Читать книгу: «Tatort Kuhstall», страница 2

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Leo nickte und winkte Sascha auffordernd zu, mitzukommen.

»Oh nee, jetzt noch die steilen Treppen hoch, wo ich schon den ganzen Tag gewandert bin«, seufzte der. Schließlich wandte er sich ergeben in die entgegengesetzte Richtung und führte Leo auf einen Pfad direkt zum Fels und an eine Treppe am Fuße einer engen Klamm. Gut gelaunt folgte Leo seinem Kollegen und bestaunte die hoch aufragenden Sandsteinmauern, die hier nur eine etwa eineinhalb Meter breite Schneise freiließen. In dieser Schlucht gingen die beiden, mal auf Treppen, mal auf Felsboden, bergan, bis sie nach einer Linkskurve direkt auf eine ausgetretene Steintreppe stießen. Sascha war völlig aus der Puste, als sie oben ankamen. Leo blickte auf ein Hochplateau mit einem Gasthaus und gemütlichen Tischen auf dem Platz davor. Sascha deutete nach rechts:

»Da geht der Fußweg runter ins Kirnitzschtal. Wir sind jetzt auf halber Höhe. Links liegt der Kuhstall.«

Leo staunte. Das Gelände zur rechten Seite hin war flach und bewaldet, während links von ihm die Sandsteinmauer schroff nach oben ragte. Er stand vor einem beeindruckenden Durchbruch in der Felswand. An dessen Ende sah er ein Geländer und Touristen, die von dort den Ausblick über die Sächsische Schweiz genossen.

»So was nennt ihr Sachsen Kuhstall?«, fragte er entgeistert.

Sascha blieb stehen: »Seit wann genau die Höhle so genannt wird, weiß ich nicht, aber es hat was mit Krieg und Plünderei zu tun. Die Bauern der Gegend haben hier ihr Hab und Gut und ihr Vieh in Sicherheit gebracht. Deshalb heißt sie im Volksmund ›Kuhstall‹. Ihr offizieller Name ist ›Wildensteiner Felsenhalle‹, glaube ich.«

Als sie am Geländer angekommen waren, versuchten sie, unten im Wald Tannhauser und sein Team zu entdecken. Aber die waren, wie Leo und Sascha durch Zurufen feststellten, deutlich weiter rechts.

»Hier ist er demnach nicht runtergefallen.« Sascha drehte sich um: »Komm mit!«

Sie wandten sich vom Kuhstall weg links auf den Weg zwischen Felswand und Gasthaus. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie eine Lücke zwischen den Felsen. Mit Handläufen gesicherte Wege führten an die Außenseite des Felsenriffs.

»Hier lang!« Sascha ging voran, an die rechte Ecke, wo sich der schmale Bergpfad wie ein dünnes Band am Felsen entlangzog. Der Weg zur Idagrotte fiel Leo wieder ein und er weigerte sich, so nah am Abgrund weiter zu gehen. Während er sich krampfhaft am Geländer festhielt, folgte Sascha dem steinigen Pfad und rief nach unten.

»Manni?«

»Hier!« Die Antwort kam immer noch von rechts.

»Wir müssen noch weiter da rüber«, sagte Sascha, wischte sich über die Stirn und führte Leo auf einem Trampelpfad und an einem riesigen Sandsteinkoloss vorbei zu einer neuen Öffnung in der Felswand.

»Hier kommen eigentlich nur die Bergsteiger her«, sagte Sascha und deutete auf die Rettungsbox des Alpenvereins an der Felswand. Der sandige Boden war nur spärlich mit ein paar mageren Fichten und lichtem Gestrüpp bewachsen. Von hier aus war zu erkennen, dass sie auf einem sich verjüngenden Felsriff standen. Links von ihnen ragte die Felswand gut zwanzig Meter in die Höhe und versperrte die Aussicht, rechts sah Leo über das Kirnitzschtal hinweg auf entfernt liegende Höhenrücken mit einzelnen Häusern.

Er folgte Sascha zu einer neuen Schneise in der Sandsteinwand. Hier lagen mehrere Felsblöcke verteilt umher. Einer, der Leo an eine dicke Butterscheibe erinnerte, lehnte sich mit dem oberen Ende an die linke Felswand und bildete mit ihr ein spitzes, etwa drei Meter hohes Tor. Davor und dahinter lagen weitere mannshohe Brocken, aber es war nicht schwierig, über sie hinweg und zwischen ihnen hindurchzuklettern.

Wieder prallte Leo zurück. Zu seinen Füßen ging es senkrecht nach unten. Während Sascha das schmale Felsenband erkundete, das sich nach rechts zog, blieb er unter der gekippten Felstafel stehen und rief nach unten:

»Manni?«

»Bei der Arbeit!«

Diesmal standen sie direkt über ihm. Sascha nickte Leo zu: »Okay. Dann wissen wir jetzt, von wo er gefallen ist.« »Die Stelle am Wilderer hinter der Erste-Hilfe-Box«, brüllte er nach unten.

»Wir kümmern uns drum«, kam es zurück.

Sascha stieg vorsichtig über die Felsen zurück zu Leo.

»Irgendwas Auffälliges kann ich hier aber nicht entdecken. Du?«

Leo riss sich von der Aussicht auf die Baumkronen und das Panorama los und sah sich um. Der Sandboden war so trocken, dass sich keine Schuhabdrücke abzeichneten. Es gab keine herumliegenden Gegenstände, nichts, was zumindest auf den ersten Blick Aufschluss über den Verlauf dieses tödlichen Absturzes gegeben hätte.

»Glaubst du, er ist absichtlich gesprungen?«, fragte er Sascha.

Der zuckte mit den Schultern. »Wird sich erweisen.«

Sie suchten akribisch den Boden und die Felswände ab, konnten aber nicht den kleinsten Hinweis finden. Keine abgelegten Gegenstände oder Kleidungsstücke, keine textilen Spuren an den Felsen, nichts.

»Und wo ist jetzt der Wilderer?«, fragte Leo.

Sascha deutete auf die Felswand rechts vom Durchbruch. Der Fels schien öfter erklommen zu werden, schloss Leo aus den Metallringen, die in ihm verankert waren.

»Hat hier jeder Felsbrocken einen eigenen Namen?«, fragte er.

»Aber sicher!« Sascha nannte ihm ein paar: »Da drüben der Bloßstock, die Brosin-Nadel, weiter hinten der Falkenstein und dahinter die Schrammsteine. Und das sind nur die bekanntesten.«

Sie sperrten den Sandplatz mit dem Polizeiband ab und liefen zurück zum Gasthaus »Am Kuhstall«. Die Angestellten dort waren gerade dabei, den Imbiss zu schließen. Keiner von ihnen konnte sich daran erinnern, am Samstag einen etwa fünfzigjährigen, schlanken Mann mit sandfarbener Hose und Windjacke gesehen zu haben.

»Aber wissen Sie, hier gehen an schönen Tagen Hunderte von Leuten vorbei. Wenn da jemand nicht irgendwie auffällt, dann kann man sich nicht an ihn erinnern.« Leo und Sascha ließen, falls doch noch jemandem etwas zu dem Herrn einfiele, die Nummer der Dresdner Kripo zurück und verließen das Gasthaus.

»So, jetzt aber ab zum Auto, es ist ja schon bald Abend, wir müssen noch nach Rathmannsdorf und ich habe langsam einen Bärenhunger!«

Sie gingen am Gasthaus vorbei auf den ebenen Wanderweg, der direkt von der Kuhstall-Höhle wegführte. Schon bald ging es steil nach unten, zum Teil über Treppen, zum Teil über schottrige Waldwege, bis sie an der leise vor sich hin plätschernden Kirnitzsch ankamen.

Die angegebene Adresse im engen Talkessel von Rathmannsdorf gehörte zu einer hellgrün gestrichenen Gründerzeitvilla. Sie schien rundum renoviert zu sein, doch für Leo passte die Farbe nicht so recht zu den dreieckigen Portalen über den hohen Fenstern und zur verzierten Fassade. Am schmiedeeisernen Gartentor prangte auf einem Messingschild nicht nur der Name »S. Schüppel«, sondern auch der Firmenname »Waldgold GmbH«.

Niemand öffnete, nachdem Leo den Klingelknopf gedrückt hatte. Alle Fenster waren geschlossen, die Terrasse leer und verlassen.

»Ein Blumenfreund war Herr Schüppel ja nicht. Aber für Grün hatte er was übrig.«

Leo deutete auf die üppigen, aber blütenlosen Pflanzen. Der Garten vor der Villa war dicht mit Farnen bewachsen, auch ein Gewächshaus war zu sehen.

Sascha nickte zur Bestätigung, aber seine Gedanken kreisten um Melanie. Seit sie die Leiche gefunden hatten, klopfte sein Herz in einem schnelleren Rhythmus. Er fühlte sich federleicht und gleichzeitig benebelt, auf eine angenehme und aufregende Art. So sehr er sich um ein professionelles Auftreten bemühte, seine Mundwinkel strebten ununterbrochen nach oben. Während Leo sich die Villa genauer ansah, schaute er einfach zu und freute sich an den warmen Erdtönen, die die Abendsonne hinter der Villa auf die Sandsteinwand malte.

Unverrichteter Dinge machten sie sich auf den Rückweg. Leo meinte, sie würden es am Montagvormittag noch mal probieren. Sascha schien sich in Gedanken zu verlieren, als er seinen Wagen über die Bad Schandauer Elbbrücke lenkte.

»Erzähl mal!«, forderte Leo ihn auf. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er war so voll mit Eindrücken, dass er lossprudelte wie eine Colaflasche, die man geschüttelt hat.

»Melanie ist der Wahnsinn. Ich kann es immer noch nicht fassen. Sie besitzt alle Staffeln von ›Game of Thrones‹, ›Twin Peaks‹ und von noch ein paar wirklich guten Serien!«, frohlockte Sascha.

»Aha. Sowas bekommt man aber in jedem halbwegs gut sortierten Kaufhaus, oder nicht?«

Sascha schüttelte unwillig den Kopf.

»Darum geht es doch nicht. Sie guckt die gleichen Sachen wie ich, wir ticken ganz ähnlich, das ist das Tolle! Sie braucht nach einem Stück Torte unbedingt eine Essiggurke und kann bei Vollmond nicht gut schlafen. Sie liebt Badeschlappen und Zitroneneis und hasst Fitnessstudios. Genau wie ich besitzt sie alle Platten von Nina Hagen und sie sammelt Badeenten! Dass wir uns heute getroffen haben, ist Schicksal, sage ich dir!«

Leo sah ihn skeptisch an, kommentierte Saschas Begeisterung aber nicht. Bevor der weitere Gemeinsamkeiten aufzählen konnte, fragte er: »Wie bist du auf die Idee gekommen, dich einer festen Wandergruppe anzuschließen? Ist das ein Verein oder deine ehemalige Pfadfindergruppe oder ein Selbsterfahrungstrip?«

Sascha überlegte ein wenig, bevor er antwortete: »Na ja, nachdem Sandra mich so rigoros abgelehnt hat, dachte ich, es liegt vielleicht daran, dass ich so wenig Erfahrung mit Beziehungen habe. Ich meine, meine Mutter gilt da ja wohl nicht, oder?«

Er sah Leo an, der auf dem Beifahrersitz saß und entschieden den Kopf schüttelte.

»Nein, das zählt definitiv nicht!«

»Eben. Deshalb dachte ich mir, dass ich mehr unter Leute muss. Und weil ich nicht der Typ bin, der sich abends in Kneipen oder Clubs herumtreibt, um Frauen kennenzulernen, habe ich nach einer anderen Möglichkeit gesucht. Mir ist zu Ohren gekommen, dass es in der Region eine Gruppe für Nacktwanderer gibt und da habe ich mich einfach angemeldet. Ich fand das interessant und ein wenig skurril und hoffte, das hilft mir, meine Schüchternheit zu überwinden …«

»Nacktwanderer?!?« Leo unterbrach ihn so jäh, dass Sascha vor Schreck auf die Bremse stieg und sie beide nach vorn geschleudert wurden. »Bist du heute tatsächlich splitterfasernackt mit anderen Leuten durch den Wald gelaufen?«

Sascha sah ihn groß an, bevor er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte.

»Wieso denn nicht? Das ist ein großartiges Gefühl. Du spürst den Wind auf der Haut und die Sonne überall, das ist ein ganz anderes Freiheitsgefühl als mit Klamotten, die nach einer Stunde durchgeschwitzt sind. Solltest du mal probieren!«

»Und diese Frau, mit der du dich morgen triffst, ist da ebenfalls nackt mitgelaufen?« Leo konnte es nicht fassen.

»Ja, sie und noch acht andere. Es war eine sehr angenehme Gruppe. Jan, der mit zur Leiche gegangen ist, hat allerdings schlappgemacht und gekotzt. Für ihn war das heute zu viel Natur.«

»Mensch, Sascha, wenn das die Medien erfahren, steht in allen Zeitungen, dass ein Kriminalkommissar nackt durch den Nationalpark gewandert ist und dabei eine Leiche gefunden hat."

Sascha zog eine Schnute.

»Beruhige dich mal wieder! Ich kann in meiner Freizeit machen, was ich will. Nacktwandern ist nicht verboten und es geht keinen was an. Ihr in eurem katholischen Bayern seid wahrscheinlich zu verklemmt. Das ist eine tolle Sache und ich werde es in jedem Fall wieder machen. Ich kann ja morgen mal Frank anrufen, den Leiter der Gruppe. Ich werde ihn bitten, dass er möglichst nicht rausposaunt, dass wir während der Wanderung auf eine Leiche gestoßen sind.«

Sascha fand Leos Bedenken völlig übertrieben. Sandra hätte wahrscheinlich ähnlich ablehnend reagiert. Sie war der Meinung, dass man als Kripo-Beamter gewissermaßen immer im Dienst sei und sich auch so verhalten solle. Na, egal, er würde es niemandem mehr erzählen. Er setzte Leo vor seiner Wohnung in der Alaunstraße ab und sputete sich, nach Hause zu seiner Mutter zu kommen. Er hatte viel zu berichten.

Montag

»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Pröve!«

Die Dame am Empfang im Präsidium an der Schießgasse überschlug sich fast vor lauter Höflichkeit. Sascha wunderte sich kurz, aber es gab Schlimmeres, als an einem Montag so freundlich begrüßt zu werden, zumal seine eigene Laune ebenfalls bestens war. Tatsächlich konnte er sich nicht daran erinnern, wann es ihm zuletzt so gut gegangen war. Mit Leo hatte er gestern vereinbart, dass sie erst zum Montagsfrühstück gegen halb elf Uhr erscheinen und dann die komplette Abteilung über den Leichenfund am Kuhstall informieren würden.

Als er die Treppe hochstieg, kamen ihm zwei Kollegen von der Abteilung Einbruch entgegen. Sie grüßten Sascha genauso überschwänglich wie die Dame unten an der Pforte.

»Na, schönes Wochenende gehabt?«, fragte einer der beiden, den Sascha als Martin Butscher zu kennen glaubte.

»Bis zu dem Zeitpunkt, ab dem ich arbeiten musste, schon«, antwortete Sascha freundlich.

»Kann ich mir vorstellen. Manchmal trifft einen das Schicksal ja völlig unvorbereitet.«

Die beiden lachten und verschwanden im Flur. Sascha fand das merkwürdig, aber angesichts seiner Verabredung zum Abendessen mit Melanie konnte ihm nichts die Stimmung verderben. Erst, als er mit einer Dose voll Hackepeter unter dem Arm in seine eigene Abteilung abbog und ein fröhliches »Guten Morgen« durch die offenen Bürotüren schmetterte, wurde er stutzig. Alle Zimmer waren verwaist.

Im Büro von Kai Nolde und Uwe Kröger fand er seine Kollegen. Sie hatten sich alle vor Noldes Computer versammelt und einen Heidenspaß. Als sie ihn sahen, prusteten sie los.

»Was gibt’s?«, fragte Sascha mit erhobener Stimme.

»Im Internet macht gerade der gestrige Leichenfund die Runde. Alle nackten Tatsachen!«, wieherte Kai Nolde.

Nun schwante Sascha, was los war.

»Es gibt Bilder im Netz?«, fragte er und zwängte sich zwischen die grinsende Sandra und den feixenden Uwe Kröger. Auf dem Bildschirm prangte eine Website mit Fotos seiner gänzlich hüllenlosen Wandergruppe von gestern, er ganz vorn.

»Oh«, sagte Sascha.

Alle warteten gespannt auf seine Erklärung.

»Naja, ich bin dem Freundeskreis Sächsischer Naturisten beigetreten. Die wandern eben textilfrei. Ist ein sehr schönes Gefühl. Solltet ihr ruhig auch mal probieren …«

»Ist das nicht Erregung öffentlichen Ärgernisses?«, fragte Kröger und fing wieder an zu lachen.

»Quatsch!« Sascha konnte nicht nachvollziehen, was daran so lustig sein sollte. »Da geht es nur um ein Gefühl von Freiheit und ums Einssein mit der Natur. Das hat überhaupt nichts Anstößiges! Und dass ihr die Fotos offenbar im kompletten Haus herumzeigt, ist nicht nur ärgerlich, sondern auch kindisch.«

»Manni Tannhauser hat einen Link bei Facebook gefunden und ihn weitergeleitet …« Kai Nolde klatschte sich auf die Schenkel. »Das ist aber auch zu lustig: ›Mordermittlung im Adamskostüm‹!«

Alle kicherten wieder los und Sascha stand dazwischen wie ein begossener Pudel.

»Hey, wo seid ihr alle?«

Leos Stimme tönte durch den Flur.

»Hier, wir sichten den gestrigen Fall«, rief Sandra hinaus.

Leo steckte den Kopf durch die Tür: »Guten Morgen allerseits, was ist denn hier los?«

Kai Nolde winkte ihn heran: »Guck mal, wie eifrig Sascha gestern bei der Arbeit war!«

Leo warf einen Blick auf den Bildschirm, lächelte Sascha an und meinte: »Bevor es offiziell wurde, hast du dich aber angezogen, oder?«

Sascha lächelte säuerlich: »Natürlich. Was glaubt ihr denn?«

»Deine neue Flamme auch?«

Dafür erntete Leo einen bitterbösen Blick, den er auch sofort verstand. Nicht jeder in der Abteilung musste wissen, dass er bei seiner Nacktwanderung eine Frau kennengelernt hatte.

»Wenn ihr die Fotos Richter zeigt, werde ich echt sauer!«, brummte Sascha und verzog sich in sein Büro.

Das Gekicher der anderen folgte ihm.

Als das das komplette Team kurz darauf zum Montagsfrühstück im Konferenzraum versammelt war, klopfte Reinhard Richter mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte und bat um Ruhe. Sascha lief beim Anblick des Hackepeters schon das Wasser im Mund zusammen. Als er gerade die Hand nach der Dose ausstrecken wollte, sprach Richter ihn an.

»Sie hatten gestern einen Einsatz in der Sächsischen Schweiz?«

Sascha nickte, ließ die Blechdose mit dem Hackepeter stehen und berichtete von dem Leichenfund.

»Wir haben die Villa des Opfers in Rathmannsdorf aufgesucht, aber niemanden angetroffen. Das wollen Leo Reisinger und ich heute nach der Sitzung noch mal versuchen.«

Richter schaute ihn an, seufzte, strich mehrmals mit der linken Hand über seine blassgrüne Seidenkrawatte und schüttelte schließlich den Kopf.

»Herr Pröve, ich kann Sie in diesem Fall nicht mehr einsetzen.«

»Wieso denn nicht?«

»Einer Ihrer Wanderfreunde hat auf seiner Website Fotos veröffentlicht, die zeigen, dass der Kriminalkommissar Sascha Pröve – ganz vorn im Bild – am Sonntag mit den Naturfreunden beim Nacktwandern war, als am Fuß der Zyklopenmauer eine Leiche gefunden wurde. Fazit: Wie gut, dass Sascha Pröve gleich kompetent den Tatort sichern konnte. Bis heute zehn Uhr gab es bereits einhundertsiebenundvierzig Kommentare dazu und der Link wurde schon Dutzende Male bei Facebook geteilt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Medien das spitzkriegen werden.«

Richter räusperte sich und sah Sascha kopfschüttelnd an. Dann schob er ihm ein Blatt Papier hinüber.

»Das ist ein Foto einer Gruppe von nackten Menschen in Wanderschuhen und Sie sind mitten drin. Was ist Ihnen denn da nur eingefallen?«

Sascha sah betreten auf den ausgedruckten Screenshot.

Aber er wollte sich nicht geschlagen geben.

»Das war eine rein private Wanderung. Ich kann nichts dafür, dass wir ausgerechnet bei meiner ersten Wanderung mit dieser Gruppe auf einen Toten stoßen. Ich habe überlegt, ob ich mich überhaupt zu erkennen geben soll, aber nichts zu tun wäre ja auch nicht in Ordnung gewesen.«

Sascha sah hilfesuchend in die Runde, aber keiner sprang ihm zur Seite.

Richter ließ seine Hand auf die Tischplatte heruntersausen und durchbrach damit die Stille.

»Herrschaften! Ich hoffe, Sie überlegen sich genau, welche Art von Hobbys Sie pflegen, schließlich sind wir als Polizisten Vertreter der Staatsgewalt. Da muss man auch im Privatleben gewisse Dinge unterlassen. Sie, Herr Pröve, sind von der Mitarbeit an diesem Fall entbunden. Ich will, dass Sie sich komplett raushalten, verstanden? Sonst gibt es ein Disziplinarverfahren.«

Sascha sah ihn bedrückt an und nickte. Wenn er bloß nicht auch noch Melanies Fotos an die Spurensicherung gegeben hätte! Dass Richter so spießig reagieren würde, hatte er nicht erwartet. Nervös strich er sich über die Stirnglatze.

»Bei den Ermittlungen vor Ort waren Sie korrekt gekleidet?« Richter zog die Augenbraue hoch.

»Natürlich, Chef«, beeilte sich Sascha zu antworten.

Richter nickte erleichtert. »Dann schlage ich vor, dass Sandra Kruse und Leo Reisinger sich ab sofort um den Fall kümmern und gleich nach Rathmannsdorf fahren. Was gibt es noch zu berichten?«

Er wandte sich an Uwe Kröger und Kai Nolde. Die schilderten ihre Ermittlungen in der Dresdner Drogenszene. Dort hatte sich, nachdem sie im letzten Herbst einen großen Coup gelandet hatten, mittlerweile wieder ein reger Handel entwickelt.

Nur zögerlich begann Frau Kerschensteiner, Richters Sekretärin, nach den Brötchen und dem Hackepeter zu langen. Leo Reisinger packte schließlich seine Leberkäs-Semmel aus, die er jeden Montag beim Fleischer in der Seestraße kaufte. Auch Sandra bediente sich und schob den Korb mit den Brötchen zu Sascha. Aber dem war der Appetit vergangen.

»Sascha ist ein großes Schaf!«

Sandra stand in Leos Bürotür und wedelte mit ein paar Blättern Papier.

»Ich hab ein paar Infos zu diesem Stefan Schüppel gesammelt.«

Leo nickte abwesend. Er kam eben aus Saschas Büro. Der hatte erst nicht einsehen wollen, dass er für die Ermittlungen nicht tragbar war. Da er aber ohnehin noch jede Menge Urlaubstage übrig hatte, war er eingeknickt und hatte versprochen, sich für eine Woche abzumelden. Leo hätte sich lieber mit Sascha diesem Fall gewidmet, mit Sandra war immer alles komplizierter. Aber er fügte sich.

»Wir können gleich nach Rathmannsdorf rausfahren. Was hast du rausbekommen?«, fragte er.

Sandra strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und begann vorzulesen:

»Stefan Schüppel, geboren 1965, ist Forschungsleiter der ›Waldgold GmbH‹, die bereits in dritter Generation einen Kräuterlikör sowie verschiedene Körperpflegemittel aus heimischen Waldkräutern und Kräuteressenzen produziert. Die Produkte werden im Bad Schandauer Ortsteil Rathmannsdorf hergestellt, die Firma liegt in der gleichen Straße wie das Wohnhaus. Habt ihr sie gesehen?«

Leo überlegte.

»Gegenüber der Villa liegt ein Areal mit ehemaligen DDR-Fabrikhallen und neuen Gebäuden. Vielleicht ist sie dort.«

Sandra nickte und fuhr fort:

»Stefan Schüppel hat an der Universität Dresden einen Doktortitel in Biologie erworben. Er scheint einen guten Ruf unter seinen Wissenschaftskollegen zu genießen, jedenfalls erhielt seine zweite Firma, die ›Schüppel Science GmbH‹ in Sebnitz, einige Auszeichnungen für Forschungsprojekte. Seine Eltern, Harald und Barbara Schüppel, sind 2008 kurz nacheinander verstorben. Verheiratet ist er laut Personenregister nicht.«

Sandra sah auf.

»Was hat Sascha nur geritten, als er sich dieser Wandergruppe angeschlossen hat?«

»Tja, auch Polizisten sind eben nur Menschen«, murmelte Leo. Er verriet ihr nicht, dass Saschas Entscheidung auch eine Menge mit ihr zu tun hatte.

»Geh schon mal vor! Ich komme gleich«, sagte er.

Als Sandra zur Tür raus war, rief er Klaus Blum von der Wandergruppe an, der das Foto von Sascha veröffentlicht hatte.

»Herr Blum, mit der Veröffentlichung dieser Fotos bringen Sie meinen Kollegen Sascha Pröve und im Grunde die gesamte Kriminalpolizei in Schwierigkeiten. Bitte nehmen Sie sie wieder raus und unterlassen Sie weitere Posts dazu. Das ist nicht hilfreich für unsere Ermittlungen.«

Klaus Blum sah das anders.

»Sachsen ist ein freies Land und wir dürfen veröffentlichen, was wir für gut und richtig halten. Diese Geschichte ist die perfekte Werbung für unsere Wanderbewegung. Wenn Sascha deshalb ein Problem bekommt, tut es mir leid, aber der Zweck heiligt die Mittel.«

»So gehen Sie also mit neuen Wanderfreunden um?«, fragte Leo ärgerlich.

»Sascha war auch nicht gerade zimperlich. Er hätte sich ja nicht gleich an Melanie ranmachen müssen«, kam es erbost zurück.

Daher wehte also der Wind! Leo ahnte, dass er, genau wie Sascha, sehr vorsichtig sein musste.

»Herr Blum, von den persönlichen Verwicklungen habe ich keine Ahnung. Das müssen Sie mit Herrn Pröve selbst klären. Mir geht es nur um einen sachlichen und zurückhaltenden Umgang mit dem Todesfall.«

»Blödsinn! Sie wollen mir den Mund verbieten!«, schallte es aus dem Telefon. »Das ist Zensur! Damit kenne ich mich aus, ich bin lange genug DDR-Bürger gewesen! Wo kommen Sie denn überhaupt her?«

Leo seufzte und schloss die Augen.

»Ist gut, Herr Blum. Machen Sie, was Sie für richtig halten. Ich will Sie weder zensieren noch überreden, ich habe nur an Ihre Vernunft appelliert. Natürlich ist das hier ein freies Land und Sie dürfen im Rahmen der Gesetze veröffentlichen, was Sie für richtig halten.«

»Ach, jetzt geben Sie zu, dass Sie versuchen, mir mit der Staatsmacht zu drohen?«

Jetzt wurde es Leo aber doch zu bunt.

»Ich habe nicht gedroht, Herr Blum, und Sie sollten wissen, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird. Ich kann also belegen, dass Sie gerade versuchen, mir das Wort im Mund umzudrehen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!«

Er knallte den Hörer auf den Tisch und trat wütend gegen seinen Schreibtisch. Zu der Notlüge mit der Telefonaufzeichnung hatte er noch nicht oft greifen müssen.

Sandra bestand darauf, den Wagen zu fahren. Sie hatte gerade ein Fahrtraining hinter sich gebracht und hoffte nun bei jeder Dienstfahrt, in eine Verfolgungsjagd verwickelt zu werden. Dass Leo eine ärgerliche Schnute zog, bemerkte sie sehr wohl. Sie versuchte, sich ihre Freude darüber nicht ansehen zu lassen. Es wurde Zeit, dass er sie als gleichberechtigte Kollegin akzeptierte.

Während sie den Wagen Richtung Autobahn lenkte, rief er in der Pathologie an und fragte, ob Dr. Gräber schon etwas zur Leiche sagen könne. Auf seinem Schoß lagen die von Sandra ausgedruckten Blätter mit den ersten Informationen zu Stefan Schüppel.

Als er sich verabschiedet hatte, sagte er zu Sandra: »Herr Dr. Gräber ist erst mittags wieder im Hause und frühestens gegen siebzehn Uhr mit der Obduktion fertig. Den Bericht schickt er uns morgen früh.«

Sandra drehte die Klimaanlage um zwei Grad herunter. Der Himmel leuchtete in allerschönstem Blau und es versprach, ein warmer Junitag zu werden. Bis zur Autobahnauffahrt herrschte Schweigen.

»Und, wie läuft es so mit Veronika und dir, wo ihr jetzt erstmals zusammenwohnt?«

Sandra war mehr als neugierig, wie dieses Beziehungsexperiment ihres bayerischen Kollegen funktionierte.

»Eigentlich ganz gut«, antwortete Leo und zögerte, bevor er weitersprach. Sandra wusste, dass er nicht gern über Privates redete, also ließ sie ihm Zeit.

»Ich verstehe nur nicht, wieso sie Möbel kaufen und meine Wohnung umräumen muss, wenn sie doch nur für drei Monate bei mir wohnen will. Wenn ich zurück nach Bayern gehe und wir dort zusammenziehen, kann sie alles nach ihrem Geschmack einrichten, aber hier in Dresden, das ist mein Revier, finde ich.«

Sandra nickte verständnisvoll: »Ihr werdet das schon hinbekommen. Wenn Veronika Lust hat, sich mit mir auf einen Kaffee zu treffen, jederzeit gern. Ich verspreche dir auch, dass wir nicht über dich lästern werden.«

Sie grinste Leo von der Seite an. Aber der fand das nicht so lustig und zog die Stirn in Falten.

»Ich werde es ihr ausrichten.«

Herrje, war der Mann kompliziert! Sie musste ein anderes Thema finden.

Sandra verließ die Autobahn bei Pirna und bog auf die Bundesstraße entlang der Elbe ein.

Sie wollte Veronika unbedingt näher kennenlernen. Leos Freundin war in Beziehungen offensichtlich das genaue Gegenteil von ihr. Sie hielt an Leo fest, als ob er der einzige verfügbare Mann auf der Welt wäre, während sie selbst sich neu orientierte, sobald Probleme auftauchten. Das war nicht immer die beste Methode, vor allem, wenn man, wie sie, auf die Mitte Dreißig zuging und in einem sicheren Hafen landen wollte. Sie würde Veronika ein Loch in den Bauch fragen, um zu verstehen, wie sie das hinbekam.

Sie ließen Königstein hinter sich und überquerten kurz darauf auf der Bad Schandauer Brücke die Elbe, die sich graugrün und träge in ihrem breiten Bett voranschob.

Stefan Schüppels Villa lag jetzt am frühen Nachmittag in der prallen Sonne und leuchtete hellgrün gegen die Felswand im Hintergrund. Sandra hielt auf derselben Stelle neben dem Haus wie gestern Sascha.

Leo stieg aus und versuchte erneut sein Glück mit der Klingel am Gartentor.

Während sie warteten, fielen Sandra die vielen verschiedenen Wedel im Garten auf: »Guck mal, das sieht ja aus wie eine Zuchtstation für Farne!« Wie auf einem Kartoffelacker waren die Pflanzen in langen Reihen gesetzt, nur dass jede Reihe einen anderen Grünton zeigte. Stefan Schüppel hatte offenbar eine Schwäche für diese Pflanze gehabt.

Noch immer regte sich nichts in der Villa. Stattdessen bog ein Kleinwagen in flottem Tempo in die Auffahrt und hielt neben ihrem Auto. Eine etwa fünfzigjährige Frau in einem wild gemusterten Kleid und einer kurzen grünen Jacke stieg aus und kam, mit zwei Einkaufskörben bepackt, auf sie zu.

»Guten Tag«, rief ihr Leo entgegen. »Sind Sie Frau Schüppel?«

Als Sandra die Augen verdrehte, fiel ihm ein, dass er ja gerade gelesen hatte, dass Schüppel unverheiratet war.

Die Frau zögerte kurz, lächelte dann bedauernd und schüttelte ihren kurzen, blonden Schopf.

»Also wissen Sie, nein – mein Name ist Helene Petzold. Ich bin Herrn Dr. Schüppels Freundin und ›rechte Hand‹. Haben Sie einen Termin? Ohne vorherige Vereinbarung empfängt er keine Gäste.«

Sie blieb am Gartentor stehen, das Leo ihr mit einer galanten Bewegung öffnete, damit sie mit ihren Einkäufen hindurchgehen konnte.

Sandra zückte ihren Ausweis und hielt sie auf.

»Frau Petzold, wir sind von der Kriminalpolizei Dresden. Herrn Schüppel ist etwas zugestoßen. Können wir mit Ihnen sprechen?«

Leo versuchte, den einen Einkaufskorb aufzufangen, den Helene Petzold mit einem spitzen Schrei fallen ließ.

»Was sagen Sie da? Etwas zugestoßen?«

»Wie zartfühlend ihr Frauen doch seid«, raunte Leo ärgerlich in Sandras Richtung, aber die zuckte nur mit den Schultern. Er nahm der aufgeregten Frau auch den zweiten Korb ab und versuchte, sie zu beruhigen.

»Lassen Sie uns bitte in Ruhe reden, Frau Petzold. Können wir hineingehen?«

»Ich, ich verstehe nicht … Ja, sicher. Kommen Sie!«

Sie hastete den kurzen Weg zur Eingangstür der Villa entlang. Mit zitternden Händen holte Helene Petzold den Hausschlüssel aus ihrer Jackentasche und wiederholte Sandras Worte: »… etwas zugestoßen …«

Als sie im geräumigen Flur der Villa standen, drehte sie sich um und fragte:

»Was bedeutet das?«

»Wie nahe standen Sie Herrn Schüppel?«, wollte Leo wissen.

»Sind Sie eine Angestellte oder seine Partnerin?«, fragte Sandra.

»Es gibt Gespräche, die die Polizei nur mit den nächsten Angehörigen führt«, erklärte Leo.

»Also wissen Sie, das ist doch jetzt unwichtig. Sagen Sie mir endlich, was passiert ist!«, beschwerte sich Helene Petzold resolut. »Stefan hat keine engen Verwandten und ich weiß über alle seine Angelegenheiten Bescheid. Wir sind uns sehr nahe und haben keine Geheimnisse voreinander.«

Sandra gab Leo ein Zeichen und übernahm es, sie über den Tod ihres Chefs zu informieren. Wortlos hörte sich die Frau an, dass Stefan Schüppels Leiche am Fuß der Zyklopenmauer unterhalb des Kuhstalls gefunden worden war.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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322 стр. 4 иллюстрации
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9783948916107
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