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DER FÜNFTE MANN

Sein Name war Michael.

Wir hatten uns für Punkt 16 Uhr verabredet. Vor dem Eingang des Riverside Hotels. Ich hatte keine Augen dafür, was mich in den gut zwei Stunden im Zug von Schönebeck bis nach Berlin umgab. Alles kam und ging ungesehen, flog wie aus Glas an mir vorüber: Magdeburg mit seinem Dom und seiner Grünen Zitadelle, einem Hundertwasserhaus, und seinem Reiter. Dörfer, Äcker, Wiesen. Erwachende Landstriche. Desgleichen Brandenburg an der Havel mit seinem, ja, womit eigentlich?

Ich schaute ausschließlich in mich selbst hinein. Betrachtete meine Erwartungen. Das diffuse Bild, das ich von ihm hatte und das zu schärfen ich unentwegt versuchte. Ich kannte ein Bild vom Profil der Homepage, doch mehr als ein nicht allzu gut erkennbares Gesicht war da nicht. Der Mensch dahinter, der Schattenriss seiner Seele, war, was mir ernsthafte Sorgen bereitete auf der Fahrt in die Hauptstadt.

Dieser Michael bot sich mir (wie denn auch nicht?) als durch und durch Fremder dar. Ein blinder Fleck auf meiner Landkarte. Ein Mann mit einem offenkundig fetten Bankkonto, von dem ich sonst genau nichts wusste.

Wirklich nichts?

Aber nein, Therese, sagte ich mir zur Beschwichtigung. Nicht nichts. Du weißt doch so viel. Du weißt, was er in seinen Nachrichten vorab von sich gegeben hat.

Nachrichten? Nichts als Worte.

Was, wenn er dir etwas antut? Was, wenn er dir Dinge abverlangt, die du unter keinen Umständen zu geben bereit bist? Stärker beruhigend, wie ein Sedativum, wogen da schon die Bewertungen über ihn im Netz. Michael war keineswegs ein Newcomer bei gesext.de. Und die Benotungen meiner Vorgängerinnen durchaus positiv, nein, geradezu schwärmerisch euphorisch. Fast hymnisch. Das half mir über die Stunden der Anreise einigermaßen hinweg.

Dann wieder, während meine Gedanken dem Zug nach Berlin in Lichtgeschwindigkeit vorausflogen, ruderten sie zwischendurch, kraftvoll und fordernd, zurück nach Schönebeck. Zurück zu Anna, der besten Freundin, zu ihrem Anruf vom Vorabend. Ich memorierte ihre so unbedarft freudige Stimme, als ich abhob und sie augenblicklich ins Handy rief:

»Hallo, mein Schatz! Sehen wir uns heute noch?«

Und dann hörte ich mich sie anlügen. Nahezu schamlos. Zum allerersten Mal. Gerade sie, jenen Menschen, der meine Unaufrichtigkeit am allerwenigsten verdient hatte, der mir Wochenende um Wochenende ein Lächeln ins Antlitz zauberte, wenn wir uns sahen und was immer taten. Hauptsache wir. Hauptsache gemeinsam.

»Sorry, Süße«, schnurrte ich und blickte auf die Reisetasche, die ich soeben zu packen begonnen hatte. »Aber ich ersticke in Arbeit. Ich kann heute nicht.«

»Dann eben morgen«, rief sie.

Morgen wird es auch nicht spielen, sagte ich. Still. Bei mir. Morgen ist Samstag. Und morgen ist mein Date. In Berlin. Doch genau das vermochte ich ihr beim besten Willen nicht mitzuteilen. Ich würde auf Tauchstation gehen müssen.

Mein erster Weg vom Bahnhof Friedrichstraße führte mich an diesem Samstagnachmittag schnurstracks zur Weidendammer Brücke, Berlins drittältestem Brückenschlag im alten Zentrum: Schauplatz der hohen Literatur, unter Denkmalschutz, täglicher Knotenpunkt für Hunderttausende und all das. Mitten auf der Brücke blieb ich für einige Momente stehen und atmete tief ein. Sog die kühlenden Schwaden ein, die von der Spree zu mir emporstiegen. Dann erst weiter, die paar Schritte zum vereinbarten Treffpunkt.

Ich stand keine fünf Minuten vor dem Riverside, als ich die Stimme in meinem Rücken vernahm.

»Bist du Alessa?«

Ich fuhr herum und sah ihn da vor mir stehen, scannte ihn von oben bis unten. Mittelgroß. Mittelalt. Mittlere Statur. Mittelscheitel. Auf eine gewisse Weise war alles mittel an ihm. Dachte ich jedenfalls. Denn schon auf den zweiten Blick erwies dieser Michael sich als überaus charmant, kultiviert und gepflegt. Unaufdringliche Eleganz, nagelneue Jeans, ein sportliches Sakko, braune, leicht klobige Schuhe, die nach Maßanfertigung rochen.

Küsschen links, Küsschen rechts. Dann: »Möchtest du dein Gepäck nach oben bringen? Ich warte hier inzwischen solange. Wir haben alle Zeit der Welt.«

Hatten wir? Den Zimmerschlüssel in den Händen, betrat ich den Aufzug. Ja, ich war ihm dankbar dafür, dass er mir diese Momente unverlangt gönnte, mich allein nach oben fahren ließ. Nein, natürlich entsprach er nicht dem Idealbild, das ich von einem Mann hatte. Aber hatte ich überhaupt eines? Seine Unaufdringlichkeit von der ersten Minute weg behagte mir. Und was ich dann vier Etagen weiter oben zu sehen bekam, behagte mir noch mehr. Nein, es warf mich richtiggehend um.

Ein Zimmer, eine Luxury Suite, wie ich noch nie zuvor eine gesehen hatte, nahm mich in Empfang. Weitläufiger als die Wohnung vieler Leute. Mobiliar in gedämpften Farben. Ein riesiger Flachbildschirm. Ein Wasserbett. Eine freistehende, vergoldete Wanne. Desgleichen in dem riesigen Badezimmer: ein Jacuzzi, der nur darauf wartete, mich aufzunehmen, mich und meine Gänsehaut mit seinen Blubberbläschen zu umschmeicheln. Überwältigend auch der Blick von der großzügig angelegten Terrasse: direkt vor mir, unter mir, die heiß geliebte, meine heiß geliebte Spree. Ganz Berlin, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, lag mir unvermutet zu Füßen.

Wieder zurück, empfing mich Michael, der Charmeur. »Du bist noch hübscher, als ich vermutet habe«, sagte er. Ein Lächeln. Keine Spur von Selbstgefälligkeit darin. »Ein Drink?«

Es wurde ein Glas Wein in einer nahen Bar. Ein zweites. Es sei dies mein erstes Mal, gestand ich bald ein. Für jeden sei es irgendwann das erste Mal, erwiderte er. Ich müsse mich nicht sorgen. Er würde nichts verlangen, was ich nicht auch wollte. Und wenn ich mich am Ende entschlösse, gar nichts zu wollen, kein Problem.

Ein Schaudern durchflutete mich von Kopf bis Fuß. Erleichterung in seiner reinsten Form. Noch ein Schluck Wein. Noch einer. Aus dem stockenden Tröpfeln von einzelnen Worten, Phrasen wurde allmählich ein sanftes, fast geschmeidiges Gesprächsplätschern. Sein Job. Seine Beziehung. Warum er denn keine habe? Seine ersten Erfahrungen mit dem Ersteigern von Fra… diesbezüglich. Dann ich. Was mich dazu bewogen hätte.

»Ich brauche endlich wieder Farbe in meinem Leben«, hörte ich mich sagen.

»Farbe?« Michael sah mich verdutzt an.

»Ich habe das Gefühl, dass mir Sex fehlt.«

Er schwieg für einen Moment. »Kannst du den nicht jederzeit haben? Mit jedem, den du kriegen willst?«

Ich sprach von Schönebeck, der kleinen, biederen Stadt, in der ich wohnte. Den kleinen, biederen Leuten, die ich dort vermutete, kannte. Und dem Mangel an Anonymität. Ganz anders als hier in Berlin.

»Natürlich«, erwiderte er. »In Berlin ist vieles einfacher. Aber du hättest dich ebenso gut für Sex ohne Geld entscheiden können.«

Die Art wie seine graublauen Augen dabei in den meinen hingen, wie sie Antwort auf eine gar nicht gestellte Frage erhofften, machte mir Bange. Ein faustdicker Kloß belegte meinen Hals. »Vielleicht … vielleicht brauche ich meine Unabhängigkeit wieder?«, sagte ich zögerlich.

»Und die erreichst du auf diese Art?«

Ich sprach von meinen zwei Jahren in Berlin. Vom Leben bei meinem Vater. Vom eigenen Geld, das ich erst hatte. Dann wieder nicht. Und von dem brennenden Wunsch, auf eigenen Beinen stehen zu können. Allein und fest.

»Apropos Geld«, sagte er. »Auf dem Bett wartet ein Kuvert auf dich.«

Ich weiß nicht mehr, ob es allein der viele Wein war. Oder schlicht die Erleichterung, mit einem Unbekannten so ungezwungen reden zu können. Oder die Mischung aus beidem. Jedenfalls sprudelte es von da an aus mir wie aus einem weit offen stehenden Ventil. Vieles, alles wollte hinaus. Nahezu ohne Widerstand. Das Einzige, was ebenso leicht und flutschend in mich hineinwollte, war der Wein. Und ein famoses Essen, zu dem er mich hinterher ausführte.

Später, viel später und bereits auf dem Weg zum Hotel fasste Michael mich unvermutet und fest am Arm, hielt inne. Ich sah ihn aus großen Augen an.

»Du bist viel zu schade dafür«, sagte er. »Ich habe schon viele Frauen getroffen. Aber du bist anders. Du bist nicht nur bildhübsch. Du bist auch intelligent. Du kannst alles erreichen. Du hast das hier nicht nötig.«

Ich lachte auf, spürte, dass ich betrunken war. Zugleich spürte ich aber auch, dass in diesem Augenblick etwas von mir abfiel. Eine Last. Dieses schmuddelige Image der Hure, die ich nicht war, nicht sein wollte, oder das, was dieser Art des Geldverdienens anhaftete. Hier Sex. Dort Money. Nicht länger diesem Gefühl ausgeliefert zu sein, Ware eines modernen Sklavenmarktes zu sein. Begehrtes Objekt einer Reihe von anonymen Bietern, Gebietern zu sein, die weder dein Gesicht kannten noch den Geist, der in dir schlummerte, noch die Seele, nein, die einfach nur deinen Körper kannten und genau ihn wollten. Eine Sklavin, ja. Wenngleich ich mich selbst dazu gemacht hatte.

Ohne dass ich es gewollt hätte, und ohne dass ich es hätte beeinflussen können, überwog ein spontanes Gefühl von Euphorie ähnlich dem, als mein Wert in den letzten Stunden, Minuten der Versteigerung stieg und stieg: Ich fühlte mich auf einmal wertvoll und überaus geschätzt. »Komm«, sagte ich zu Michael. »Lass uns ins Hotel gehen. Lass uns jetzt Tausendundeine Nacht verbringen.«

Den Sex hatte ich bis dahin nicht gehabt. Jenen Sex also, der mit einem tiefen Gefühl jenseits des rein Körperlichen einhergeht. Und den Sex hatte ich auch mit Michael nicht. Bald schon würde ich ihn ein zweites Mal treffen. Wir würden abermals eine Nacht zusammen verbringen. Ein ganzes Wochenende. In Berlin. Bei ihm. Mit fein Essen gehen im Felix. Mit Abtanzen hinterher. Ohne Geld diesmal. Und auch ohne Sex. Wie zwei Menschen, die auf andere Weise beglückende Stunden verleben konnten.

Doch das wusste ich an jenem gleißenden Morgen, als ich das Hotel verließ und hinaus in den Frühling trat, noch nicht. Wie auch nicht, dass es bis dahin, bis zu dem Sex mit der ersten großen Liebe meines Lebens nicht mehr weithin sein sollte.

Was ich an diesem Morgen in Berlin nach dieser Nacht mit Michael definitiv wusste, war, dass die Farben um mich her, auf der Heimreise nach Schönebeck, beim Blick hinaus aus dem Zugfenster bedeutend kräftiger leuchteten.

Und noch etwas wusste ich: Ich wollte es wieder tun.

*

Oops, I did it again.

Der Refrain des Songs, mit dem Britney Spears Jahre zuvor einen ihrer zahllosen Megahits gelandet hatte, wollte mir an jenem anderen, nächsten Morgen nicht aus dem Kopf gehen. Denn ja, auch ich hatte es wieder getan. Ein zweites Mal. Mit einem anderen Mann in einer anderen Stadt. Und bald schon ein drittes Mal. Und ein viertes. Innerhalb von nur zwei Monaten. Vielleicht drei.

Die eindrücklichste Erfahrung, die ich mit meinem ersten Höchstbieter Michael gemacht hatte, war jene: Man kann durchaus am nächsten Morgen neben einem Mann aufwachen und sogar gemeinsam mit ihm frühstücken. Das war Neuland für mich gewesen. Ich hatte niemals bei einem meiner One-Night-Stands aus den Berliner Clubs übernachtet und war dann wie ein richtiges Paar beim Frühstück mit ihnen gesessen, ausgenommen der Bewohner meiner biederen Kleinstadt, zu dem ich in jenen Tagen eine äußerst lose Affäre unterhielt. Sein Status war dennoch ein besonderer: Er war mir zum Vertrauensmann herangewachsen. Mit ihm konnte ich ganz unverblümt reden.

Darüber.

Zu meinem Erstaunen verurteilte er mich nicht nur nicht, sondern fand solchen Gefallen an der Idee, dass er sich selbst zur Versteigerung anbot. Mit allerdings mäßigem, sprich: gar keinem Erfolg. Das lag keineswegs daran, dass er ausgesehen hätte wie Quasimodo. Oder Mickey Rourke nach dreißig Jahren Alkoholexzessen quer durch die Bars von ganz Hollywood. Oder ein männliches Pendant zu Jeannine Schiller. Mitnichten. Ich möchte ihn aus meiner Erinnerung als durchaus ansprechenden, attraktiven Mann bezeichnen. Doch es gab und gibt dafür schlichtweg keinen Markt. Wie es auch keine Bordelle für Frauen gab und gibt.

Ob ich es nun wollte oder nicht: Neben meinem (einzigen) Vertrauensmann in Schönebeck musste ich schon bald auch Anna ins Vertrauen ziehen. Der Rausch der ersten Versteigerung hatte etwas in Gang gesetzt, das die zweite, dritte und schließlich vierte in eine unbezähmbare Lust steigerte: Der Rausch des Ersteigertwerdens war in einen Rausch des Konsumierens gemündet. Ich wollte, nein: musste mir etwas Gutes tun.

Dieses Gute trug mehrere Namen. Gucci. KaDeWe. Louis Vuitton und andere. Wie Sarah J. Parker alias Carrie Bradshaw aus Sex and the City stolzierte ich, eine zunehmend sprachlosere Anna im Schlepptau, den Ku’damm in Berlin rauf und runter. Nichts war vor mir sicher. Und so blieb die Frage der Fragen naturgemäß nicht aus. Die Frage nach dem Woher.

»Woher«, fragte also Anna, als auch die dritte Tasche prallgefüllt an meinem Arm hing, »woher hast du all das Geld?«

Ich wagte nicht, ihr in die Augen zu blicken, sagte es bloß vor mich hin. »Das wird nicht verraten.«

»Wie bitte?«

»Ich kann es dir nicht sagen.«

»Was heißt, du kannst es – bin ich nun deine beste Freundin, oder bin ich es nicht?!«

»Hast du nicht auch Geheimnisse? Vor mir?«

»Du weißt alles von mir«, brummte sie. Trotz und bittere Enttäuschung schwangen in ihrer Stimme.

»Lass uns ein andermal darüber –« Ich unterbrach mich selbst, musterte Anna von der Seite, während wir an einem weiteren Designerladen vorbeistolzierten. Ich sah ihre verhärteten Gesichtszüge, und da war mir klar, ich würde aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen. Krampfhaft, auf dem Weg ins nächste Café, wo ich die Beichte abzulegen gedachte, suchte ich nach einer Eingebung. Doch die Erleuchtung einer schonenden Erklärung blieb aus. Erst Annas Versicherung, sie würde mir, was immer es sei, nicht den Kopf abreißen, löste mir die Zunge.

»Also gut, Anna«, sagte ich mit brüchiger Stimme. »Ich sage es frei heraus: Ich habe Sex gegen Geld.«

Stille. Nur das gedämpfte Klappern von Gabeln auf Kuchentellerchen und Kaffeetassen ringsum, und irgendwo weit hinten das Fauchen der Espressomaschine. Gefühlte zwei Stunden musste ich ihr alles auseinandersetzen. Bis ins Kleinste. Letztlich war meine Sorge, sie würde mich verdammen, unbegründet.

Sie versuchte gar nicht erst, es mir auszureden. Sie wusste um meine Unbeirrbarkeit, hatte ich mir etwas erstmal in den Kopf gesetzt, doch sie rang mir das Versprechen ab, beim nächsten Mal Bescheid zu geben, wohin es mich verschlug. Exakte Positionsangabe. Exakte Uhrzeit. Wie eine Art Versicherungspolizze für den Fall, dass etwas schieflief.

Dafür gab es auch allen Grund. Nicht aufgrund meiner Erfahrungen mit Nummer zwei und Nummer drei. Dafür umso mehr nach Nummer vier. Das Treffen lag erst wenige Tage zurück, und auch die fünfte Auktion steuerte bereits ihrem Ende entgegen. Sie sollte meine letzte sein. Und so trug sie auch eben diesen Titel:

Meine letzte Auktion. Ein Wochenende mit mir.

Den Namen von Nummer vier hatte ich da bereits verdrängt. Keineswegs jedoch die Umstände. Er hatte mich vom Hotel abgeholt, in einem klapperigen Mercedes, der beim Anfahren an jeder Kreuzung auseinanderzufallen drohte. Wir fuhren in seine Wohnung. Ein winziger Verschlag irgendwo in Nürnberg, gerammelt voll mit allerlei Zeugs. Wie die Bude eines Messies. Doch das wirklich Beunruhigende war die Erkenntnis, die mich erst in seinen vier Wänden ereilte, warum er nämlich vorab eine einzige Bedingung an mein Kommen geknüpft hatte: Ich sollte knallrote Stöckelschuhe tragen. Je höher die Absätze, desto besser.

Er war ein kleiner, wenig gepflegter, um nicht zu sagen widerwärtiger Mann Anfang fünfzig mit überproportional großen Augen. Die ganze Zeit über fasste er mich nicht ein einziges Mal an. Stattdessen verlangte er, was mir einen Schauder den Rücken rauf und runter jagte und einen zutiefst negativen Kick auslöste: Ich sollte, während er sich auf dem Boden vor mir krümmte, unablässig mit den Absätzen nach ihm treten. Mitten hinein in die Trias seiner Männlichkeit, sodass er vor Schmerzen gellend aufschrie.

Während ich den Wagen meines Vaters hinaus aus Berlin und zügig in Richtung meiner Heimatstadt lenkte, hielten Anna und ich Kriegsrat. Natürlich wusste mein Vater genau nichts darüber, wie ich meine Wochenenden zuletzt verbracht hatte. Er wähnte mich bei Anna, und daran, sagte ich, dürfe sich auch nichts ändern.

Zuhause schaffte ich es gerade noch, die Taschen mit den Designerfetzen im Schrank zu verstecken. Ich warf den Laptop an, um zu sehen, wie Meine letzte Auktion in die Zielgerade bog und überflog die Site mit routiniertem Blick. Wie schlafwandlerisch bewegte ich mich mittlerweile auf der Plattform. Ich kannte sie alle: die Gepflogenheiten der Bieter. Die Bodys der anderen jungen Frauen, meiner Kolleginnen. Ihre nach Aufmerksamkeit heischenden Sprüche, Werbetexte, mit denen sie auf ihren Profilen um das Augenmerk der anonymen Bieter ritterten, weg von den Konkurrentinnen und hin zu ihnen.

Da fanden sich Headlines wie diese, verfasst von einer Kollegin im gleich doppelten Sinne, schenkte man ihren Angaben Glauben, die jedoch, anders als ich, ihre Ausbildung für den Staatsdienst nicht abgebrochen hatte. Sie empfahl sich als Die süßeste Bestrafung seit es Polizistinnen gibt.

Oder auch der Titel: Ode an die Weiblichkeit.

Angepriesen wurde alles Erdenkliche und noch mehr: Rollenspiele, Begleitungen mit Tiefgang und Niveau, blonde Blödchen, Frauen mit Dackelblick, rechtzeitig vor Weihnachten (wie ich später einmal nachlesen sollte) ein geiler Adventfick, ein getragener Büstenhalter, eine Begleitung für den Swingerclub. Massagen. Was immer. Da das Bild eines gerade nicht restlos entblößten Oberkörpers von vorne, dort ein Bild aus der Vogelperspektive: Der Blick von hinten über die Schulter einer jungen Frau geworfen, die in Seidenunterwäsche am Herd stand und Spiegeleier (!) briet.

Ja, selbst die Aufgabe der Jungfräulichkeit wurde feilgeboten.

Jahre später würde mich ein abermaliger Blick auf die Site zusammenzucken lassen im Bewusstsein, mich selbst ebenfalls dort angepriesen zu haben, und aus heutiger Sicht erscheint es mir überhaupt denkunmöglich. Doch damals, an jenem Nachmittag im Mai 2009, war ich wie selbstverständlich ganz allein darauf fokussiert: meine letzte Auktion.

Sie lief nur noch wenige Minuten, ausgerechnet als Vater nachhause kam und den Kopf zur Türe hereinsteckte. Mehr aus Routine denn Interesse fragte er, ob ich, ob wir in Berlin erfolgreich gewesen wären. Auf unserer Schnäppchenjagd. Ich verneinte vorsichtshalber, ohne verräterisch in Richtung der Schranktüren zu starren. Er machte bereits Anstalten, wieder zu gehen, als ich sagte: »Können wir reden?«

Vater sah mich überrascht an. »Natürlich.«

Wir wechselten das Zimmer. »Ich werde«, hob ich schließlich an, zögerte, »ich werde in nächster Zeit nicht so oft Zuhause sein.«

»Ach nein?«

»Nein. Ich habe ein Jobangebot.«

Er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich meinen Kopf in der Regel durchzusetzen pflegte. Ich wiederum kannte ihn gut genug, um zu wissen, worauf es ihm ankam. Die Schule durfte nicht zu kurz kommen. Nichts anderes zählte. Die Ausbildung, damit ich eines Tages doch noch etwas Vernünftiges, etwas Solides und Sicheres ansteuern könnte. Entsprach es auch nicht seinen insgeheim vorgefassten Plänen für mich. Dass ich ihm etwas Oberflächliches von einer Arbeit als Messehostess vorflunkerte, vom Verteilen von Werbematerial und Ähnlichem, schien Vater nur am Rande zu interessieren. Lief trotz Jobs am Wochenende in der Schule alles glatt, war seine Welt im Großen und Ganzen in Ordnung. Und meine in diesem Augenblick gewissermaßen auch, weil ich ihn nicht restlos anzulügen brauchte. Immerhin stimmte die Jobbeschreibung, die ich ihm gegeben hatte, in groben Zügen. Sie war genau genommen sogar zu präzise.

Messehostess. Man musste bloß die Messe weglassen.

Zurück im Schlafzimmer, sprang mir das schon vertraute Insert entgegen: Die Auktion ist beendet. Zwei Wochen später bestieg ich abermals einen Zug. Ein letztes Bahnticket, um es ein letztes Mal für Geld zu tun. Verhieß die Fahrt zu Michael, meinem ersten Höchstbieter, noch einen verhältnismäßig kleinen Abschied (vom alten Leben, alten Vorstellungen, alten Erfahrungen), so sollte diese Fahrt im Zeichen eines großen Abschieds stehen.

Nicht bloß, weil ich diesmal gleich acht Stunden in einem Abteil saß.

*

Ich hatte hoch gepokert bei meiner fünften und letzten Auktion.

Die Einträge der Mitbewerberinnen hatten mir vor allem gezeigt, wie man es nicht machte. Wie man sich nicht entscheidend von der Masse abhob. Also schaltete ich nicht einen, sondern gleich drei Gänge nach oben bei meiner Eigenbewerbung.

Ich hatte zu diesem Zweck zwei Versteigerungen parallel laufen, deren eine allein als Appetizer gedacht war. Die Chancen, jemand würde sie für bare Münze nehmen, waren in der Tat verschwindend gering: Auf den Tag genau ein Jahr lang würde ich, so mein Anbot, als Freundin an der Seite eines finanzkräftigen Mannes von Welt stehen. Eines finanzkräftigen Mannes, denn er würde mir nicht bloß einen Mercedes der S-Klasse mit allem Pipapo (circa 300.000 Euro) schenken, sondern obendrein ein Leben in Freude und zügellosem Luxus berappen müssen mit allem, was in den Augen eines Mädchens meines Alters dazugehörte. Summa summarum also eine schlappe halbe Million.

Abgerundet.

Für die Betreiber der Site wie auch manche Bieter mussten sich meine Vorstellungen wie eine lupenreine Diagnose gelesen haben. Doch alleiniges Ziel dieser natürlich zum Scheitern verurteilten Auktion war, auf meine zweite, ernstgemeinte aufmerksam zu machen. Mein erster PR-Gag, der voll einschlug. Schließlich war auch Stefan, wie er mir bald eingestand, genau dadurch auf mich gestoßen.

Schon die Wochen, da er noch aus dem Nirgendwo an einer fernen Tastatur um mich bot, hoben sich von denen anderer Auktionen ab. Mich faszinierten die Botschaften, die er zwischendurch in meine Richtung absetzte, persönliche Nachrichten, die jeder User ungesehen von anderen übermitteln konnte. Seine Art zu kommunizieren, sich auszudrücken, humorvoll zu sein. Auch schaltete ich ihm (was man selbst verfügen und auch jederzeit wieder zurücknehmen konnte) bereits während der Auktion Fotos von mir frei, auf denen er mein Gesicht sehen konnte. Empfehlenswert, wie ich indes wusste, war dieser Schritt nur bei Usern, die seit längerem auf der Plattform aktiv waren und auch entsprechende Bewertungen vorzuweisen hatten. Zudem bestand die Möglichkeit, vorab das Konterfei des Bietenden zu sehen zu bekommen, um auf Nummer sicher zu gehen, mit wem man es zu tun hatte. Vor allem, ob es nicht doch der Nachbar war. Oder der Papa.

Später, nachdem Stefan bereits das Rennen um mich gemacht hatte, waren wir in regelmäßigem Kontakt, ehe es zum ersten Treffen kam. Oftmals ausschweifende Telefonate überbrückten die Zeit, die von einer kaum zu zügelnden Neugierde meinerseits geprägt war, wie ich sie zuvor nicht erlebt hatte, und als ich ihn dann an jenem 28. Mai 2009 auf dem Bahnsteig des Wiener Westbahnhofs erstmals in natura zu Gesicht bekam, ihn aus der Menge herausblitzen sah wie einen Leuchtturm an einer fernen, dunklen Küste, war mir dieser Wildfremde auf eine seltsame Weise wohlvertraut.

Natürlich hatte ich mir auch über Stefan so meine Gedanken im Vorfeld gemacht. Mitunter, was Männer dazu anhielt, diesen Weg und nicht einfach ins Bordell zu gehen, wo sie ihre überbordenden Hormone bedeutend spontaner ruhigstellen, wo sie Sex um ein Vielfaches billiger haben konnten. Von allen bekam ich auf die eine oder andere Weise zu hören, es wäre unkompliziert. Auch würde keine Taxiuhr mitlaufen wie anderswo. Vordergründig mochte das in ihren Augen vielleicht stimmen, doch in Wahrheit, sagte ich mir, ging es um die Ausübung von Macht. Um das Beibehalten der schiefen Gesellschaftsebene, die am oberen Ende den fesselnden, einflussreichen, in jeder Hinsicht potenten Prinzen zeigte und am unteren das ihn bewundernde, gefügige, ja, was?

Männer, hatte ich außerdem gelernt, waren entschieden anhänglicher als wir Frauen. Bestimmt, sagte ich mir, erhofften sich die meisten Kunden solcher Plattformen bedeutend mehr als ein im Idealfall bezauberndes Wochenende mit grandiosem Sex. Warum sonst hätte Michael mich zu sich nachhause eingeladen? Obendrein barg der Versuch, eine Angebetete aus ihren Escort-Diensten freizukaufen, praktisch kein Risiko außer jenem einer Abfuhr. Andere wiederum ersparten sich auch das, da sie die Macht des Geldes sprechen und sich Frauen per Katalogentscheid aus Fernost kommen ließen. Im Milieu dagegen, mit seinen wenig zimperlichen Strippenziehern im Hintergrund, sah die Sache entschieden anders aus.

Stefan gab sich von Anfang an cool. Er gab mir die Unwiderstehlichkeit seines Wesens oder das, was er dafür hielt, auf charmante, doch jedenfalls bestimmte Weise zu verstehen. Er, der sich selbst als weitgehend emotionslos und gefühlskalt bezeichnen sollte. Er, der sich über alle Mitmenschen allein kraft seiner Existenz erhob, der sich seiner Raffinesse rühmte, da er doch jeden für einen Idioten ansah, der es anders machte als er (bloß: wie machte er es?), der also von montags bis freitags einer geregelten Arbeit nachging und sich dafür viel zu schlecht bezahlen ließ. Er hielt wenig von den Menschen, doch das stets mit einer gehörigen Portion Schmäh und Selbstverständnis, sodass ich es lange Zeit für sich stehen lassen würde.

Ja, er war ein Leuchtturm, dieser Stefan aus Wien. Ein Leuchtturm, baumlang, nicht ein Haar auf dem Kopf (an jenem Tag wenigstens, aus der Ferne besehen, denn tatsächlich schor er sich den Kopf meist auf eine Weise, dass ein kaum sichtbarer Flaum stehenblieb, wie von einem Küken). Und er war auch ein Leuchtturm in puncto verbesserungswürdigem Geschmack, was sein Äußeres betraf. Dennoch auf eine einnehmende Weise faszinierend. Er verstand es von der ersten Sekunde weg, jeden Zweifel an sich mit der größten Nonchalance vom Tisch zu fegen. Einer wie er dachte gar nicht erst daran, seine Defizite abzubauen, zu schmälern oder wenigstens zu kaschieren.

In der Hand einen alten, braunen Koffer, wie er hässlicher und klobiger kaum sein konnte, kletterte ich an jenem Maitag also aus dem Zug, schwamm mit der Menge ans Ende des Bahnsteiges und dachte schon, er hätte mich womöglich versetzt, weil ich ihn nirgendwo ausmachen konnte, als ich ihn aufblitzen sah. Sein Antlitz ähnelte dem seiner Fotos nur bedingt, sie waren nicht die allerbesten gewesen, und der erste Eindruck, wie er mit seinen gut eins neunzig dastand, lässig mit dem Handy in der Hand spielte, und seinen kräftigen, etwas gedrungenen Körper in Szene setzte wie auch seine markante Glatze, ließ mir diesen einen spontanen Gedanken einschießen: Der sieht aus wie ein typischer Russe.

Wenngleich ich mich im nächsten Augenblick fragte, wie denn ein typischer Russe aussah. Später jedoch sollte sich dieser Eindruck auf andere Weise mehrfach vertiefen. Sein unbeugsamer Hang zu Mädchen aus dem Osten, seine generelle Affinität für Osteuropa, seine nahezu perfekten Russischkenntnisse und insbesondere die notorische Geheimniskrämerei, die er zu jeder Zeit um seine Geschäfte betrieb. Doch soweit war ich da noch lange nicht.

»Willkommen in Wien«, sagte er mit breitem Lächeln.

Wir fuhren ins Hotel in der Innenstadt, das »Schick« am Parkring. In einem schnittigen Flitzer, einem M3. Stefan geleitete mich ins Zimmer, entschuldigte sich, weil er auf einen Sprung nachhause müsse, und zischte ab. Seltsam, hätte ich denken können. Doch ich war einfach nur überwältigt. Dieser Ausblick über den Dächern Wiens. Die Schönheit der Stadt, schon das Wenige, das ich bis dahin zu sehen bekommen hatte, nahm mich in Beschlag. Dazu der Ausblick auf das, was da kommen mochte. Weniger unser sexuelles Abenteuer als vielmehr der Mensch, den ich hinter der Fassade freizulegen hoffte. Ich duschte, zog mein Blumenkleid an, trug mein damals langes, schwarzes Haar offen (ich wusste da schon, dass er verzopfte Frauen hasste, wenn sie also ihre Haarpracht zu einem Knäuel verunstalten, wie er es nannte) und trat hinaus auf die Terrasse meines Zimmers. Jedem einzelnen Sonnenstrahl spürte ich nach, und die Unruhe, die mich eben noch fest im Griff gehabt hatte, flog auf und davon.

Stefan rief an. Er wollte mich vor dem Hotel abholen. Als ich auf die Straße trat, hupte es. Einmal. Ein zweites Mal. Erst da begriff ich. Und für einen Moment kam Pretty Woman-Stimmung in mir auf, als ich ihn angeritten kommen sah. In einem Cabrio. Einem silbernen Aston Martin. Bloß von der Eleganz eines Richard Gere war er nach wie vor meilenweit entfernt. Er lege keinen Wert darauf, würde er irgendwann einmal sagen, weil man mit Schönheit genau nichts erreichen könne. Er mache es mit seinem Intellekt. Er, der Doktor der Psychologie, obendrein studierter Jurist, und irgendwann einmal, wie er sagte, in grauer Vorzeit, in der Politik tätig. In Wahrheit, denke ich, war ihm bloß bewusst, dass an seiner Erscheinung nicht viel zu machen sein würde.

Ich lachte hell auf, als er neben mir hielt und den Wagenschlag von innen aufdrückte. »Der Herr hat wohl eine Schwäche für schöne Autos.«

»Und für schöne Frauen«, erwiderte er augenblicklich.

Wir fuhren ins MAREDO am Opernring. Perfekt gegrillte Steaks. Perfekte Weine. Ein erstes Gespräch.

»Bin ich tatsächlich dein letztes Date?«, fragte er mittendrin.

»Du meinst die Auktion? Ja, für den Augenblick wenigstens.« Er sah mich erstaunt an.

»Aber ich bin doch bestimmt nicht dein letztes, oder?«, fuhr ich fort.

Er grinste linkisch. Es sei nichts Besonderes für ihn, Frauen auf diese Weise zu bekommen. Er habe das wiederholte Male getan. Es sei in dem einen Moment lustig, und im nächsten schon wieder vergessen. Überhaupt wisse er gar nicht, mit wie vielen Frauen er schon Sex gehabt habe. Unverhohlener Stolz blitzte in Stefans stahlblauen Augen auf. Und da war er wieder, der feine Unterschied, egal ob Geld im Spiel war oder nicht: Männer, die vorgaben, ihre sexuellen Kontakte nicht mehr zählen zu können, waren Helden. Frauen Schlampen.

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