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Waschbär-Cola … Anna stand vor der nächsten Herausforderung. Welche Gläser benutzte man für eine Edel-Cola? Sie sollte sich, weiß der Himmel, schwerer wiegende Gedanken machen als die Frage danach, worin sie am besten ein Hipster-Gesöff kredenzen sollte. Immerhin musste sie in spätestens zwei Stunden einen Text liefern, den sie noch nicht einmal angefangen hatte. Bei einer »gewöhnlichen« Konzertkritik wäre das kein Problem, da hätte sie locker Zeit für drei Gläser Waschbär-Cola. Aber hier ging es um keine gewöhnliche Konzertkritik. Es gab einen Toten, noch dazu einen bizarr verstümmelten: Thorsten Steinmüller, Bratscher vom Kleistenes-Quartett.

Anstatt den Text endgültig in Angriff zu nehmen oder wenigstens Kramer anzurufen, holte Anna die schicken Longdrink-Gläser aus dem Schrank, die sie sich letztens sinnloserweise im Designer-Möbelhaus geleistet hatte, stellte Zitrone und Eiswürfelschale aufs Tablett und ging ins Wohn-Arbeitszimmer zurück, in dessen Mitte Habakuk C. Brausewind immer noch etwas unbeholfen stand. Das machte Anna nicht unbedingt mutiger. Sie winkte in Richtung eines der Plüschsessel – die Minicouch war mit diversen CDs und Büchern belegt, die sie nach und nach besprechen wollte – und stellte das Tablett umständlich auf dem Couchtisch ab. Habakuk öffnete sehr sorgsam die Cola-Flasche, was die Szene nicht weniger absurd erscheinen ließ. Anna setzte sich auf die Kante des anderen Plüschsessels und schaufelte sich viel zu viel Eis ins Longdrink-Glas. Habakuk tat es ihr allerdings gleich, dann goss er die Cola auf.

Bis hierhin verlief ihre Begegnung nahezu ohne Worte, dem Charakter des gestern gemeinsam Erlebten entsprechend. Habakuk ergriff als Erster das Wort und traf zielgenau einen wunden Punkt. »Haben Sie sich elegant aus der Affäre ziehen können?«

»Aus welcher Affäre?«

»Na, als normales Konzert werden Sie den gestrigen Abend kaum abhandeln wollen.«

Anna spürte, wie sich die gesamte, über den Vormittag angestaute Frustration in Aggression transformierte und beinahe dem arglos ihr in die Augen schauenden Habakuk wie ein gigantischer verbaler Vulkanausbruch ins Gesicht gesprudelt wäre. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr gelang, die rhetorische Lava hinunterzuwürgen und ihm lediglich ein spitzes »Ach was? Wie kommen Sie denn darauf?« zurückzuschmettern, das als zickig hätte interpretiert werden können.

Auch davon ließ sich ihr Gegenüber nicht beirren und deutete mit einer beschwichtigenden Geste sein Bedauern an, bevor er – dieser Habakuk war ganz schön hartnäckig, das beeindruckte Anna – den Faden wieder aufnahm. Er sei jedenfalls sehr gespannt, morgen ihre Sicht auf die Sache zu lesen.

Nun brach es mit entwaffnender Ehrlichkeit und leicht sarkastisch aus ihr heraus: »Wenn ich diese Sicht jemals finde, und sie zu diesem Zeitpunkt noch jemand drucken will.«

Die Verblüffung und Verlegenheit war jetzt deutlich auf Habakuks Seite. »Was, Sie haben noch nicht …? Verzeihen Sie, ich hätte nicht so voreilig … Dann will ich nichts gesagt haben. Es war keinesfalls … Ich wollte sie unter gar keinen Umständen beeinflussen. Ich hätte nicht so früh … Soll ich später wiederkommen?«

Angesichts des Entschuldigungsgestammels gewann Anna allmählich ihre Souveränität zurück. Außerdem: Was meinte er mit »beeinflussen«? Wodurch hätte er sie denn beeinflussen sollen? Waschbär-Cola war zwar überteuert, galt aber nicht einmal im Ansatz als bewusstseinserweiternde Droge. Trotzdem nahm Anna einen großen Schluck des süßen, durch das viele Eis völlig verwässerten Getränks.

Ihre Neugier war geweckt, obwohl sie nicht glaubte, dass ausgerechnet dieser Habakuk, den es rein zufällig in ihr Leben gespült hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, der sich obendrein Heinz nannte und der ausgerechnet Bratscher war, dass er einen Beitrag für ihren Text leisten konnte. Einen Beitrag, der ihr nicht nur den Text rettete, sondern ihr womöglich zur Story ihres Lebens verhalf. Nein, das glaubte sie nicht. Aber zumindest weckte Habakuks konspirative Beschwichtigung ihr voyeuristisches Interesse. Brausewind zögerte, ihr etwas mitzuteilen. Es würde keinesfalls schaden, dieses Etwas anzuhören, unterhaltsam wäre es allemal. Auf eine halbe Stunde kam es auch nicht mehr an. Und Kramer konnte sie jetzt sogar sagen, sie recherchiere in Experten­kreisen. Wäre nur blöd, wenn der dann wissen wollte, um wen es sich bei diesen Experten handelte. Um den Bratscher Habakuk C. Brausewind – Kramer würde meinen, sie veräppelte ihn. Doch das war inzwischen relativ wurscht.

Ob es am Zuckergehalt des Getränks lag oder doch an der Neugier darauf, was Habakuk mitzuteilen hatte? Annas Lebensgeister waren jedenfalls samt und sonders präsent und brachten sie dazu, Habakuk zu beschwichtigen. Egal, was sie jetzt hören werde, sie werde sich keinesfalls beeinflussen lassen. Außerdem sei noch nicht entschieden, ob sie darüber schreiben werde. Immerhin – da habe er völlig recht – könne man hierüber keine gewöhnliche Konzertkritik schreiben. Der Gedanke, dass die Story inzwischen gar nicht mehr ihre Story sein könnte, kam Anna erst in diesem Moment. Er gefiel ihr noch weniger als alles bisher Gedachte. Er setzte weitere Kämpferenergien frei, die das Nahziel verfolgten, zu erfahren, was Habakuk wusste. An dessen Integrität zweifelte sie aus einem merkwürdigen Selbsterhaltungstrieb heraus längst nicht mehr.

9

Habakuk schien immer noch besorgt. Er wolle keine schlafenden Hunde wecken und erst recht nicht Anna in Schwierigkeiten bringen.

Anna holte die große berufsethische Gerechtigkeitskeule aus der Versenkung und erklärte, dass sie sich der Wahrheit verpflichtet fühle und erst ruhen könne, wenn sie wisse, ob es etwas gebe, das den Unfall beeinflusst haben könnte. Selbst wenn sie den Text am Ende gar nicht schreiben durfte, sei es für sie beruhigend zu wissen, worauf sie sich einlasse.

Habakuk war platt. Schlicht und ergreifend sprachlos. Anna redete sich so in Rage, dass der Bratscher eingeschüchtert in seinem Plüschsessel saß und kaum wagte, an seiner Cola zu nippen. Mit großen, lieben, aber verwirrten Augen starrte er Anna an, die wie Jeanne d’Arc und mehrere Walküren in Personalunion eine gigantische Lanze für die journalistische Verpflichtung zur Wahrheit brach. Tief beeindruckt gab er nach. Er nutzte eine von Annas rhetorischen Kunstpausen und sagte: »Na gut.«

Anna erklärte gerade, dass sie sich vor allem als Musikkritikerin bewusst darüber sei, was journalistische Sorgfaltspflicht bedeute. Auf Habakuks kurzes »Na gut« hin brach sie ihren Vortrag ab. Zufrieden und gespannt, was jetzt kommen würde.

Immer noch zurückhaltend setzte Habakuk zu einer langen Vorgeschichte an, die damit begann, dass er und der Verstorbene sich kannten. Nicht gut, aber sie kannten sich. Was für Anna nicht sonderlich verwunderlich war bei zwei Profi-Bratschern in einer mittleren Großstadt. Aber Thorsten Steinmüller hatte vor einiger Zeit Kontakt zu Habakuk aufgenommen, weil der gesagt hatte, dass er auf der Suche nach einem neuen Instrument sei. Das Gewandhausorchester wolle sich mit dem neuen Sommerfestival und der Gründung eines Kammerorchesters aus den Reihen des Klangkörpers auch einen international ernstzunehmenden Platz in der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis schaffen.

Anna stieß – wie immer, wenn sie ihn hörte – der Begriff der »historisch informierten Aufführungspraxis« auf, weil er so bemerkenswert konstruiert erschien wie manche zentralen Repräsentanten dieser Interpretationsrichtung selbst. Andererseits wirkte er verblüffend ehrlich. Anna hatte nichts gegen die klanglichen Ergebnisse und auch nicht gegen die Mehrheit dieser Leute, die ihren Interpretationen akribisches Quellenstudium zugrunde legten. Sie war lediglich vorsichtig, wenn Menschen aus ihrem Ansatz nicht nur eine, sondern gleich die einzig gültige Weltanschauung machten. Das hatte Anna Schneider schon zu oft erlebt. Aber das hatte mit dieser Sache nichts zu tun, und so gab sie sich alle Mühe, die unangenehmen Assoziationen auf der Stelle zu verdrängen und Habakuk mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu folgen.

Das Gewandhausorchester wollte also auch – deutlich verspätet, wie Anna fand – auf den Original­klangzug aufspringen. Na ja, jeder war seines eigenen Glückes Schmied … Auf jeden Fall sollte Habakuk in dem Kammerorchester Solo-Bratscher werden, während er ansonsten sein Dasein weitgehend am zweiten Pult fristete. Deshalb hatte er relativ breit die Information gestreut, dass er bereit war, für eine gute historische Bratsche eine Stange Geld in die Hand zu nehmen.

Anna fragte sich insgeheim, was eine Bratsche kostete, und schämte sich sofort für diesen Gedanken. Da war er schon wieder, dieser latente Chauvinismus gegen die Bratscher. Natürlich kannte sie vom Hörensagen die Preise für gute Geigen oder Celli; was ein Konzertflügel kostete gehörte zum Allgemeinwissen. Aber eine Bratsche? Sie hatte sich noch nicht einmal – trotz Studiums einschließlich der obligatorischen Instrumentenkunde-Kurse und einer zweistelligen Zahl an Berufsjahren – gefragt, welche großen Bratschenbauer es gab. Wahrscheinlich fertigten Geigenbauer auch Bratschen … Als ihr der Verdacht kam, dass Bratschen an den grobmotorischen Tagen der Geigenbauer hergestellt wurden, rief sie sich ihren eigenen Appell an das journalistische Berufsethos ins Gedächtnis. Dieses schloss eine Gleichbehandlung aller Bevölkerungsgruppen ein. Also: kein bratschenfeindlicher Chauvinismus mehr – zumindest für heute! Auch zugunsten des leidenschaftlich berichtenden Habakuk. Anna genoss es, Habakuks Berichten zu lauschen. Er war ein wahrhaft plastischer Erzähler, und Anna wurde merklich gelöster, während sie ihm an den Lippen hing.

Habakuk beantwortete nach und nach alle ihre Fragen zu Bratschenbauern, ohne dass sie diese stellte. Es waren tatsächlich Geigenbauer, die sich aber in vielen Fällen spezialisierten. Anna erfuhr, dass es nur wenige gute historische Instrumente auf dem Markt gab. Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Insgesamt hatte das mit der Entwicklung der Musik für mittlere Stimmlage zu tun – da es weniger herausragendes Repertoire und weniger herausragende Interpreten gegeben hatte, gab es auch weniger herausragende Instrumente. Das hatte sich – nachvollziehbar für Anna – erst im 20. Jahrhundert merklich verändert.

»Okay! Und die in sehr viel kleinerer Stückzahl existierenden guten historischen Instrumente haben dann einen ganz besonders herausragenden Preis, richtig?«, schlussfolgerte sie.

»Vor allem muss man sie finden.«

»Und du hast eins gefunden?«

Irgendwann waren Anna und Habakuk einvernehmlich zu dem in beiden Branchen üblichen Du übergegangen.

»Es hat mich gefunden. Aber jetzt ist es futsch. Oder: Man will mich glauben machen, dass es futsch ist. Das ist es ja, was ich meine. Vor etwa zwei Monaten rief mich Thorsten Steinmüller an. Er hatte meine Nummer von einem Kollegen aus dem Gewandhausorchester. Und er fiel gleich mit der Tür ins Haus. Ohne ›Wie geht’s? Wie steht’s?‹, ohne Small Talk kam er gleich zur Sache. Das war wohl seine Art. Er wollte mir eines seiner aktuellen Instrumente, den vor etwa 20 Jahren geschaffenen Nachbau einer Stradivari von 1719 verkaufen. Steinmüller, der nicht in dem Ruf stand, verarmt zu sein, schien es mit dem Verkauf sehr eilig zu haben. Das machte mich zunächst stutzig. Ich dachte mir, dass möglicherweise mit dem Instrument etwas nicht stimmt. Dennoch ließ ich mich auf ein Treffen und ein Probespiel des Instruments ein – bereits am nächsten Tag. Diesem folgte ein weiteres Probespiel eine Woche später, weil ich positiv überrascht, aber noch nicht überzeugt war. Da haben wir dann über den Preis gesprochen, den ich nicht zahlen wollte und auch nicht konnte. Ich wollte mich nicht an eine Bratsche versklaven wie andere an ein Herrenhaus. Wir haben hin und her verhandelt, wobei ich von vornherein offengelegt habe, was für mich realistisch ist – immerhin der Preis eines richtig guten Mittelklassewagens.«

Er schien eine verdammt ehrliche Haut zu sein, dieser Brausewind. Steinmüller habe bis ins Letzte gefeilscht, schließlich sogar in 100-Euro-Schritten, was bei solchen Summen besonders lächerlich war. Habakuk sei das Ganze schließlich so unangenehm geworden, dass er das Instrument aufgeben wollte. Da habe ihm der Kollege mitgeteilt, es tue ihm leid, er habe einen anderen Käufer gefunden, der ihm den vollen Preis zahle. Aus Asien, mehr habe er nicht gesagt. Habakuk hatte die Sache in dem Moment abgeschlossen, und er war froh darüber gewesen, weil die obsessiv feilschenden Anrufe des Kollegen zeit- und energiezehrend waren.

Anna hing an Habakuks Lippen, und der fragte sich, wann er das letzte Mal das Bedürfnis gehabt hatte, sich jemandem in dieser Ausführlichkeit und Intensität mitzuteilen. Auf jeden Fall war die Sache mit der Bratsche vorläufig im Sande verlaufen, Habakuk hatte nichts mehr von Steinmüller gehört und war darüber hinaus von dem kostspieligen Investitionsplan geheilt.

Bis vor gut einer Woche abermals sein Telefon geklingelt und Steinmüller gefragt hatte, ob er noch interessiert sei. Habakuk hatte sich das neuerliche Angebot angehört. Steinmüller wollte ihm 100 Prozent beim Preis entgegenkommen, wenn der Deal auf der Stelle über die Bühne ging. Das sei der Moment gewesen, an dem bei Habakuk die Alarmglocken sehr laut geschrillt hatten. Diese Marktschreier-Attitüde war absolut unseriös und auch nicht üblich; eine historische Bratsche wurde ja nicht plötzlich schlecht, wenn sie es die letzten 300 Jahre nicht geworden war; das war bei einer Kopie nicht anders. Außerdem bekam kein normaler Orchestermusiker eine sehr, sehr ordentliche fünfstellige Summe von heute auf morgen abrufbar von seiner Bank – das hatte Steinmüller mit Sicherheit gewusst. Habakuk hatte deshalb auf einem hieb- und stichfesten Kaufvertrag bestanden.

Anna, die ihm bis hierhin mehr als gebannt gelauscht hatte, pflichtete ihm bei. So etwas sei absolut merkwürdig und man müsse sich da absichern.

Der Kaufvertrag war aufgesetzt worden, Finanzierung, Zahlung und Übergabe vereinbart. Ende der kommenden Woche sollte alles über die Bühne gegangen sein. Morgen hätte er noch einen Termin bei der Versicherung gehabt, denn die Versicherung des Gewandhausorchesters war weder an einem Zweitinstrument noch an einer Bratsche in diesem Wertsegment besonders interessiert. Doch auch Habakuks persönlicher Versicherungsvertreter war argwöhnisch und etwas überfordert und wollte sich mit der Zentrale beraten, weswegen der Termin erst morgen hätte stattfinden sollen.

Mit einem liebenswerten Sarkasmus fügte Habakuk hinzu: »Ich habe mich schon gefragt, ob ein Geiger, der ein Instrument für einen ordentlichen sechsstelligen Betrag versichern will, auch so schief angesehen wird wie ich in diesem weit kostengünstigeren Fall. Aber mein Versicherungsvertreter kann nun wieder ruhig schlafen, wenn ich morgen früh den Termin absage.«

Erst jetzt begriff Anna die Sache in ihrem ganzen Ausmaß: Die gestern zertrümmerte Bratsche wäre das zukünftige Instrument ihres Gegenübers gewesen. Mitleidig und entsetzt starrte sie Habakuk an.

10

»Hat er dir jemals gesagt, warum er das Instrument so dringend verkaufen wollte?«

»Kein Sterbenswort. Er hatte es eilig, also dachte ich mir, er braucht das Geld. Er hatte ja mehr als ein anderes anständiges Konzertinstrument.«

»Und warum hat er gestern ausgerechnet dieses gespielt?«

»Das hat er mir angekündigt, aber plausibel erschien mir seine Erklärung nicht! Es fällt mir schwer, in bestimmten Situationen an Zufälle zu glauben; und das hier ist so eine.«

Ein Satz, der durchaus von Anna stammen könnte, das gefiel ihr. Habakuk C. Brausewind hatte Anna Schneider argumentativ längst auf seine Seite gezogen.

Habakuk fuhr fort: »Ich weiß nicht, was passiert ist, oder was ich davon halten soll. Aber es fällt mir schwer, an einen Unglücksfall zu glauben. Vorgestern hat mich Steinmüller angerufen und mir erklärt, dass er das Instrument am Samstag im Konzert im In-and-Out noch einmal spielen müsse, des Klangbildes wegen und verschiedenen Leuten zuliebe. Die nannte er jedoch nicht namentlich. Es sei ihm aber wichtig – natürlich gegen Quittung –, gleich im Anschluss an das Konzert das Instrument vorfristig an mich zu übergeben. Er bat mich, da zu sein, eine Freikarte sei auf meinen Namen an der Abendkasse hinterlegt. Ich habe daraufhin bei einem befreundeten Anwalt angerufen, um zu ergründen, ob sich das auf den schon unterschriebenen Kaufvertrag auswirken könnte. Dieser hat verneint, aber eine Übergabequittung aufgesetzt, die am Ende nicht mehr benötigt wurde.«

»Hast du das der Polizei gesagt?«

»Du bist gut! Weder gehörte mir das Instrument bereits, noch weiß ich, ob man eindeutig nachweisen kann, dass es sich bei dem auf der In-and-Out-Bühne verteilten Kleinholz um genau diese Bratsche gehandelt hat. Jemand, der nicht vorher im Saal war, könnte vermutlich nicht einmal sagen, dass die Holzsplitter ein Musikinstrument waren. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass es sich um einen Anschlag auf das Instrument gehandelt hat.«

»Aber«, fuhr ihm Anna ins Wort, »ein solcher Anschlag wäre auch mindestens fahrlässige Tötung!«

Habakuk wiegte bedächtig den Kopf. »Das ist es doch, was mir die ganze Zeit durch den Kopf geht. Wie kann man Hypothesen zu Instrumentenschwarzmarkt oder Versicherungsbetrug verfolgen oder das der Polizei gegenüber erwähnen, ohne dabei das Andenken eines Toten zu verunglimpfen, der damit möglicherweise gar nichts zu tun hatte? Das Hin und Her des Verkaufs sorgte unter Kollegen ohnehin für Aufsehen.«

»Man müsste herausbekommen, dass es kein Unfall war«, hörte sich Anna sagen.

»Davon ist Frille überzeugt!«

Anna war irritiert. Hatte sie etwas verpasst? »Wer ist Frille?«

Frille wurde ein gewisser Friedrich Lehmann von seinen Freunden und Kollegen genannt. Und Friedrich Lehmann war der technische Leiter vom In-and-Out, einer der beiden festangestellten Veranstaltungstechniker, der Einzige in Vollzeit. Woher Habakuk diesen Frille so gut kannte, dass er wusste, was der darüber dachte, konnte Anna nicht fragen.

Denn Habakuk erklärte bereits: »Frille hat noch gestern Abend darauf bestanden, dass das kein Unfall gewesen sein kann, dass keiner seiner Leute – es gibt eine Reihe freier Kollegen – so grob fahrlässig handeln würde. Vor allem können sich die Befestigungsschellen eines Moving Lights von Bero niemals einfach so lösen, niemals! Frille sagt, es gebe technisch und was die Sicherheit betrifft nichts Besseres. Die Spots besitzen nämlich eine Sekundärsicherung, einen Unfall hält er also für ausgeschlossen. Aber das In-and-Out mit seiner Politik der offenen Türen, wo jeder nach überall durchmarschieren und Dinge abschrauben und mitgehen lassen könne … Für Frille ist es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass mal etwas passiert. Aber gleich so etwas … Das hätte er nicht für möglich gehalten. Mit einem ordentlichen Sicherheitsdienst wie in anderen Clubs wäre das nicht passiert, sagt er. Er hofft, dass sich wenigstens jetzt etwas ändert.«

Anna wagte vorsichtig anzumerken: »Ist es nicht naturgemäß und allzu verständlich, dass der technische Leiter hofft, der Fehler liege nicht in seinem Zuständigkeitsbereich? Immerhin kam durch den einzigartigen – wie heißt der? Moving Light? – na, durch den fantastischen Drehscheinwerfer ein Mensch zu Tode. Hat dieser Herr Frille« – Habakuk schmunzelte, weil Anna ihn »Herr Frille« nannte – »also dieser Frille seine Bedenken der Polizei vorgetragen?«

»Und ob«, wusste Habakuk, der mit Frille heute schon ein längeres Telefonat geführt hatte. »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, die Polizei nimmt Frilles Bedenken durchaus ernst. Aber ich habe im Gegensatz zu ihm keinen Grund und schon gar keine Berechtigung, mit irgendwelchen kruden Verdächtigungen durch die Gegend zu ziehen. Rein formal war es ja noch nicht einmal mein Instrument.«

Anna saß aufrecht auf ihrer Plüschsesselkante. Durch ihren Kopf schoss alles Mögliche – Versicherungsbetrug, Instrumentenmafia, fahrlässige Tötung, Mord … Außer dass sie diesen Austausch mit Habakuk unendlich genoss und fortsetzen wollte, hatte sie das verführerische Gefühl, dass das hier ihre große Enthüllungsstory sein könnte, der Beweis, dass sie mehr konnte, als Musikkritiken zu schreiben. Sollte keine große Story dahinterstecken, bot ihr Habakuks Erzählung wenigstens einen Ausweg aus dem momentanen Kramer-Dilemma. Sie sagte: »Ich weiß, wie wir vorgehen!«

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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222 стр. 5 иллюстраций
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9783839269282
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