Читать книгу: «Tod im Kirnitzschtal», страница 3

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Reisinger versuchte sie zu beruhigen. »Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Ich versuche nur rauszubekommen, was wirklich passiert ist.«

Als Nächste mussten Neusche, dann Didi, der eigentlich nichts beizutragen hatte, berichten.

Leo Reisinger nahm Kunath bewusst als Letzten dran, um ihn schmoren zu lassen.

»Nun, Herr Kunath, erzählen Sie bitte noch mal genau, wie Sie den Toten gefunden haben.« Leo hatte es sich auf Neusches Bürostuhl leidlich bequem gemacht.

»Hab ich alles schon den zwei Polizisten erzählt«, winkte Kunath ab. »Jetzt sagen Se bloß mal, wie der umgebracht worden sein soll. Hat doch nüscht gefehlt bei dem, sah doch heile aus?«

Leo seufzte: »Er ist an einer Verkettung von mehreren Ursachen gestorben. Genauer: er ist erstickt.«

Kunath kratzte sich am Kopf. »Das soll funktionieren?«

»Haben Sie in der Straßenbahn irgendetwas gesehen, was ungewöhnlich war?«

»Nu, ’ne Colaflasche, so was liegt sonst nicht rum«, sagte Kunath.

»Ich wüsste nicht, wie man damit jemanden ersticken sollte«, meinte Reisinger, »und aufbewahrt haben Sie die sicher auch nicht, oder? Falls sie dem Toten gehörte, wäre die schon interessant gewesen.«

Kunath schüttelte den Kopf. »Nee, die hab ich in den Müll geworfen am Stadtpark vorne. Der Papierkorb wird jeden Tag geleert. Die könn’ Se vergessen.« Reisinger sah das auch so.

»Erstickt«, wiederholte Kunath gedankenverloren. »Nu, die Straßenbahn ist jedenfalls nicht so luftdicht, dass da einer ersticken könnte. Obwohl die Luft am Sonntagnachmittag, wenn die Boofer aus ’m Wald kommen, manchmal schon ganz schön dicke ist.«

»Wenn wer aus dem Wald kommt?« Leo Reisinger versuchte, schulbuchmäßig Vertrauen aufzubauen. Dieser Kunath wusste vielleicht doch mehr, als es schien.

»Na, die Boofer.« Er sah, dass der Kriminalkommissar mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. »Leute, die im Wald übernachten. Das machen hier viele, dafür gibt’s die Boofen.«

»Aha«, brummte Reisinger; er wollte zurück zum Thema.

»Wie es genau vor sich gegangen ist, wissen wir noch nicht. Der Fall ist ungewöhnlich. Der Mann hatte nämlich auch noch eine gebrochene Rippe und blaue Flecken am ganzen Körper.«

»Ich an Ihrer Stelle würde mal bei den Boofern nachfragen. Mit denen hat der nämlich Ärger gehabt. Das ist mir heute Morgen wieder eingefallen«, sagte Kunath.

Reisinger schnellte aus dem Bürostuhl. »Sie kennen den Mann?«

»Nu«, sagte der Straßenbahnfahrer. Leo Reisinger legte verzweifelt die Hand an die Stirn. Dieses »Nu« machte ihm echte Probleme. Die Sachsen benutzten es ständig, aber nie wusste er, wie es gemeint war. War es ein »Ja«, ein »Nein«, ein »Vielleicht«, oder bedeutete es gar nichts? Er versuchte ruhig zu bleiben.

»Also was jetzt, ja oder nein?«

Kunath machte es sich auf seinem Platz gemütlich. »Nu, kennen ist zu viel gesagt. Ich hab ihn ein oder zwei Mal in diesem Sommer gesehen. Und einmal hat der sich mit Boofern in der Wolle gehabt.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

»Nee!«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Nee!«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Reisinger wartete gespannt auf eine Antwort und starrte Kunath an.

Der zog ein schiefes Gesicht. »Möglicherweise vor zwei Wochen, oder vielleicht drei. Ich weiß bloß, dass der Maik stinksauer auf den war und die sich am Parkplatz vom Nassen Grund angeschrien haben.«

»Und wer ist der Maik?«

»Ä Boofer.«

»Und?«

»Und nüscht!«

»Jetzt lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!« Reisinger war aufgestanden, hatte sich auf den Schreibtisch gestützt und schwebte bedrohlich nahe über Kunath.

Dieser sah, dass der Kommissar jetzt wirklich sauer war, und zog den Kopf ein.

»Wir ermitteln hier in einem wahrscheinlichen Mordfall, und Sie kippen mir wichtige Informationen in Minibröckchen vor die Füße. Können Sie nicht einfach erzählen, was Sie über den Toten und diesen Maik noch wissen?«

Jetzt war Kunath sichtlich beleidigt. »Ich weiß nicht mehr. Ich weiß bloß, dass der Maik heißt, weil der Kevin ihn Maik nennt. Den Kevin kenne ich ooch nur als Kevin, weil die seit Jahren ungefähr jedes zweite Wochenende im Sommer zum Boofen in den Wald fahren. Die sind aus Dresden. Mehr weiß ich nicht.«

Kunath sah auf seine Uhr. »Ich hab jetzt Feierabend. Wie lange soll das hier noch dauern?«

»Bis wir fertig sind«, brummte Leo Reisinger.

Sandra arbeitete inzwischen an der Ostrauer Mühle, beim Campingplatz, im Gasthof Forsthaus und im Gasthof Lichtenhainer Wasserfall mittels Frageliste und Fotos ab, ob jemand den Toten kannte oder am Mittwoch etwas Auffälliges passiert war. Überall stand sie im Weg, denn die Tische in und vor den Lokalen waren gut besucht, und die Bedienungen flitzten hin und her. Am Campingplatz war noch Ruhezeit, hier konnte man erst ab 16 Uhr wieder einchecken und einen offiziellen Vertreter antreffen. Der Platz lag leer und verlassen, die Kurzzeitbewohner waren offenbar unterwegs. Die Bedienungen in den Gasthäusern, die Sandra ansprach, starrten sie erst entgeistert an, dann schickten sie die Kommissarin weiter zu den Wirten. Nachdem sie zum zweiten Mal gemustert worden war wie ein Alien, war Sandra stinksauer. »Landpomeranzen!«, schimpfte sie, als sie am Forsthaus wieder in das Auto stieg. Zwischen all den Touristen in karierten Hemden und sportlichen Hosen fühlte Sandra sich zunehmend unwohl. Außerdem brannte die Sonne auf ihre schwarzen Kleider.

Sie fuhr weiter bis zur Endhaltestelle der Straßenbahn am Lichtenhainer Wasserfall und fand erst mal keinen Parkplatz. Schließlich stellte sie den Wagen ins Parkverbot vor den Garagen des Gasthauses. Sandra klemmte den Polizeiausweis hinter die Windschutzscheibe und zückte ihre Dienstmarke. Kaum hatte sie das Auto verlassen und sich Richtung Eingang bewegt, als auch schon ein Kopf in einem der Erdgeschossfenster erschien und eine Männerstimme rief: »He, Sie da, da ist Parkverbot, da könn’ Se ni stehenbleiben!«

»Nun regen Sie sich mal nicht auf, guter Mann«, beschwichtigte ihn Sandra. Sie hielt ihm ihre Dienstmarke vor die Nase. »Kripo Dresden. Wir ermitteln wegen eines Todesfalles. Ich befrage alle Anwohner entlang der Straßenbahnstrecke, ob sie diesen Mann hier kennen. Moment …« Die Kommissarin begann die Fotos aus ihrer Umhängetasche zu kramen.

»Nee, also das gloob’ ich ni, dass Sie von der Kripo sind. Das ist ja wohl ein Witz. Fahren Sie Ihr Auto da weg, sonst hol’ ich die Polizei.« Der Mann auf der anderen Seite des Fensters trug einen weißen Kittel und hatte dunkle, lockige Haare.

»Hier, bitte«, Sandra hielt ihm durch das geöffnete Fenster nochmals ihre Dienstmarke vor die Nase und den Ausweis dazu.

»Solche Leute wie Sie nehmen die bei der Kripo?«, fragte der Mann ungläubig.

Ärgerlich pustete Sandra eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Mit diesen Landeiern war es wirklich schwierig.

»Wer sind Sie?«

»Na, der Wirt vom Gasthaus, Rudolf Kaiser mein Name.«

»Herr Kaiser, jetzt sehen Sie sich bitte diese Fotos an. Kennen Sie den Mann?«

Der Wirt warf einen kurzen Blick auf das oberste Foto. »Nee, den kenn’ ich nicht. Vielleicht war der mal hier, aber Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Ich hab zu tun.« Er schloss das Fenster und ließ Sandra Kruse einfach draußen stehen. Sie versuchte ihr Glück bei den Bedienungen, die zwischen Gaststube, Biergarten und der Terrasse am Bach hin und her liefen. Die warfen nur unwillig einen schnellen Blick auf die Fotos und verneinten alle beide.

Tja, das war nicht besonders erfolgreich gewesen. Ihre neuen Stiefel scheuerten an der Ferse, sie brauchte dringend ein Pflaster. Überall wimmelte es von Leuten in Wanderkluft, die sie anstarrten. Sie machte sich frustriert auf den Rückweg. Am Straßenbahndepot gab es wenigstens einen Parkplatz.

Es klopfte an der Bürotür, und Sandra schneite herein. Sie war sichtlich genervt. »Gibt’s hier ’ne Cola?« fragte sie. »Woher soll ich das wissen, ist doch nicht mein Büro«, antwortete Leo Reisinger nicht gerade freundlich.

Kunath starrte die Kommissarin genauso an wie Neusche und wahrscheinlich alle anderen Menschen in diesem hinterwäldlerischen Tal.

»Was hast du rausgefunden?«

»Nichts. Die sind hier alle wie zugenagelt. Die haben mich alle angestarrt wie eine Außerirdische. Der Wirt vom Gasthof Lichtenhainer Wasserfall hat mal kurz aufs Foto geguckt und gemeint, den könnte er schon mal gesehen haben. Aber sonst Fehlanzeige. Ich habe rein gar nichts herausbekommen«

Sie ließ sich auf den letzten freien Stuhl sinken und begann ihre löchrigen Stiefel auszuziehen.

»Herr Kunath sagt, dass der Tote schon öfters im Tal war und mindestens einmal Ärger mit Wanderern, sogenannten Boofern, hatte.«

»Na, das ist doch schon mal was!« Sandras Laune besserte sich. »Boofen ist cool. Habe ich damals mit Olli auch gemacht.«

»Hast du was gehört von der Zentrale, gibt es inzwischen eine Vermisstenmeldung?«, fragte Reisinger.

Sie winkte müde mit ihrem Handy. »Ich habe hier keinen Empfang. Du etwa?«

Er holte sein brandneues Smartphone aus der Hemdtasche. Der Empfangsbalken war ganz tief unten, die Batterie fast leer. »Du liebe Zeit, das ist ja hier wie am Ende der Welt.«

»Nu, so ungefähr«, bestätigte Kunath.

Reisinger beschloss, es für heute gut sein zu lassen.

»Wir machen Montag weiter. Halten Sie sich per Telefon zur Verfügung, Herr Kunath. Und wenn Ihnen noch was einfällt, rufen Sie bitte an.«

Auf der Fahrt zurück nach Dresden war wieder so viel Verkehr, dass sie sich in eine lange Autoschlange einreihen mussten.

Sandra war schweigsam und kaute an ihrem schwarzen Nagellack. In Königstein raffte sie sich plötzlich auf und fragte Reisinger unvermittelt: »Wie fandest du eigentlich den Olli?«

Leo Reisinger starrte auf die Straße und kramte in seinem Gedächtnis nach einem Olli. Kannte er einen? In seinen Gedanken war er bei Mandy und dem heutigen Abend. »Äh, ich weiß gerade nicht, welchen Olli du meinst, Sandra«, versuchte er es vorsichtig.

»Na, meinen vorherigen Freund. Ich habe mir heute gedacht, als ich da im Tal war, dass das mit ihm eigentlich besser war als jetzt mit Kurt. Draußen in der Natur sein ist irgendwie cooler als in den verräucherten Gothic-Kneipen.«

Reisinger sah sie unsicher an. Sollte ausgerechnet er jetzt Beziehungstipps geben? Aber er erinnerte sich doch, diesen Olli einmal gesehen zu haben, als der Sandra abends abholte. Er versuchte, so behutsam wie möglich zu formulieren: »Also, ich fand diesen Olli ausgesprochen sympathisch. Viel besser jedenfalls als so Typen wie den Dr. Gräber, die offenbar auf Vampire stehen. Aber das sagt natürlich gar nichts, du musst dich ja mit ihm verstehen.« Er schaute prüfend nach rechts. Seine Beifahrerin ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.

»Du magst Kurt also nicht!« Reisinger seufzte hörbar. War er doch auf eine Tellermine getreten. Er sollte sich auf diese Art von Gesprächen mit Frauen nicht einlassen.

»Ich kenne diesen Kurt doch gar nicht!«, protestierte er. »Da kann man weder von mögen noch von nicht mögen sprechen!« Sandra versank wieder in dumpfes Brüten. Am Kreisverkehr in Königstein schnappe Reisinger sich sein Smartphone. Aber nun war die Batterie endgültig leer. »Mist!«, schimpfte er. Wenn Mandy jetzt eine Nachricht hinterlassen hatte?

Kurz vor Dresden wachte Sandra aus ihren stillen Betrachtungen auf. »Das mit dem Gräber war echt gruselig«, sagte sie. »Vielleicht ist das mit Gothic doch nicht das Wahre für mich. Ich muss mal eine neue Pro-und-Kontra-Liste wegen Kurt und Olli machen.«

Leo Reisinger atmete hörbar aus. Er schwor bei sich selbst, keinen Ton mehr zu Fräulein Kruses Beziehungskisten von sich zu geben.

Ärgerlich fuhr er Sandra nach Hause und machte sich daraufhin selbst auf den Heimweg.

3

Im Tal herrschte schon Finsternis, als Cindy Hecht von der Kirnitzschtalstraße auf den Campingplatz an der Ostrauer Mühle einbog. Sie lächelte voller Vorfreude. Diese milden Sommernächte waren immer das Beste. Sie und Herbert saßen dann die halbe Nacht draußen und schauten sich den von Milliarden Sternen übersäten Himmel an. Nirgend-wo sonst konnte man die Sterne so klar sehen wie im Tal. Seit er am Mittwochnachmittag vergeblich versucht hatte, sie anzurufen, war sie aufgeregt. Bestimmt hatte er etwas gefunden und wollte ihr das mitteilen. Einen anderen Grund konnte sie sich nicht vorstellen. Herbert war nicht der Mann, der sich nur meldete, um Belanglosigkeiten auszutauschen. Als sie Donnerstagmittag entdeckte, dass sie einen Anruf auf ihrem Handy verpasst hatte, und sah, dass es seine Nummer war, hatte sie versucht, ihn zu erreichen. Aber das ging ja nie. Hier im Tal konnte man nicht telefonieren, Empfang gab es nur, wenn man oben auf den Höhen war. Unten herrschte totale Funkstille.

Sie fuhr auf den Parkplatz gleich beim Eingang und holte ihre Tasche vom Rücksitz. Herberts Wohnmobil stand wie immer in der zweiten Reihe ganz hinten. Der Platz war gut besucht. Sogar vorne, auf dem schmalen Streifen zwischen den beiden Armen der Kirnitzsch, stand eine ganze Reihe Zelte. In der milden Sommernacht waren die meisten Camper noch draußen und unterhielten sich.

Cindy war erstaunt, dass das Auto nicht erleuchtet war, aber manchmal machte sich Herbert eben auch abends noch auf die Suche. Enttäuscht kramte sie ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür.

Drinnen sah es so aus wie immer. Sorgfältig aufgeräumt, die senffarbenen Sofakissen ordentlich auf der braunen Überdecke, das Geschirr gespült und aufgeräumt, Herberts Sachen hingen im Schrank, der Laptop lag zugeklappt auf dem kleinen Tisch. Nur die Luft war ziemlich stickig, fand sie, deshalb ließ sie die Tür noch ein wenig offen.

Es war Viertel nach neun. Sie hatte geduscht, zu Abend gegessen und fand es ein wenig enttäuschend, dass er sie nicht in Empfang nahm, wie er das sonst immer getan hatte. Im Spiegel an der Innenseite des Schrankes überprüfte Cindy ihr Aussehen. Die lockigen blonden Haare waren frisch gefärbt, diesmal hatte sie sich noch zusätzlich rote Strähnchen machen lassen. Ob Herbert das gefiel? Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her und strich die rosa Bluse über ihrem üppigen Busen glatt. An den Ärmeln hatte sie verspielte Rüschen, und die Farbe passte perfekt zu ihren bunten Blumenleggings.

Zufrieden drapierte sie sich aufs Bett und wartete auf Herbert. Um zehn Uhr war er immer noch nicht da. Sie ging hinüber zur Telefonzelle und versuchte, ihn auf seinem Mobiltelefon zu erreichen. Aber eine Automatenstimme verkündete lapidar, dass der Teilnehmer derzeit nicht zu erreichen sei. Verwirrt ging sie zurück und wartete.

Um Mitternacht wachte Cindy auf, voller Mückenstiche, weil die Tür immer noch offen stand.

Nun begann sie sich ernsthaft Sorgen zu machen. Aber was konnte sie schon tun?

Cindy schloss erst mal die Tür und versuchte, jede Mücke im Wagen zu erschlagen. Wenn er ihr wenigstens eine Nachricht dagelassen hätte!

Sie begann in seinen Sachen zu suchen, schlug sein Tagebuch auf, aber die letzte Eintragung war vom Mittwochvormittag. »Neue Hinweise zu Idagrotte gefunden«, stand da. Aufmerksam durchsuchte sie die Eintragungen der letzten Woche, aber seit Mittwoch stand da nichts mehr. Cindy seufzte. Wo war er bloß? Sie konnte nichts tun, ihn nicht anrufen, nur warten; warten und hoffen.

Cindy machte sich bettfertig und wälzte sich bis zum Morgen hin und her, von Sorgen umgetrieben und der Frage, was sie tun sollte.

Das war so schiefgelaufen, wie es nur schieflaufen konnte. Leo Reisinger war stinksauer. Als er endlich gegen acht Uhr zu Hause war und sein Smartphone wieder Strom hatte, hörte er die Mailbox ab. Mandy war drauf und bat ihn um einen Rückruf, weil sie heute Abend Zeit hätte, ihn zu treffen.

Als er sie zurückrief, war sie sauer. »Leo, ich habe heute Mittag angerufen, und jetzt ist es halb neun Uhr abends. Wie denkst du dir das? Ich habe mich anders orientiert und mich mit Katharina verabredet. Wir gehen zu den Filmnächten.« Leo versuchte sein Bestes.

»Ach Mandy, Herzchen, ich war in einem Tal irgendwo hinter Pirna und hatte keinen Empfang. Aber ich würde mich so freuen, dich zu sehen. Ich kann es, ehrlich, kaum erwarten. Bitte, Süße!«

»Zu spät«, hallte es schnippisch zurück. »Ich melde mich wieder.« Leo stand noch eine Weile mit dem Handy am Ohr, doch Mandy hatte schon aufgelegt.

Enttäuscht ließ er sich auf das Sofa sinken. Die letzte Nacht mit Mandy war der Hammer gewesen. Mit dieser Frau würde er noch eine Menge Spaß haben. Nachdem er eine Weile seinen Fernseher angestarrt hatte, spürte er, wie müde er war. Wahrscheinlich war es besser, wenn er heute mal zu einer Mütze Schlaf kam. Außerdem war es nie schlecht, ihr das Gefühl zu geben, dass sie die Regeln diktierte. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und zappte sich lustlos durch das Fernsehprogramm. Um halb zehn Uhr schreckte ihn das Telefon aus einem leichten Schlummer. Er war auf seinem Sofa eingenickt, die halb volle Bierflasche vor sich. Noch benommen griff er zu seinem Smartphone.

»Reisinger«.

»Du, Leo, ich wollte dich an den Geburtstag von Onkel Josef erinnern. Denkst du dran, ihn anzurufen?« Onkel Josef war eigentlich sein Großonkel, inzwischen längst pensionierter Polizist in Fürstenfeldbruck.

»Ist gut, Mama«, sagte er versöhnlich. »Ich rufe ihn an. Wie geht es dir und Oma?«

»Ach, wie immer, Bub. Passt schon. Unkraut vergeht nicht. Du weißt ja.«

Sie berichtete ihm vom neuesten Dorfklatsch, von der Hochzeit vom Faschinger Toni, bei der sie zwar nicht eingeladen gewesen war, von der aber jeder, der dabei gewesen war, berichtet hatte.

»Das Bürgerhaus war voll, bis auf den letzten Platz, mindestens dreihundert Leute waren da. Das hat den alten Faschinger eine Stange Geld gekostet!« Leo nahm einen Schluck von seinem Bier, aber es schmeckte ihm nicht. Er trug die Flasche hinüber in die Küche und schüttete den Rest in den Ausguss. »Und sonst so?«, wollte er wissen.

Seine Mutter erzählte von Omas Rheumaschüben und dass Mimi, die schwarz-weiße Katze, ihr schon wieder eine halbtote Maus vor die Schlafzimmertüre gelegt hatte. »Die lernt es einfach nimmer!«, sagte seine Mutter mit hörbarem Seufzen. »Und sonst so?«, fragte Leo nochmals.

Seine Mutter zögerte einen Augenblick. »Veronika hat sich ein neues Auto gekauft. Einen blauen Golf.«

Leo hatte gewusst, dass es ihm einen Stich versetzen würde. Aber er war es inzwischen gewohnt. »Geht es ihr gut?«, fragte er.

»Meine Güte, Leo, ich versteh dich nicht! Warum …?« Sie brach ab. Leo sagte nichts.

»Wann kommst denn mal wieder heim?« fragte seine Mutter schließlich.

»Ende September, Mama, das weißt du doch«.

»Ist gut, Bub. Vergiss den Onkel Josef nicht!« Sie legte auf.

Im Bett versuchte er sich noch mal die Nacht mit Mandy ins Gedächtnis zu rufen, aber immer wieder schob sich das Bild von Veronika in ihrem neuen blauen Golf in seine Gedanken. War der Wagen jetzt hellblau oder dunkelblau? Bevor er einschlief, nahm er sich vor, seine Mutter beim nächsten Mal unbedingt nach der genauen Farbe zu fragen.

Als Cindy am nächsten Morgen aufwachte, war es noch früh am Tag. Die Sonne kam noch nicht herunter bis ins Tal, und über der Kirnitzsch hing ein dunstiges Band. Die Schlafstelle neben ihr war leer. Jetzt bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Cindy konnte einfach nicht glauben, dass Herbert die ganze Nacht wegbleiben würde, obwohl sie doch am letzten Wochenende fest vereinbart hatten, dass sie sich sehen würden. Er hätte angerufen, ganz bestimmt!

Sie zog sich an und ging zur Rezeption des Campingplatzes.

»Der Herr Lauscher?«, fragte die Dame am Fenster. »Moment mal, der hat Platz Nummer wie viel?« Sie sah auf. »Platz Nummer 43«, sagte Cindy. »Das Auto steht ja noch da.« Die Dame blätterte in ihren Unterlagen.

»Ja, der Platz ist bis Ende September gebucht, der muss noch da sein.« Sie strahlte Cindy an.

»Das weiß ich doch! Ich muss wissen, ob ihn jemand gestern gesehen hat. Er ist die ganze Nacht nicht hier gewesen. Ich mach mir Sorgen!«

»Ach so«, die Dame am Tresen schaute hilflos drein. »Wissen Sie, ich mach hier Urlaubsvertretung. Ich kenne die Leute nicht alle. Aber wenn Sie sich Sorgen machen, dann rufen Sie doch die Polizei an. Vielleicht wissen die was.« Cindy drehte sich um und ging zurück zum Wohnmobil.

Die Nachbarn links und rechts von Herberts Wohnmobil waren erst gestern Morgen angekommen und hatten niemanden gesehen. Das half nicht weiter. Cindy war unschlüssig.

Sollte sie, oder sollte sie nicht? Sie musste sich ja nicht mit ihrem richtigen Namen vorstellen. Aber es war die einzige Möglichkeit, herauszubekommen, ob Herbert nach Hause gefahren war. Cindy holte Kleingeld, schnappte sich das Büchlein mit den Telefonnummern und rief von der Telefonzelle am Campingplatz Herberts Festnetznummer an. Die hatte sie sich heimlich aus dem Telefonbuch holen müssen, Herbert hatte ihr diese nicht geben wollen.

Cindy war aufgeregt und zögerte. Eigentlich hatte sie versprochen, dass sie das nie, nie tun würde. Herbert konnte ziemlich garstig werden, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Aber ihre Sorge war größer als ihre Bedenken.

Nach langem Klingeln meldete sich eine Frauenstimme.

»Lauscher.«

»Guten Tag, Frau Lauscher, ich bin eine ehemalige Kollegin Ihres Mannes und möchte ihn gerne zu einem Ehemaligentreffen einladen, könnte ich ihn wohl sprechen?« Sie hatte sehr schnell gesprochen und war nervös. Es folgte eine lange Pause. Cindy hielt die Luft an.

»Wer ist am Apparat?«

Sie stockte kurz. »Andrea Milster.«

»Oh, diesen Namen hat mein Mann nie erwähnt.« Cindy umklammerte den Telefonhörer und schwitzte vor Nervosität. Was für eine blöde Idee, aber etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.

»Äh, ich bin von der Personalabteilung. Wir … haben nicht … direkt zusammengearbeitet«, stammelte sie. »Kann ich Ihren Mann denn nun sprechen?«

Wieder eine lange Pause am anderen Ende.

»Da rufen Sie am Samstagvormittag an?«, fragte es aus dem Hörer. Cindy biss sich auf die Lippen.

»Warum nicht?«, versuchte sie leichthin zu sagen.

Wieder langes Schweigen.

»Mein Mann ist nicht hier. Er ist auf einem Campingplatz im Kirnitzschtal. Haben Sie seine Handynummer?«

»Nu, die hab ich!«, sagte sie und fühlte sich im gleichen Moment ertappt. Das hätte sie wohl besser nicht tun sollen. Herberts Frau hatte wohl nichts anderes erwartet.

»Dann ist’s ja gut«, sagte sie und legte auf.

Cindy stand ratlos in der Telefonzelle. Sie war genauso weit wie zuvor, nur hatte sie eben noch Herberts Ehefrau auf den Plan gerufen.

Inzwischen war es nach acht Uhr. Sie bekam Hunger. Der Kühlschrank in Herberts Wohnmobil war gut gefüllt, aber als sie die Wurst auspackte, sah die alt und grau aus. Die beiden Brötchen in der Tüte waren mindestens drei Tage alt. Die Milch war sauer, also kochte sie Tee.

»Und wenn ihm was zugestoßen ist?« Cindy kaute auf der alten Semmel herum und ihr wurde mit jedem Bissen deutlicher, dass sie die Einzige war, die Herbert helfen konnte. Sie musste etwas unternehmen.

Nach dem unerfreulichen Frühstück holte sie den Lederkoffer aus dem Campingwagen und wuchtete ihn in den kleinen Kofferraum ihres Autos. Dann fuhr Cindy nach Pirna zur Polizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.

»Seit wann vermissen Sie denn Ihren Mann?«, fragte der junge Beamte.

»Ich weiß nicht genau, aber gestern Abend war er jedenfalls nicht da, und bis heute Morgen ist er nicht aufgetaucht.«

Der junge Mann sah sie erstaunt an. »Aber vielleicht hat er einfach bei einem Freund übernachtet. Haben Sie seine Bekannten alle angerufen?«

»Nee.«

Der junge Mann legte den Stift beiseite und sah sie an. »Wenn ein erwachsener Mann eine Nacht nicht nach Hause kommt, kann man doch nicht gleich eine Vermisstenanzeige aufgeben. Da gibt es tausend Möglichkeiten, wo er sein könnte.« Cindy hatte das Gefühl, dass der Polizist sie gleich unverrichteter Dinge wieder rausschicken würde. Eigentlich wollte sie nicht die ganze Geschichte erzählen, aber nun musste sie doch mit der ganzen Wahrheit herausrücken.

»Aber wir waren verabredet. Zu Hause ist er nicht. Und das Wohnmobil sieht aus, als wäre er schon ein paar Tage nicht mehr drin gewesen!«

»Welches Wohnmobil?«, fragte der Polizist. Cindy war es nun egal. Das Versteckspiel hatte ohnehin keinen Zweck.

Der junge Polizist hörte ihr geduldig zu, bis sie in Tränen aufgelöst ihre ganze Geschichte erzählt hatte.

»Sie haben also seine Frau angerufen, und da ist er nicht?«, fragte er. Cindy nickte.

»Und der Wohnwagen, wo Sie beide sich immer treffen, steht im Kirnitzschtal?«

»Ja, Dauercamper an der Ostrauer Mühle«, schluchzte Cindy.

Der junge Polizist führte Cindy weg vom Tresen in ein Büro mit einem Schreibtisch und ließ sie sich hinsetzen. »Bitte beschreiben Sie mir Herbert Lauscher«, sagte er.

»Also, Herbert ist so groß wie ich, ziemlich dünn, hat dunkelblonde, na, eher graue, glatte Haare, ein schmales Gesicht.«

»Wie alt?«

»61 Jahre.«

»Kleidung?«

Cindy sah ihn erstaunt an. »Woher soll ich wissen, was er anhat? Ich hab ihn das letzte Mal letzten Sonntag gesehen. Die Sachen vom Sonntag wird er doch heute nicht mehr anhaben.«

Der junge Polizist versuchte es anders. »Sicher. Ich meine, wenn er wandern ging, gab es da bestimmte Dinge, die er immer trug, einen Rucksack, eine Jacke?«

Cindy überlegte kurz. »Nu, seinen Rucksack, so ’nen grauen alten Stoffrucksack, und die neuen blauen Schuhe! Die haben wir im Mai zusammen gekauft, müssen Sie wissen. Waren ordentlich teuer, aber Herbert sagt, so bequeme Schuhe hat er noch nie gehabt. Die sind leuchtend blau mit grauen Streifen. Den Rucksack hat er von seinem Vater geerbt, der ist schon ziemlich alt.«

»Einen kleinen Moment, Frau Hecht. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Er ließ sie kurz sitzen, verschwand im Nebenzimmer und kam mit einem älteren Kollegen und einem Kuvert unter dem Arm wieder.

»Ich fürchte, wir wissen, wo Ihr äh … Freund ist.« Polizeihauptwachtmeister Biesold zog ein Foto aus dem Umschlag und zeigte es ihr. »Ist er das?«

»Herbert!«, rief Cindy. »Aber wieso hat er die Augen zu? Er sieht merkwürdig aus. Ist er krank? Wo ist er?« Cindy sprang erleichtert auf und kramte nach ihren Autoschlüsseln. Wolfram Biesold drückte sie wieder auf den Stuhl.

»Frau Hecht, ich muss Ihnen leider sagen, dass dieser Mann tot ist.«

Cindy sah ihn entgeistert an. »Was?«

Die Beamten brauchten eine Weile, bis sie sie beruhigt hatten.

Der Anruf kam, als Leo gerade unter der Dusche stand. Schimpfend tappte er, nasse Flecken auf dem Parkett hinterlassend, durch sein Wohnzimmer und suchte nach dem Diensttelefon.

»Sie hat den Toten identifiziert?«, fragte er nach einer Weile. »Halten Sie sie fest. Ich bin so schnell es geht bei Ihnen.« Er nahm sich kaum Zeit zum Abtrocknen, schnappte sich Hose, Hemd und einen Knusperriegel und war zehn Minuten später schon auf dem Weg über Pillnitz nach Pirna.

Der Verkehr war auch auf dieser Elbseite enorm. Was wollen die Leute bloß alle in dieser öden Ecke?, fragte sich Reisinger. Er informierte Sandra über die Neuigkeit und bat sie, Lauschers Frau ausfindig zu machen und vorbeizufahren. »Versuch’ rauszukriegen, ob sie über mögliche Gründe für den gewaltsamen Tod was weiß!« Dann rief er in der Dienststelle an und bat um ein Spurensicherungsteam für den Wohnwagen.

Auf der Polizeiwache in Pirna nahm ihn gleich ein Hauptwachtmeister beiseite und deutete auf die halb offen stehende Bürotür.

»Sie sagt, sie ist seine Freundin und wollte ihn gestern Abend auf dem Campingplatz treffen. Da hat er den ganzen Sommer über sein Wohnmobil stehen.«

Leo Reisinger nickte. Was um Himmels willen hatte Sandra die drei Stunden, die sie im Tal unterwegs war, getrieben? Warum war sie nicht auf dem Campingplatz gewesen? Er trat ein und traf auf eine aufgelöste dralle Vierzigjährige mit verweintem Gesicht.

Er stellte sich vor und ließ sich von dem aufnehmenden jungen Polizisten noch einmal genau schildern, was Cindy Hecht berichtet hatte.

»Sie haben ihn also in den letzten Wochen immer zum Freitagabend besucht und sind Montag früh wieder gefahren?«, fragte er. Cindy nickte.

»Woher kennen Sie Herbert Lauscher?«

»Nu vom Wandern. Er hat mich gerettet. Ach Herbert!« Sie schluchzte ein paar Mal laut und fasste sich wieder. »Ich war dieses Jahr zu Ostern alleine in den Schrammsteinen und hab mich verlaufen, und es wurde so schnell dunkel, und ich konnte keinen Weg nach unten finden und dachte schon, ich muss die Nacht im Gebirge verbringen. Scheußlich! Wissen Sie, wie dunkel es nachts im Wald ist? Da hab ich den Herbert getroffen, der war da auch noch unterwegs und kannte sich so gut aus. Er hat mich dann zum Campingplatz geführt und auf ’ne Soljanka eingeladen. Na ja, dann, dann bin ich eben geblieben, und wir haben uns jedes Wochenende getroffen.« Sie schaute auf den Boden. »Ich weiß schon, dass er verheiratet ist. Hat er mir gleich am ersten Wochenende gesagt. Aber das war mir egal.«

»Das geht mich gar nichts an, Frau Hecht, das ist Ihr Privatleben. Ich versuche lediglich rauszubekommen, was passiert ist. Sie wissen, dass Herbert Lauscher tot in der Straßenbahn gefunden wurde?«

»Ja, ich kann das gar nicht glauben. Der Herbert ist immer zu Fuß gegangen. Er hat ständig gesagt, die von der Straßenbahn sind Halsabschneider, da kostet die Fahrt 5 Euro! Und dass es das in der DDR nie gegeben hätte, dass die einem so viel Geld für eine Straßenbahnfahrt abknöpfen!«

»Hatte Herr Lauscher irgendwelche Feinde, ich meine Leute, mit denen er im Streit lag?«

Cindy presste kurz die Lippen aufeinander.

»Nu, ich meine, nicht direkt Feinde. Aber der Herbert, wie soll ich sagen, der war sehr korrekt in allem, und das wollten viele nicht hören, da ist er schon manchmal in Streit geraten.«

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22 декабря 2023
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9783948916046
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