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Familiengründung

Oktavia zieht es in die Welt hinaus

D’Chachlini wurde Oktavias Familie in Varen genannt. Der Ausdruck bezeichnet Personen, denen schnell etwas kaputtgeht oder die leicht an andere Personen geraten. Oktavias Vater Theophil verdiente Geld mit Schreinerarbeiten, die er im Erdgeschoss des Wohnhauses im Ortsteil z’oberst Dorf in Varen ausübte. Mutter Barbara, geborene Jaggi, arbeitete als Weberin in Heimarbeit, wobei sich der grosse Webstuhl in einem Lokal im selben Haus befand. Daneben hielt die Familie Marty Nutztiere und war im Weinbau tätig. Als fünftes Kind im Jahr 1897 geboren, wuchs Oktavia mit ihren sechs Geschwistern Serafine, Theodul, Céline, Marie, Ignaz und Anna auf. Marie trat als 19-Jährige ins geschlossene Kloster von Gerunden in Siders ein und hiess nach dem Ablegen des Ordensgelübdes Schwester Ursula. Céline verstarb 1910 als 25-Jährige an Lungenkrebs. Drei Jahre später verstarb ihr Vater Theophil 54-jährig ebenfalls an Krebs. In Gesprächen mit ihren eigenen Kindern erwähnte Oktavia später ihren Vater nur selten. Ihre Mutter war ihr hingegen sehr wichtig. Nach dem Tod von Barbara liess Oktavia jedes Mal, wenn sie von ihr träumte, ihr zu Ehren eine Messe lesen.24

Wie für die meisten Mädchen im Wallis zu Beginn des letzten Jahrhunderts endete die obligatorische Schulpflicht für Oktavia mit zwölf Jahren. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein hatte der Kanton den Frauen nur spärliche Ausbildungsmöglichkeiten anzubieten: Sehr wenige Töchter aus Berggemeinden besuchten ein von Klosterfrauen geführtes Pensionat, eine Mädchenhandelsschule oder ein Lehrerinnenseminar.25 In der oberen sozialen Schicht war die Abwehrhaltung gegen jegliche Berufstätigkeit der Frau allgemein verbreitet. In gewerblichen Kreisen wie dem Detailhandel, dem Gastgewerbe oder der Hotellerie war die Mitarbeit der Töchter und Ehefrauen im Rahmen des Familienbetriebs hingegen selbstverständlich. Eine Notwendigkeit war der Einsatz der Frauen bei den Arbeiterbauern, sie mussten einen Grossteil der landwirtschaftlichen Tätigkeiten im familiären Betrieb übernehmen.26 Bei den als Selbstversorger lebenden Bauernfamilien stellte der zusätzliche Einsatz der Frauen in Heimarbeit, im Hausdienst oder im Gastgewerbe ein kleines Erwerbseinkommen dar. Dabei herrschten teilweise prekäre Arbeits- und Lohnverhältnisse, obwohl die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften, insbesondere Dienstbotinnen, zu jener Zeit im Wallis gross war. Im Gegensatz zu anderen Kantonen wie Tessin oder Uri, wo die Frauen in der Textilindustrie einen wesentlichen Teil der Arbeiterschaft stellten, waren Frauen in den von der Schwerindustrie geprägten Betrieben des Wallis hingegen nur selten anzutreffen.27


Auch Oktavia war als junge Frau zuerst im Hausdienst und anschliessend im Gastgewerbe tätig. In ihrem Haushaltsbüchlein sind all ihre Arbeitsstellen mit den entsprechenden Einnahmen und Ausgaben festgehalten. Als Erstes war sie als Haushaltshilfe bei der verarmten Adelsfamilie von Werra im Nachbardorf Leuk angestellt. Als sie dort im Sommer 1915 mit ihrer Buchführung begann, war sie 18 Jahre alt. Oktavia und Jeremias kannten sich zu jener Zeit bereits. Jeremias neckte Oktavia auch später noch gerne. Immer, wenn sie damals von Varen nach Leuk gelaufen sei, so meinte er, habe man bis weit hinunter Richtung Dalaschlucht den Hintern wackeln sehen.

Neben einem grossen Landwirtschaftsbetrieb gehörten der Familie von Werra bis 1912 auch zwei Schlösser, eines im Talgrund in Susten und ein kleineres für die Wintermonate am Sonnenhang in Leuk.28 Damit war die Familie die grösste Arbeitgeberin der Region. Der Notar, Grossrat und stellvertretende Regierungsstatthalter Leo von Werra war in der Region für seine Grosszügigkeit bekannt. Seine Frau Henriette, geborene de Wolff, stammte aus dem französischsprachigen Sitten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das familiäre Vermögen aufgebraucht. Nicht nur die Versuche, die Landwirtschaft rentabler zu machen, sondern auch Leo von Werras Projekte als Unternehmer und Erfinder scheiterten. Dies führte den stark verschuldeten Baron in einen juristisch umstrittenen Konkurs, und er verlor 1912 seinen gesamten Besitz. Das Schloss in Susten wurde zwangsversteigert. Es beherbergt seither ein Alters-, Pflege- und Behindertenheim. Die Familie von Werra mit ihren acht Kindern musste dauerhaft in ihre Winterresidenz nach Leuk ziehen und war in den darauffolgenden Jahren in grosser finanzieller Bedrängnis.

Oktavia verdiente in Leuk einen für damalige Verhältnisse geringen Lohn von 25 Franken im Monat, der manchmal durch ein paar wenige Franken Trinkgeld aufgebessert wurde. Sie fühlte sich bei der Familie von Werra jedoch sehr wohl und sprach immer positiv von der Zeit in Leuk. Henriette von Werra sei eine flotte Frau gewesen. Bei ihr lernte sie nicht nur Französisch, auch ihre Kochkünste eignete sie sich dort an. Kochen und Sparen lerne man bei reichen Leuten, so sagte sie. Omeletten mit Holderblüten war eines der Gerichte, das sie in Leuk lernte und später für ihre Familie zubereitete.

Im Oktober 1915, als sie erst ein paar Monate bei der Familie war, begleitete Oktavia die fast vierjährige Emma und den 15 Monate alten Franz von Werra von Leuk hinunter zum Bahnhof Susten, von wo aus sie mit dem Zug zu Adoptiveltern nach Süddeutschland gebracht wurden. Aufgrund der grossen materiellen Not hatten sich Leo von Werra und seine Frau Henriette dazu entschieden, zwei der insgesamt acht Kinder nach Deutschland zur Adoption freizugeben. Die Kinder wuchsen bei einer süddeutschen Adelsfamilie in Beuron auf, die allerdings in den 1930er-Jahren ebenfalls verarmte. Die scheue und introvertierte Emma kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Leuk zurück und lebte dort bis zu ihrem Tod. Der Draufgänger Franz hingegen trat 1935 in die deutsche Luftwaffe ein. Während des Kriegs wurde er über England abgeschossen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Während eines Gefangenentransports in Kanada sprang er vom fahrenden Zug und floh über den Sankt-Lorenz-Strom in die damals neutralen USA. Diese Geschichte machte ihn zum gefeierten Helden, und bei seiner Rückkehr wurde er von Adolf Hitler und Hermann Göring empfangen. Im November 1941 kam Franz bei einem Übungsflug über der Nordsee ums Leben.29


Auszug aus Oktavias Haushaltsbüchlein, Leuk ( 1916).

Nach dem Ende der Anstellung bei der Familie von Werra im Sommer 1917 arbeitete Oktavia gemäss den Angaben im Haushaltsbüchlein neun Jahre lang im Gastgewerbe an verschiedenen Orten in der Schweiz. Die Stellen fand sie entweder über ein Stellenvermittlungsbüro oder über Zeitungsannoncen. Nach eineinhalb Jahren in Brig wechselte sie 1919 nach Leysin, welches zu jener Zeit neben Davos ein international bekanntes Zentrum zur Behandlung von Knochentuberkulose war. Der therapeutische Ansatz basierte auf guter Ernährung, dem Aufenthalt im Freien und kalten Wassergüssen. Auguste Rollier, der 1903 in Leysin ein Sanatorium für Kinder mit Tuberkulose errichtete und bis 1940 rund 40 Sanatorien ausbaute, setzte zudem auf die heilende Kraft der Sonne.30 In Leysin wird sich Oktavia möglicherweise einen Teil ihres medizinischen Wissens angeeignet haben, mit dem sie später nicht nur ihren Kindern, sondern auch den Dorfbewohnern in Krankheitsfällen behilflich war. 1920 kehrte sie nach Varen zurück und führte elf Monate lang das Café de la Poste, eine der drei Gaststätten im Dorf. Jeweils am Sonntagabend stattete ihr Jeremias dort einen Besuch ab. Er blieb allerdings immer nur bis zehn Uhr. Das sei seine Zeit gewesen, um heim ins Bett zu gehen. Oktavia gefiel diese Arbeit, und am liebsten hätte sie die Gaststätte gleich übernommen. Für Jeremias kam das aber nicht infrage.

Auch in Varen führte sie Buch über ihre Einnahmen und ihre Ausgaben für Bier, Wein, elektrisches Licht, das Patent oder die Zeitung. Danach zog sie weiter nach Mariastein (1921), Onex bei Genf und Genf (1922/23), wobei sie jeweils mit dem Zug von Varen zu den Arbeitsstellen pendelte, bevor sie im Juni 1923 für die Sommersaison auf die Fiescheralp ins Hotel Jungfrau-Eggishorn wechselte, einem Grandhotel am Fuss des Eggishorns. Sie fühlte sich wohl dort und stand in einem guten Verhältnis zur Besitzerfamilie Cathrein, die auch verschiedene Hotels auf der Riederalp führte. Die Fotografie aus jener Zeit zeigt eine elegante Frau mit dunklem Rock, Bluse, Jacke, Hut mit breiter Krempe, passenden Schuhen und Unterarmtasche, die selbstbewusst in die Kamera blickt.

Nicht nur wegen ihres Einstiegs ins Gastgewerbe nahm Oktavias Lohn zu jener Zeit sprunghaft zu. Die Hotellerie erholte sich damals auch langsam vom Schock des Ersten Weltkriegs.31 Während sie 1921 in Mariastein 80 Franken Lohn und bis zu 60 Franken Trinkgeld im Monat verdiente, erhielt sie 1923 im Hotel Jungfrau-Eggishorn auf der Fiescheralp neben einem bescheidenen Lohn von 15 Franken bis zu 440 Franken Trinkgeld. Dies war allerdings ein saisonaler Arbeitsplatz, der während zweier bis dreier Monate einen überaus hohen Einsatz erforderte. Im Gegensatz zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich die Kundschaft der herrschaftlichen Gebirgshotels vorwiegend aus dem vermögenden europäischen Grossbürgertum zusammensetzte, dürfte Oktavia im Hotel Jungfrau-Eggishorn während der Zwischenkriegszeit aufgrund des Aufkommens des Inlandtourismus überwiegend mit wohlhabenden Schweizer Gästen in Kontakt gekommen sein.32 Der Luxus des Berghotels kontrastierte dabei auch in der Zwischenkriegszeit mit der Lebenswelt der Bergbauern. Während sich die Bauern auf der Alp in der Aletschregion bis weit ins 20. Jahrhundert vorwiegend von Schpiis [kalten Speisen wie Roggenbrot, Käse und getrockneten Fleischwaren] ernährten, wurde den Gästen im Hotel Jungfrau-Eggishorn Sardinen, Spargeln, Artischocken oder Safran und die Getränke in eigens dafür vorgesehenen Wasser-, Wein-, Champagner-, Vermouth-, Liqueur-, Absinth-, Bier- und Milchgläsern serviert. Auch die Ausstattung war sehr differenziert. Dazu gehörten Fumoir, Salon, Hotelhalle, Speisesaal und Gaststube. In weiteren Gebäuden befanden sich ein Postbureau, zwei Kapellen, ein Verkaufsbazar und anliegend ein Tennisplatz.33


Oktavia als junge Frau (undatierte Aufnahme).

Das verdiente Geld gab Oktavia in den ersten drei Jahren ihrer Buchführung fast ausnahmslos der Mutter. Es war für ihre Eltern ein dringend benötigter finanzieller Zustupf. Als ihr Lohn in den 1920er-Jahren stieg, gab sie ihren Eltern einen Teil des Lohns und überwies den Rest auf ein eigenes Bankkonto. Sie selbst lebte sehr sparsam. Geld gab sie nur für das Notwendigste aus: für Strümpfe, Unterröcke, Flickarbeit und Stoffe, für Briefmarken und Briefpapier, Haarkämme und Haarwasser, für Fotografien und für die Reisen von und zu ihren Arbeitsstellen. Genussmittel wie Schokolade, Kaffee oder ein Glas Wein beziehungsweise Freizeitaktivitäten wie eine Schifffahrt leistete sie sich nur ausnahmsweise. Ein einmaliger Besuch in einem Theater und in einem Schwitzbad in Bern im Jahr 1925 kostete je fünf Franken Eintritt. Hingegen liess sie ab 1924 für zwei bis fünf Franken regelmässig Messen für ihre verstorbenen Vorfahren lesen. Wegen fehlender Krankenversicherung übernahm sie die Arzt- oder Zahnarztkosten von 30 bis 70 Franken jeweils selbst.

Nach Abschluss der Sommersaison 1923 auf der Fiescheralp arbeitete Oktavia an drei Orten am Genfersee, in Lausanne, in Saint- Cergue bei Nyon und in Chexbres bei Lausanne, bevor sie nach Varen zurückkehrte und erneut im Café de la Poste servierte. Im Mai 1924 reiste sie nach Lourdes zur Wallfahrt. In der Sommersaison 1924 arbeitete sie wiederum auf der Fiescheralp und wechselte für die Wintersaison 1924/25 nach Grenchen. Die nächsten Stationen waren La Chaux-de- Fonds, Laufenburg, Zürich, Varen, Grindelwald, Bern und Montana, wo sie jeweils nur wenige Wochen oder Monate blieb. Ohne zugesicherte Stelle reiste sie danach ins Tessin und kam dort mit nur fünf Franken in der Tasche an. Als Erstes ging sie in eine Kirche und liess für einen ihrer Vorfahren eine Messe lesen. Kurz darauf fand sie dann die Stelle im Kurhaus Cademario mit Blick auf den Luganersee. Ihre Tochter Anny erinnert sich noch heute, dass diese Geschichte sie als Kind sehr beeindruckte: Da kann man eine Messe lesen lassen und erhält dann eine Stelle.

Wie schon in Leysin kam sie im Kurhaus im Tessin mit den damaligen modernen medizinischen Behandlungen in Kontakt. Der aus der Ostschweiz stammende Arzt Adolf Keller-Hoerschelmann vereinte in der neu gebauten Naturheilanstalt im sonnigen Süden alternative Heilmethoden im Bereich des Sports, der Diät, der Atmungstechniken und der Suggestion zu einem eigenen reformistischen Ansatz. Die natürliche Lebens- und Heilweise mit Bewegung, Entspannung, Licht, Luft und Sonne sollte zur Heilung wie auch zur Vorbeugung von krankhaften Störungen beitragen. In den 1920er-Jahren ging das Kurhaus auch in Sachen Ernährung neue Wege. So wurden Fastentage und Rohkosttage durchgeführt und den Gästen gedämpftes, salzloses Gemüse angeboten.34

Nach ein paar Monaten in Cademario und der Reise nach Le Havre kehrte Oktavia ins Wallis zurück, um im November 1926 Jeremias Bayard zu heiraten. Schon im Vorjahr hatte sie mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit begonnen und sich in regelmässigen Abständen Teile ihrer Aussteuer gekauft: Zweimalig erwarb sie 1925 in einem Warenhaus in Bern Leintücher, Kissen, Kissenbezüge, Duvets, Türvorlagen, Moltons, Tischtücher, Stoff und Geschirr. Von ihrer Mutter erhielt sie selbst gewobene, robuste und sehr langlebige Bettwäsche. Sie liess in Lausanne für 50 Franken Fotografien von sich anfertigen, während Ringe und Ringsiegel 125 Franken kosteten. Zum Zeitpunkt der Hochzeit war Oktavia 29 und Jeremias 31 Jahre alt, ein damals übliches Heiratsalter, denn die jungen Leute mussten in bäuerlichen Gegenden oftmals zuwarten, bis sie genügend Geld für den Ehestand verdient hatten oder ihnen ein Teil des elterlichen Erbes zukam.35 Wie sie selbst notierte, hatte Oktavia in den elf Jahren insgesamt 10 710 Franken gespart, welche sie in die Ehe einbrachte. Davon hatte sie zu jenem Zeitpunkt 3000 Franken ihrer Schwester Serafine und 1089 Franken ihrem Bruder Theodul geliehen, wobei sie von beiden regelmässigen Zins erhielt. Der Rest lag auf verschiedenen Bankkonten. Jeremias hingegen verfügte zum Zeitpunkt der Hochzeit über kein eigenes Geld. Er brachte jedoch eine recht ansehnliche Anzahl Güter in die Ehe ein.


Aussteuerrechnung Oktavias (1926).

Jeremias führt die Tradition fort

Jeremias, auch Mias oder ds’Miji genannt, wuchs zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder Theodor in der oberen Wohnung eines schmalen Hauses am Kegelplatz auf, einem etwas von der Hauptgasse zurückversetzten Platz im Zentrum von Varen. Die Familie lebte von der Landwirtschaft und vom Rebbau. Seine Mutter Leonie, geborene Varonier, zog die Buben allein auf, denn 1897, als Jeremias zweijährig war, starb sein Vater an Auszehrung, eine damals übliche Bezeichnung für eine durch Krankheiten wie Krebs oder Tuberkulose verursachte Abmagerung. Auf diesen Schicksalsschlag folgten gleich zwei weitere: Innerhalb eines Jahres verlor die Mutter nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre beiden Töchter. Da Leonie die Rebarbeiten nicht allein bewältigen konnte, griff sie nach dem Tod ihres Mannes auf die Hilfe von Tagelöhnern zurück. Auch Jeremias und Theodor mussten der Mutter schon sehr früh bei der Bewirtschaftung des familiären Guts helfen, weshalb Jeremias auch keinen Militärdienst verrichtete.

Jeremias’ Kindheit war durch tägliches, intensives Beten geprägt. Während Mutter Leonie im Winter ein paar Wochen lang mit dem Vieh im Maiensäss in Bodmen weilte, wohnten Jeremias und sein Bruder bei einer Tante im Dorf, die als Pfarrhaushälterin arbeitete. Dort mussten sie jeden Abend den Rosenkranz, die fünf Wunden, den englischen Gruss und den Psalter beten. Wegen der nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Gebeten versuchte Jeremias, die wiederkehrenden zehn Ave-Maria des Rosenkranzes auf neun, acht oder sogar sieben Gebete abzukürzen, bis die Tante dies merkte und ihn ermahnte. Er habe während seiner Kindheit genug gebetet, erzählte er seinen eigenen Kindern später gerne.

Die beiden Brüder waren von ganz unterschiedlicher Statur: Der grosse und schlanke, ja schon hagere Jeremias glich eher dem Vater, während Theodor mit dem grossen, runden Kopf, dem stämmigen Körperbau und der eher geringen Grösse von 1,65 Metern der Mutter ähnelte. An seiner linken Hand besass Jeremias nur vier Finger. Als Jugendlicher verlor er seinen kleinen Finger beim gemeinsamen Holzspalten mit Theodor. Während Jeremias d’Misilju [das Stammteil] hielt, wollte Theodor dieses mit der Axt in Holzscheite schlagen und erwischte versehentlich Jeremias’ kleinen Finger. Da kein Arzt in der Nähe war, schnitt der Pfarrer, der vor dem Theologie- ein Medizinstudium begonnen hatte, die Reste der Haut ab, desinfizierte den Stumpf mit Schnaps und nähte die Wunde anschliessend zusammen. Jahre später wiederholte sich fast dasselbe Missgeschick bei Theodor. Er lebte bereits in Solothurn, als er sich mit dem noch drehenden Messer seines Rasenmähers rund drei Zentimeter seines Daumens abschnitt, welcher von einer Katze geschnappt und gefressen wurde. Er band ein Taschentuch um den Stumpf und wollte zuerst weitermähen, ging dann aber auf Anraten seiner Familie trotzdem ins Spital. Auf die Frage des Arztes, wo denn der abgeschnittene Daumen sei, erwiderte er, eine Katze hätte ihn gefressen.


Als junger Erwachsener erkrankte Jeremias an Tuberkulose. Zu jener Zeit war in Leuk ein Wagen des Kantons stationiert, in dem die Bevölkerung ihre Lungen kontrollieren lassen konnte. Deshalb begleitete Oktavia ihren Mann dorthin zur Kontrolle. Der versprochene Bericht liess allerdings auf sich warten. Auf ihre Nachfrage hin hiess es, Jeremias solle wegen der Lungenblutungen zur Kur nach Montana, die Höhenluft fördere deren Genesung. Da Jeremias wegen der vielen im Frühsommer anstehenden Arbeit zu Hause bleiben wollte, rieten sie Oktavia, ihrem Mann in Bodmen Sorge zu tragen. Sie leistete Folge und sorgte dafür, dass er sich nicht übermässig belastete. Die nächste Kontrolle zeigte in der Tat einen besseren Befund. Jahre später kam es dann zu einem Blutsturz, einer plötzlichen Blutung aus der Lunge. Der Klinikaufenthalt war nun unvermeidbar, obwohl Jeremias glaubte, dass man von Montana nicht mehr zurückkehre. Tochter Anny begleitete ihren Vater in die Klinik nach Montana, wo er rund zwei Monate verbrachte. Unerwartet früh stand er eines Tages wieder vor der Haustüre, sodass Oktavia ihn fragte, was er denn schon wieder zu Hause mache. Die Lungenprobleme und der ständige Husten begleiteten ihn jedoch sein Leben lang.

Jeremias wurde Landwirt und Weinbauer und lebte wie schon seine Vorfahren als Selbstversorger. Rare Geldquellen waren der Verkauf von Trauben oder Wein oder eines Tiers. Die Aluminium Industrie AG führte zwar ab 1908 in Chippis bei Siders eine Aluminiumhütte, expandierte kräftig und ermöglichte vielen Varnern in der Folge ein regelmässiges Einkommen als Arbeiterbauern. Jeremias entschied sich jedoch gegen die Fabrik, da die Familie relativ viel Gut besass, der Besitz an Boden und Vieh ein wichtiges Element des sozialen Status war und Lohnarbeit in dieser auf Selbstständigkeit ausgerichteten Wirtschaft als Zeichen der Abhängigkeit und Armut galt.36 So gingen auch eher diejenigen in die Fabrik arbeiten, die selbst wenig Gut besassen. Aus demselben Grund arbeiteten nur wenige Personen im Oberwallis hauptberuflich als Handwerker. Wegen der hohen Unfallgefahr und dem langen Arbeiten in Hitze und Lärm hatte die Fabrik einen schlechten Ruf. So meinte Jeremias, er gehe nicht in die Fabrik arbeiten, weil dort alle krank würden. Auch die Niederschlagung eines Streiks im Jahr 1917 und die Entlassung von mehr als 1000 Arbeitern aufgrund der Weltwirtschaftskrise von 1929 trugen zur schlechten Reputation bei.37 Darüber hinaus zeigten sich nach Inbetriebnahme der Aluminiumhütte Umweltschäden an Reben, Aprikosenbäumen, Wäldern und Kühen in der Umgebung, welche von den Betroffenen auf die Fluoremissionen zurückgeführt wurden, die bei der Elektrolyse des Metalls in die Atmosphäre entwichen.38 In den Jahren von 1918 bis 1928 führte dies zum ersten «Fluorkrieg», in dem die Aluminium Industrie AG durch das Aufmarschieren zahlreicher Experten, die die Abgase für unschädlich erklärten, schliesslich einen Vergleich mit den betroffenen Bauern erreichte.39


Jeremias mit Mutter Leonie und Bruder Theodor (undatierte Aufnahme).

Sein Bruder Theodor schlug hingegen eine akademische Laufbahn ein. Auf Anraten eines verwandten Priesters und mit dessen finanzieller Unterstützung besuchte der intelligente Jugendliche von 1904 bis 1911 das Kollegium in Brig mit dem Ziel, Priester zu werden, ein Amt, das zu jener Zeit mit grossem sozialen Ansehen verbunden war. Gemäss dem Jahresbericht des Kollegiums Brig von 1912 wurde damals jeder vierte Briger Student Priester.40 Wer kein Theologiestudium in Angriff nahm, wurde Notar, Advokat oder Arzt. Frauen war der Zutritt zum Kollegium bis ins Jahr 1967 verwehrt.41 Die Absenz Theodors führte dazu, dass der daheim gebliebene Jeremias noch stärker anpacken musste, um die Güter und das Vieh zu bewirtschaften und dem Bruder das Studium zu ermöglichen. Als einer der wenigen im Dorf, die das Kollegium absolvierten, leitete Theodor während der Jahre am Gymnasium die Theatergruppe Varen, in der auch Jeremias mitspielte. Die Matura konnte Theodor zu jener Zeit jedoch nicht in Brig absolvieren, sondern musste das Gymnasium mit einem einjährigen Cours technique am Lycée cantonal in Sitten abschliessen.42 Das Walliser Schulsystem gab damals schweizweit zu Klagen Anlass, was auf das Zusammenlegen von jeweils zwei Jahrgängen und die mangelnde Qualifikation der Lehrer beziehungsweise deren erbärmliche Besoldung zurückzuführen war.43 1906 erliess die Eidgenossenschaft ein Maturitätsreglement, welches das Wallis zu Anpassungen zwang, wollte man eine anerkannte Maturität und somit den prüfungsfreien Eintritt in die Universitäten. Staatsrat Burgener wollte deshalb während Theodors Gymnasialzeit die letzten zwei Gymnasialklassen nach Sitten verlegen, wogegen im Oberwallis heftige Opposition entstand. Nach langen und harten Kämpfen und nachdem die naturwissenschaftlichen Fächer gestärkt wurden, erteilte man in Brig im Sommer 1911 erstmals die eidgenössische Matura.

Je näher die Matura rückte, umso klarer wurde es für Theodor, dass er nicht in den Dienst der Kirche eintreten wollte. Dies stellte für seine Mutter eine Riesenenttäuschung dar. Stattdessen begann der mathematisch Begabte im Herbst 1912 als 21-Jähriger ein Studium zum Maschineningenieur an der ETH in Zürich. Dies war aussergewöhnlich, denn trotz der grossen Industriewerke studierte zu Beginn des Jahrhunderts kaum ein Walliser an der ETH und wurde Ingenieur oder Chemiker, was wohl auch mit der schlechten Ausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern zusammenhängen dürfte. Theodor wohnte bei Jesuiten, die den Studenten aus Bergkantonen halfen, sich in der Stadt und an der Universität zurechtzufinden und sich angemessen zu kleiden. Zudem war Theodor alias «Knurr» Mitglied der katholischen Studentenverbindung der Kyburger (Akademische Kommentverbindung Kyburger), die 1912 als Tochterbewegung der Akademischen Verbindung Turicia gegründet wurde und neben der Pflege der Geselligkeit auch die Rechte der damals noch kleinen katholischen Minderheit in Zürich wahren und vergrössern sollte.44

Obwohl er zu den Übungen der höheren Semester zugelassen war, brach er sein Studium nach zwei Semestern im Frühling 1913 ab und kehrte ins Wallis zurück, wo er wieder bei seiner Mutter und seinem Bruder wohnte.45 Während sechs Monaten absolvierte er anschliessend ein Praktikum bei der Firma Brown Boveri & Cie. im Zweiggeschäft in Münchenstein bei Basel. Im zweiten Anlauf begann er im Oktober 1915 an der ETH in Zürich die Ausbildung zum Elektroingenieur. Er fiel jedoch zweimal bei der zweiten Vordiplomprüfung durch, sodass eine weitere Zulassung verwirkt war.46 Noch während seines Studiums lernte er in Zürich die Solothurnerin Frieda Maria Luterbacher kennen, Tochter des wohlhabenden Solothurner Uhrenfabrikanten Josef Luterbacher. Frieda hatte, wie bei Töchtern der Elite in katholischen Kantonen üblich, die Matura am Mädchengymnasium Académie Sainte-Croix in Freiburg absolviert.47 Wohl wegen der liberalen Gesinnung ihres Vaters studierte sie anschliessend Italienisch und Französisch an der Philosophischen Fakultät in Zürich und nicht an der katholischen Universität Freiburg. An Weihnachten 1918, anlässlich eines Besuchs bei der Familie im Wallis, schickte der 27-jährige Theodor seiner sechs Jahre jüngeren Frieda eine Postkarte, auf der eine Aufnahme des verschneiten Dorfs Varen zu sehen ist.


Liebe Friedy

Bin glücklich und ohne Unglück heimgekehrt. Bei uns liegt alles im tiefen Winter, auf diesem Bild kannst du dir einen Begriff machen vom Dorfe Varen. Siehst wie es hier im Wallis zwar idyllisch aber doch immerhin abgestorben aussieht. Auf alle Fälle fühle ich mich heimisch im Kreise meiner Angehörigen […].

Theodor verliess die ETH im Frühling 1919 ohne Diplom und bekundete grosse Mühe beim Finden einer Arbeitsstelle. Um Arbeitserfahrung sammeln zu können, bezahlte er sogar für eine Praktikumsstelle in Oerlikon. Er hätte das kleine Dalakraftwerk im Tal gegen Leukerbad leiten können, dafür konnte sich Frieda allerdings überhaupt nicht begeistern. So wohnte er immer wieder und während längerer Perioden zu Hause bei seiner Mutter und seinem Bruder, ohne ihnen aber bei den Arbeiten in der Landwirtschaft unter die Arme zu greifen. Obwohl sie sich bereits 1918 verlobten, kehrte Frieda nach Studienabschluss ins elterliche Heim nach Solothurn zurück. Ihr Vater Josef Luterbacher verbot die Hochzeit, solange Theodor keinen Studienabschluss vorweisen konnte und finanziell nicht eigenständig war. Josef Luterbacher hatte im Jahr 1926 seine Firma Luterbacher & Co. an die neu gegründete Ebauches SA verkauft, einen Zusammenschluss wichtiger Rohwerkehersteller der Schweizer Uhrenindustrie. Für ihren Bruder Max Luterbacher, der nach dem Verkauf der Firma als kaufmännischer Direktor des Zentralbüros bei Ebauches tätig war, machte Frieda in Solothurn hin und wieder Übersetzungsarbeiten ins Französische oder Italienische. Wegen seiner unsicheren finanziellen Lage und der fehlenden Einwilligung des Schwiegervaters musste Theodor den Zeitpunkt seiner Vermählung immer wieder hinausschieben.


Frieda Maria und Theodor (undatierte Aufnahme).

Im Gegensatz zu Theodor und Frieda fassten Oktavia und Jeremias bereits Mitte der 1920er-Jahre den Beschluss, zu heiraten. Da der Schwiegervater nicht mehr lebte, hielt Jeremias bei seiner Schwiegermutter um die Hand Oktavias an. Diese erwiderte auf seine Anfrage hin, er müsse sich in Acht nehmen, Oktavia sei dann eine Böse. In seiner gelassenen Art entgegnete Jeremias, wenn die Schwiegermutter es offensichtlich mit Oktavia ausgehalten habe, so werde auch er es mit ihr aushalten. Ihren Kindern erzählte Oktavia später, sie habe Jeremias aus Mitleid geheiratet. Er habe so für seinen Bruder arbeiten müssen, damit dieser studieren konnte. Sie habe nicht anders gekonnt, sie habe ihn heiraten müssen. Dabei trafen unterschiedliche Welten aufeinander: sie, die mehr als zehn Jahre lang in der Fremde gearbeitet und regelmässigen Lohn erhalten hatte, mit verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten in Kontakt gekommen war und in den industriell entwickelten Gebieten die Errungenschaften der Moderne kennengelernt hatte. Er, der noch nie länger weggewesen war, im Rhythmus der Jahreszeiten und der Tiere lebte und als Selbstversorger kein Einkommen erzielte. Als sie zusammen in der Varnerfluh, einem felsigen, gegen die Dalaschlucht abfallenden Hang auf dem Weg nach Leukerbad spazieren gingen, musste sie ihm zeigen, wie man ein Bonbon isst, denn er hatte noch nie eines gesehen und spuckte es wieder aus.

Sie heirateten am 30. November 1926 in der Kirche von Varen, Oktavia im damals üblichen schwarzen Kleid, da Todesfälle sehr häufig waren, nach Todesfällen ein Jahr lang schwarz getragen wurde und sich die Hochzeit in Schwarz deshalb eingebürgert hatte. Jeremias trug einen Anzug mit satt sitzender, gestreifter Krawatte und hatte die Haare streng zur Seite gekämmt. Wie so häufig in Varen wehte am Hochzeitstag ein starker Wind. Eine windige Hochzeit hätten sie heute, meinte Pfarrer Schmid zum Brautpaar. Die anschliessende Hochzeitsreise führte nach Zürich und kostete gemäss Haushaltsbüchlein 200 Franken. Jeremias lief immer hinter Oktavia her und fragte sich, wie diese Frau in der grossen Stadt bloss zurechtkommt. Oktavia kannte Zürich von früheren Anstellungen. Sie hatte unter anderem im Restaurant Albisgütli serviert. Nach der Rückkehr ins Wallis verbrachten sie eine zusätzliche Flitterwoche in Bodmen, dem Varner Maiensäss bei Leukerbad.


Hochzeitsbild von Oktavia und Jeremias (1926).

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9783039199273
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