: einen trockenen Platz, um etwas zu trinken – um mit diesem beschissenen Tag abschließen zu können. Der morgige Tag kroch nämlich bereits auf mich zu wie eine tödliche Spinne, und ich hatte genauso wenig Einfluss auf ihn wie auf den bescheuerten gelblichen Regen, der die ganze Zeit wie Pisse über mir niederging. Ich war definitiv durstig, und Moe würde mir deshalb perfekt in den Kram passen.

Das Lokal war in einem zweistöckigen Kasten untergebracht, an dessen rechter Seite eine klapprig aussehende Markise hing und ein silberner Greyhound-Bus tuckernd darauf wartete, dass eine Handvoll müder Reisender durch die offene Tür nach draußen wankte. Ungefähr ein Dutzend Lieferwaren und andere Fahrzeuge standen auf dem mit Schlaglöchern übersäten Parkplatz. Jemand hatte sogar einen alten, rostigen John-Deere-Traktor zwischen einen blauen Kenworth und einen kotzgelben Chevy Stepside gezwängt. Der Regen ließ einfach nicht nach und durchweichte den verblassenden, weißen Putz von der Fassade des Gebäudes, dem wahrscheinlich nur noch zwei Verstöße gegen die Sicherheitsverordnungen fehlten, um abgerissen zu werden.

Aber auch das interessierte mich im Moment kein bisschen. Hier gab es nämlich kaltes Bier und Kentucky Bourbon, wenn ich Glück hatte. Ich bog mit dem Barracuda neben einem weißen Ford Pinto mit beschlagenen Scheiben ein. Das Heck des Autos wippte so heftig auf und ab, dass die Stoßdämpfer glatt brechen könnten. Ich schüttelte nur den Kopf, parkte und stieg aus. Es war bestimmt gut zehn Grad kälter geworden. Nachdem ich den Kragen meiner braunen Jacke hochgeklappt und mir den dunkelgelben Stetson ins Gesicht gezogen hatte, ging ich zum Eingang der Kneipe, ohne mich um das Stöhnen zu kümmern, das aus dem wackelnden Pinto kam.

Als ich die schwere Tür öffnete und eintrat, löste dies das mechanische Muhen einer Kuh aus.

»Oh, das kann ja eine Mordssause werden«, murmelte ich fassungslos und schlurfte weiter. Die Hitze in dem Gebäude ließ mich erschaudern, während ich mich im schwach beleuchteten Raum umschaute. Hier herrschte reger Betrieb, und dies was definitiv nicht das, was ich mir erhofft hatte. Nun ja, es musste trotzdem genügen. Ich hatte von Texas bis Thailand eine Vielzahl von Spelunken und Absteigen gesehen und sie alle boten immer dreierlei: Fusel, Faustkämpfe und Frauen … und auch davon hatte ich zweifellos eine Menge hinter mir. Heute Nacht aber war mir nur an Ersterem gelegen. Seit ich mich vor meinem Flug nach Washington mit Inez überworfen hatte, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, doch jetzt war ich hier – zurück auf vertrautem Terrain. Der Kater lässt das Mausen nicht, dachte ich resignierend und näherte mich der langen Eichentheke zu meiner Linken. Jamie Rogers säuselte gerade »In The Jailhouse Now« aus einer alten Jukebox rechts in der Ecke neben der Toilette und einem zweiten Eingang. Mochten sich alte Gewohnheiten auch schwer überwinden lassen, diese tat mir sogar wirklich gut.

Das verrauchte Lokal war prall gefüllt mit LKW-Fahrern, die äußerst rauflustig aussahen, und Einheimischen, die sich offenbar besaufen wollten und Beischlaf suchten. Meine Interessen deckten sich momentan zur Hälfte mit ihren. Den Wirt, der die Haare kurzgeschoren hatte, begrüßte ich, indem ich mir kurz an den Hut tippte. Dabei fielen mir ein paar freie Plätze hinter der Tanzfläche neben den Billardtischen auf. Ich zog eine Kippe hervor – Lark dieses Mal – und steckte sie mir an, nachdem ich einen Stuhl auf der anderen Seite des Raumes gefunden hatte, der nicht weit vom Billardbereich entfernt war, wo es gerade vor lauten Spielern wimmelte. Ich setzte mich schnell, denn ich wollte die Gruppe Betrunkener, die ausgelassen tanzten und flirteten, möglichst meiden. Nachdem ich meine Jacke ausgezogen und über den Stuhl neben mir gehängt hatte, blies ich Zigarettenqualm in die Luft und legte meine Füße auf dem Platz gegenüber hoch. Die Musik war laut, und im Saal gab es viel zu viele dunkle Ecken und tote Winkel, die mich echt nervös machten.

Im Fernseher über dem Tresen quasselte gerade irgendein Reporter aus New York etwas von einer Störung dieser oder jener Art, aber Mensch, die gibt es dort oben doch alle paar Sekunden, dachte ich.

Gönn dir mal eine Auszeit, alter Trottel, sagte ich zu mir selbst und schnippte Glut in den Metallaschenbecher auf dem von Bier ganz klebrigem Tisch. Die Kundschaft war mir überhaupt nicht geheuer und ich wollte nichts mit ihr zu tun haben. Deshalb nahm ich mir vor, mich schleunigst wieder zu verpissen, nachdem ich etwas gegessen und noch einmal versucht hatte, Inez anzurufen. Das mochte zwar vergebliche Liebesmüh sein, doch wenigstens versuchen musste ich es. Ich drückte die Zigarette aus und stieß eine letzte Wolke Qualm aus, als eine beleibte Kellnerin mit drallen Brüsten näherkam, über denen sich ihr »Moes Whiskey Horseshoe Lounge«-T-Shirt spannte. Ihr wasserstoffblondes Haar war auf ihre alten Tage offenbar zu oft gefärbt worden und erweckte deshalb den Eindruck, sie sei zehn Mal hintereinander zu schnell geschleudert und anschließend zu heiß getrocknet worden. Ihre kurze Bluejeans lag enger an, als es gut für sie war, denn ihr Bauch schien unbedingt aus seinem Textilgefängnis quellen zu wollen.

»Howdy, Süßer. Was darf ich dir bringen?«

Sie klang abgeschlagen – ein Gefühl, das ich nur zu gut kannte. Ich hob kurz meinen Hut und nickte. »N’Abend. Ich hätte gern einen kurzen Whiskey und ein Coors.« Beim Bestellen schaute ich ihr nicht in die Augen. Anschließend pflückte ich die nächste Zigarette aus meiner Brusttasche und zündete sie an.

»Gerne. Wenn du was zu futtern willst, Darling, hab ich ‘ne Karte.« Sie lächelte und stemmte eine Hand gegen ihr breites Becken.

»Äh, ja. Nur einen Burger und Fritten, Ma’am.« Dann stand ich auf, inhalierte Rauch, zog einen Fünfziger aus meiner Brieftasche und ließ ihn auf ihr Tablett fallen. »Ach, und mein Glas immer hübsch wieder vollmachen, seien Sie so gut.«

»Sollst du haben, Schnuckel.« Sie ließ ihre Hand hinunterhängen, drehte sich auf ihren abgetragenen Sohlen um und kehrte zum Tresen zurück.

»Einen Moment noch.« Ich beugte mich zu ihr, um ihr Namensschild lesen zu können, das beinahe flach auf ihrem üppigen Dekolleté lag. »Suzie, haben Sie hier auch ein Münztelefon?«, fragte ich und lächelte müde.

»Gleich dort drüben zwischen der Jukebox und dem Männerklo, Süßer.« Sie zwinkerte mir zu und strahlte mich mit ihrem stark geschminkten Gesicht an.

»Danke.« Wieder tippte ich mir an den Stetson, grinste und ging an dem Haufen betrunkener, grölender Rednecks vorbei, die auf dem rot und blau beleuchteten Parkett aus Kunstholz tanzten. Ich war fest entschlossen, mir eine Auszeit zu gönnen, und sie sollte genau jetzt beginnen. Fünf oder sechs grobschlächtig wirkende Typen standen an der Jukebox, lachten und riefen Buchstaben sowie Nummern bestimmter Lieder. Ich ließ mich von den provozierenden Blicken, die sie in meine Richtung warfen, aber nicht beirren, und sah den Telefonapparat nun im Rotlicht am Ende des Flurs neben den Scheißhäusern hängen. Nachdem ich eine Handvoll Kleingeld aus meiner Baumwollhose gekramt hatte, nahm ich den Hörer in die Hand und begann wahllos Münzen in den Schlitz zu werfen.

Dann drehte ich an der Wählscheibe, woraufhin es kurz in der Leitung knackte und ich durchgestellt wurde. Mein anderes Ohr hielt ich mir zu und lehnte mich gegen die schmutzige Wand, an der Anschläge wegen entlaufener Hunde, Verkaufsangebote für alte Waschmaschinen und Kontaktwünsche verzweifelter Seelen hingen, die sich für Fellatio in der gemütlichen Toilette keine fünf Fuß weiter anboten.

Als die ersten Takte von »I Fall To Pieces« aus den Boxen drangen, johlte und heulte die ganze Kneipe. Ich musste nun die ganze Hand auf mein Ohr pressen und machte einen Buckel, um mich gegen die gewölbte Trennwand der Zelle zu zwängen. Man hätte glatt glauben können, die Gäste wüssten, dass ich an der verdammten Strippe hing, denn fast wie auf Kommando schwoll ihr bierseliges Gegröle noch einmal um geschätzte hundert Dezibel an.

Nach dem Knacken in der Leitung wurde ich durchgestellt. Als es zu tuten anfing, bückte ich mich in die Nische hinein, damit ich hoffentlich besser hören konnte. Ich zählte leise mit, bis es zwanzig Mal geklingelt hatte und der Anrufbeantworter ansprang. Dann musste ich mich von meiner eigenen nüchternen Stimme belabern lassen. Scheiße aber auch, ich klinge tatsächlich wie ein Arschloch.

»Hallo, Sie haben die 213-212- 4395 gewählt, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.« Ich staunte darüber, wie bemitleidenswert und elend sich meine Stimme anhörte, sogar auf Tonband.

Wenngleich ich mir extrem dämlich dabei vorkam, mit mir selbst zu sprechen, musste ich unbedingt etwas sagen. »Inez, Schatz, ich bin es. Ich wollte bloß mit dir reden. Gehst du bitte ran? Ich würde mich wirklich gerne mit dir unterhalten. Komm schon.« Meine Zuversicht verließ mich, als sich der Anrufbeantworter mit einem Klicken abschaltete.

Keine Reaktion.

Ich knallte den Hörer auf die Gabel und drückte wie bescheuert dagegen. Mein Darm verkrampfte sich, und ich musste stark an mich halten, um nicht zu weinen, denn davon hatte ich endgültig die Faxen dicke. Geistesabwesend fasste ich mir an die Brusttasche, in der das Foto steckte. Ich lachte leise, weil ich das letzte visuelle Erinnerungsstück aus glücklichen Zeiten ausgerechnet dorthin gesteckt hatte.

Mein Herz begann immer heftiger zu klopfen, als ich den Tag noch einmal rekapitulierte, an dem das Bild gemacht worden war, und schon rann wieder eine warme Träne an meiner Wange hinunter. Der gefühlsduselige Moment währte allerdings nicht lange, da der gewohnheitsmäßige Pessimist in meinem Kopf schnell wieder die Führung übernahm. Mann, da hättest du genauso gut in Washington bleiben können, wegen der Suppe, die du dir dort eingebrockt hast. Ich war mir sicher, dass ich dieses Mal nichts wiedergutmachen konnte. Mein Gesicht brannte, und ich ertappte mich dabei, wie ich meine Rechte zur Faust ballte.

»Willst du das Telefon vielleicht zum Tanz bitten, oder darf ich auch mal?« Es war die Stimme eines jungen Mädchens mit New Yorker Akzent, die mich erschreckte. Obwohl … eigentlich hätte der leichte Duft von Marihuana sie mir schon ankündigen müssen. Teufel auch, ich war wirklich aus der Übung. Das war gar nicht gut.

Ich drehte mich halb um, allerdings nicht, ohne sicherzugehen, dass meine Tränen alle abgewischt waren, und sah dann eine Teenagerin von vielleicht sechzehn Jahren vor mir stehen. Sie trug ihr langes, schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, hatte eine Augenbraue hochgezogen und einen ungeduldigen Ausdruck in ihrem sommersprossigen Gesicht.

»Oh, aber sicher doch. Ich bin fertig. Der Apparat gehört ganz dir, Mädchen.« Ich strich noch eine Träne weg, die sich aus meinem Augenwinkel gestohlen hatte, und fasste mir an den Hut, bevor ich vom Telefon zurücktrat und meine Krempe wieder herunterzog.

»Danke, Opa. Nett von dir.« Sie nahm den Hörer von der Gabel und wandte mir den Rücken zu. Jetzt sah ich, dass sie einen bis zum Bersten gefüllten Rucksack trug. Aus einem der Fächer ragten mehrere Verpackungen von Müsliriegeln hervor, aber auch der Griff eines Klappmessers. Sie redete vielleicht tough daher, doch ich erkannte, dass sie fertig mit den Nerven war. Meinem Dafürhalten nach musste sie gerade aus dem Greyhound gestiegen sein. Warum reiste sie in dem Alter ganz allein? Das machte mich sofort stutzig, obwohl ich mich an das Versprechen erinnerte, das ich mir nur Sekunden zuvor selbst gegeben hatte: Gönn dir mal eine Auszeit. Jetzt bemerkte ich allerdings auch noch Blutflecken sowohl auf ihrer Jacke als auch auf dem Rucksack. Ich verfluchte mich selbst und wiederholte innerlich: Auszeit, während sie ihre Taschen durchstöberte, die Hände aber mehrmals leer wieder hervorzog. Daraufhin griff ich in eine der vorderen Taschen meiner Hose, nahm vier Vierteldollar heraus und legte sie oben auf die verstaubte Telefonzelle.

»Danke.« Sie nahm das Geld anstandslos an. Ihr Rücken blieb mir weiterhin zugewandt, weil sie mit dem Gesicht zum Ausgang auf den Parkplatz stehen blieb.

»Keine Ursache«, erwiderte ich und verabschiedete mich, indem ich mir abermals mit Zeigefinger und Daumen an die Hutkrempe fasste. Sie schaute mich nicht an, was mich eigentlich auch gar nicht juckte. Meine Sorgen lagen schließlich meilenweit entfernt, und ich brauchte nicht nur meinen Drink dringend, sondern auch etwas zu essen. Also verließ ich das Mädchen, um zum Tisch zurückzukehren, wo bestimmt schon meine Bestellung auf mich wartete. Als ich die Glöckchen an der Tür zum Parkplatz hinter dem öffentlichen Telefon bimmeln hörte, hielt ich kurz inne, dachte mir aber gleich darauf: Drauf geschissen, und schüttelte den Kopf, bevor ich weiterging.

»Auszeit«, murrte ich erneut, während Suzie mit meinen Getränken antanzte. Auf einmal wusste ich genau, dass diese Auszeit dringend notwendig war, zumindest eine Nacht lang. Ich betete darum, meine Ehe retten zu können, doch das musste alles bis morgen warten.

Nichtsdestotrotz kam mir irgendetwas an dem frechen Teenie einfach nicht koscher vor. Alte Gewohnheiten, brummte ich, stürzte den Whiskey hinunter und kippte dann noch einen Teil des kalten Biers hinterher.

Buck Owens heulte jetzt »Act Naturally«, als ich meinen Platz erreichte, wo bereits der Hamburger mit den Pommes auf mich wartete. Mein Magen knurrte laut, und ich setzte mich.

Die Mahlzeit wurde nicht kalt, aber ich schmeckte kaum etwas davon. Ich brauchte zwar Flüssignahrung, war aber besonnen genug, um zu wissen, dass ich diese nicht auf leeren Magen zu mir nehmen sollte. Als ich das zuletzt getan hatte, waren eine kleine Kneipe mit vier Bikern, meine Hand und mehrere Rippen zu Bruch gegangen. So etwas kam heute Nacht auf keinen Fall infrage. Meine Welt war immerhin bereits in sich zusammengestürzt, und noch mehr Schutt auf die Trümmer zu werfen, würde mir nichts bringen. Ich suchte Suzies Blick und bat sie mit einer Kopfbewegung, zu mir zu kommen.

»Alle gut soweit, Süßer?« Sie schmatzte auf ihrem Kaugummi herum und lächelte.

»Ja, Ma’am. Könnte noch ein Coors und einen Whiskey vertragen, bitte.« Als ich mir den Mundwinkel mit einer Papierserviette abtupfte, bemerkte ich plötzlich Unruhe vor der Jukebox, also lehnte ich mich zur Seite, um an der Kellnerin mit den breiten Hüften vorbeischauen zu können. Jetzt sah ich, wie die Biker-Rüpel grölten und laut pfiffen, als die junge New Yorkerin auf dem Weg zum Tresen an ihnen vorbeiging.

»Ach, um diese besoffenen Deppen brauchst du dir keinen Kopf zu machen, die sind ungefähr so gefährlich wie ein Säugling mit Boxhandschuhen, Schnuckel.« Die Kellnerin lachte schnaubend, während sie die letzten Geschirr- und Besteckteile zusammenräumte.

»Ich bin gleich wieder bei dir, mein Lieber.« Sie zog sich nun zurück und verschwand in der Küche hinter dem dunklen Ausschank, aus deren Tür grelles Licht fiel. Halbblind vom Kontrast dieses Weißlichts gegenüber der Düsterkeit im Lokal, die einer Höhle alle Ehre machte, musste ich ein paar Sekunden warten, bis sich meine Augen wieder angepasst hatten, bevor ich noch einmal nach dem Mädchen und den Pennern schaute, die ihr vulgäre Offerten und besoffene Versprechungen machten.

Die Luft stand förmlich vor Zigarettenqualm, was sich in einer neblig grauen Wand äußerte, die ständig in Bewegung war und zwischen den dicht gedrängten Gästen umherwaberte. Mehrere Momente vergingen, bis ich die Kleine wieder entdeckte. Sie hatte sich jetzt an einem kleinen LKW-Fahrer mit Bierbauch und einem buschigen, grau melierten Bart vorbeigeschoben. Dieser trug eine Kenworth-Baseballmütze, die von seinen weiten Reisen und dem Straßendreck schon ganz fleckig und ölverschmiert war. Er lächelte und nickte dem Mädchen zu, bevor er sich wieder seinem Dutzend Hähnchenflügel widmete. Vor ihm stand eine dicke Frau mit rosafarbenem Dolly-Parton-Shirt. Wie es aussah, wollten ihre Speckröllchen mit aller Macht unter dem dünnen Stoff hervorquellen und schienen es auch zu schaffen. Sie beachtete das Mädchen gar nicht, sondern schaute stattdessen zu mir hinüber und lächelte mich ebenfalls an, wobei ein Goldzahn in dem Licht reflektierte, das der Fernseher über der Theke in den Raum warf. Die Schicht Schminke in ihrem Gesicht war bestimmt so dick wie ein Bieruntersetzer. Sie sah aus wie ein beknackter Rodeo-Clown. Als sie einen Kuss in meine Richtung hauchte, musste sich mein insgeheimer Ekel wohl doch mimisch bemerkbar gemacht haben, denn direkt danach streckte sie mir einen fetten Stinkefinger entgegen. Daraufhin grinste ich verhalten, obwohl ich sie eigentlich ignorieren wollte, und sah wieder hinüber zu den ausgelassenen Motorradfahrern an der Jukebox.

Sie waren zu viert … zwei Wandschränke mit mehr Farbe an ihren muskulösen Armen, als meine ganze Comicsammlung zu Jugendzeiten hergegeben hätte, und ein Pärchen … ein schlaksiger Kerl mit langem, blonden Haar, das bis zum Hintern seiner schmutzigen Bluejeans reichte, und ein stämmiges Chick, das den beiden schweren Jungs allerdings in nichts nachstand, was die Tätowierungen und das Armfleisch betraf. Außerdem schien sie eine ebenso große Klappe und Haare auf den Zähnen zu haben, wie ihre arschgesichtigen Begleiter.

Die Vier schubsten einander nun herum und pfiffen dem Mädchen anzüglich hinterher. Es ließ sich davon allerdings nicht beirren und knallte eine Handvoll Kleingeld auf den Tresen. Das Licht eines Werbeschilds für die Biersorte Pabst Blue Ribbon ließ Tränen in ihren großen, braunen Augen glänzen, während sie mit dem alten Wirt sprach. Er schüttelte den Kopf, doch sie redete weiter auf ihn ein. Schließlich wandte er sich ab, nahm eine Tüte Kartoffelchips von einem Aufsteller an der hinteren Wand der Theke und warf sie ihr zu. Dies tat er so kaltschnäuzig, dass es selbst meinem alten, abgestumpften Herz einen Stich versetzte.

Ich wurde deshalb leicht ungehalten, stürzte meinen Kurzen hinunter und kippte abermals einen Schluck kaltes Bier hinterher. Meine eingefleischten Instinkte kamen nämlich jetzt langsam wieder mehr und mehr an die Oberfläche. Ich wusste, ich sollte mich besser nicht einmischen und stattdessen einfach erneut versuchen, Inez zu erreichen, wenngleich ich schon kommen sah, dass es genau wie bei den letzten fünf Anrufen enden würde: Mit dem gleichen nüchternen Anrufbeantworter und meiner eigenen Stimme, die mir brutal zu verstehen geben würde, was ich weder hören noch wahrhaben konnte oder wollte. Suzie kehrte jetzt zurück, um noch ein Bier und einen Whiskey auf die abgenutzte Holzfläche meines Tischs zu stellen. Die Biker ließ ich die ganze Zeit über kein einziges Mal aus den Augen.

»Bitte, Süßer. Brauchst du sonst noch was?« Sie lächelte mich an und zwinkerte erneut, dabei streckte sie ihr Becken wieder einseitig nach vorn und stemmte eine Hand in die Hüfte.

»Ja, sagen Sie Ihrem Arbeitgeber, diesem Drecksack bitte, dass ich für alles aufkommen werde, was das Mädchen mit der grünen Jacke bestellen möchte.« Ich lehnte mich noch einmal zur Seite, um hinter die Kellnerin zu schauen. Nachdem die Teenagerin die kleine Tüte aufgefangen hatte, steckte sie diese in ihren Rucksack und ging dann zurück zu der Tür, die zu der Bushaltestelle führte. Das Gejohle der Biker begleitete sie durch den Flur zum Ausgang.

»Mist … ach, was soll’s.« Ich sprang auf – mein Stuhl fiel dabei um – und folgte ihr in der dämmerigen Beleuchtung.

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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 марта 2022
Объем:
260 стр.
ISBN:
9783958353404
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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