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Lutz Tann achtete auf seinen Atem, der am Ende der Laufstrecke ins Stocken geraten wollte, und umrundete im stetigen Schrittmaß die Mulde, die wie ein angedeutetes Amphitheater in die Wiese gegraben war. Danach hielt er in gerader Linie auf das weiße Tempelchen am Ende der Lichtung zu. Erst als er die Stufe hinaufgesprungen war, erlaubte er sich anzuhalten. Nach Luft schnappend, stützte er sich gegen eine Säule und schaute, solange er mithilfe des freien Arms den Oberschenkel dehnte, auf die Stadt hinunter, die sich unterhalb des Nerobergs ausbreitete: ein Mosaik aus Dächern, Straßenzügen und Kirchtürmen und hineingetupft das Grün der Gärten und Parkanlagen. Er wechselte die Seite und dehnte die Muskeln des anderen Beins, ohne den Blick von der Aussicht zu lassen. Das Gewitter der vergangenen Nacht hatte die Luft gewaschen. Er genoss den Ausblick wie eine Belohnung für die Anstrengungen nach der langen Runde durch den Rabengrund. Ein Schlenker hatte ihn an der Leichtweishöhle vorbeigeführt, in der zum Ende des 18. Jahrhunderts der des Wilderns beschuldigte Wiesbadener Bäcker Heinrich Anton Leichtweis gehaust haben soll. Der Streifen der Biebricher Allee, auf den Seiten von Bäumen gesäumt, deren Kronen aus der Ferne zu grünen Bändern verschmolzen, lenkte seinen Blick auf den im Sonnenlicht silbrig schimmernden Lauf des Rheins und darüber hinaus auf das sich hinter dem Strom ausbreitende Häusermeer der Stadt Mainz, Wiesbadens ebenso ungeliebte wie unentbehrliche Nachbarin.

Sein Atem hatte sich beruhigt. Das Herz pumpte wieder stark und gleichmäßig im Ruhewert. Er war topfit, kein Zweifel, und würde so manchem Jüngeren davonlaufen, trotz seiner 59 Jahre. Bislang noch 59. Die 60 näherte sich unaufhaltsam. Obwohl er sich damit tröstete, das sei nur eine Zahl, mehr nicht, es zählte das gefühlte Alter, das bei ihm höchstens Mitte 40 betrug, nicht das Alter auf dem Papier: 60 blieb 60. Im kommenden Monat, Ende September, stand ihm der Tag der Tage bevor. Er hatte keine Lust auf eine Feier, aber was blieb ihm anderes übrig bei seinen Verpflichtungen? Ludwig Wilhelm Tanns 60.Geburtstag würde ein rauschendes Fest werden!

Er zog das Stirnband vom Kopf und genoss den Luftzug, der den Schweiß trocknete, als er sich vom Monopteros abwandte und über die Wiese hinüber zur Bahnstation schlenderte. Der sonnige Samstagvormittag lockte die ersten Besucher hinauf auf Wiesbadens Hausberg, und wer den kurzen Anstieg scheute, konnte sich von der Nerobergbahn bequem hinaufbringen lassen. Der gelbe Waggon kroch Lutz entgegen, als er den Pfad ins Nerotal hinunterstieg. Vorn auf der Plattform stand ein junger Mann mit einem Kind an der Hand. Der blonde Junge winkte vergnügt und ließ ihn an Arthur denken, als dieser ein Schulkind war. Merkwürdig, wie oft er sich in der letzten Zeit auf dessen Kindheit besann. Er führte die unglücklichen Erinnerungen auf den Geburtstag zurück. Diese vertrackten 60, die ihm schonungslos klar machten, wie rasant die Zeit gegen ihn arbeitete. Dass sie sich niemals umkehren ließ. Nichts von all dem Versäumten wäre gutzumachen. Arthurs Kindheit gehörte zu diesen verlorenen Zeiten. War er jemals mit seinem Sohn mit der Nerobergbahn gefahren? Hatte ihm, wie jeder gute Vater, den Mechanismus dieser Museumsbahn erklärt? Die beiden Waggons zogen sich gegenseitig den Berg hinauf. Das erforderliche Gegengewicht lieferte ein Wassertank unterhalb des Wagens. An der Talstation wurde der Ballast abgelassen; eine Mechanik, die jeden Jungen faszinieren musste. Auch den kleinen Arthur? Er konnte sich an keine Fahrt mit seinem Sohn erinnern. Nur ein Versäumnis von vielen anderen.

Während er den Kehren ins Tal folgte, strömten die Entschuldigungen auf ihn ein, die er sich im Lauf der Jahre zurechtgelegt hatte. Argumente, die so schal schmeckten wie abgestandenes Bier. Dass er viel zu jung Vater geworden sei, gerade 19 Jahre alt und hungrig auf das Leben. Ende der 60er-Jahre galt es in den Kreisen seiner Eltern noch als Schande, ein uneheliches Kind in die Welt zu setzen, und weder er selbst, noch die glücklose junge Frau hatten den Mut, sich den Forderungen der Eltern zu verweigern. So wurde geheiratet, und das junge Paar zog in die Villa der Familie Tann. Später nahm er sich jeden Freiraum, widmete sich der Lehre im Verlag seines Onkels, später dem Studium, während die junge Frau, unter der strengen Obhut der Schwiegereltern, nur für das Kind leben durfte. Eine stille Frau, die ihm immer fremd blieb. Sie war keine Jugendliebe; einfach nur ein Mädchen, auf das er sich aus Neugierde einmal zu oft eingelassen hatte. Nach wenigen Jahren wurde sie krank, welkte dahin wie eine Pflanze ohne Licht. Als hätte sie sich aufgegeben. Obwohl sie vor drei Jahrzehnten gestorben war, gelang es ihr in letzter Zeit immer öfter, sich in seine Gedanken zu drängen. Als wollte sie als Tote nachholen, was ihr als Lebende nicht vergönnt war: einen Platz in seinem Leben zu erobern. Arthur dagegen war es inzwischen gelungen, diesen Platz einzunehmen. Oder, überlegte Lutz selbstkritisch, war es nicht eher so, dass er sich als Vater diesen Raum in Arthurs Leben erkämpft hatte? Reichlich spät. So war es auch keine übliche Vater-Sohn-Beziehung; eher ein Verhältnis zwischen sich respektierenden Freunden.

Gegen trübsinnige Grübeleien half am besten Bewegung. So setzte er sich wieder in Trab, sobald er die Straße erreicht hatte, und lief unter dem Viadukt hindurch in die angrenzenden Nerotalanlagen. Er wich einer Gruppe Stöcke schwingender Nordic Walkerinnen aus, umrundete in gedrosseltem Tempo einen Schäferhund samt Herren und trabte, statt nach links zu schwenken und in die Lanzstraße einzubiegen, die ihn zu seinem Haus führen würde, weiter geradeaus und inmitten des Parks entlang bis in die Taunusstraße. Eine väterliche Sehnsucht nach Arthur hatte ihn gepackt; ein ungewohntes Gefühl, dem er umgehend nachgehen wollte.

Gewöhnlich war sein Sohn samstags zeitig in seinem Laden, der nun um kurz vor 11 Uhr seit einer Stunde geöffnet war. Doch nur Josef Brunner trat Lutz entgegen. Die hünenhafte Gestalt hielt er wie immer ein wenig vorgebeugt, als wäre so viel körperliche Präsenz einem Kunst- und Antiquitätenhandel unangemessen. Josefs sonst meist zufriedene Miene wirkte angespannt. Trotzdem begrüßte er den Besucher mit freundlicher Zurückhaltung.

»Ist Arthur bei einem Kunden?«

Das wüsste er selbst gern, erwiderte Josef Brunner. Er sei nur zufällig im Laden, weil er seine Tasche vergessen habe. Eigentlich habe er seinen freien Tag. Anstatt seinen Besorgungen nachzugehen, telefoniere er seit einer Stunde hinter Arthur her. Bislang ohne Erfolg.

So besorgt hatte Lutz den Geschäftspartner seines Sohnes niemals erlebt. »Darf Arthur sich nicht einmal verspäten?«

Josef Brunner schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zu ihm. Er hätte mich angerufen. Arthur lässt den Laden nicht im Stich. Du kennst ihn doch!«

Eine Floskel, die Lutz zu denken gab. Was wusste er wirklich über seinen Sohn? Er fragte nach der Studentin, die ab und zu im Laden aushalf. Vielleicht hatte Arthur mit dem Mädchen gerechnet.

Josef Brunner widersprach. »Simone hat einen Job auf dem Weinfest. Sie arbeitet jedes Jahr am Stand ihres Onkels.«

Die Rheingauer Weinwoche ging in die letzte Runde. Nur noch zwei Tage, was Lutz sehr bedauerte. Wie in jedem Jahr hatte er das Weinfest dazu genutzt, seine Kontakte zu pflegen, und sich jeden Abend mit Freunden, Autoren und Geschäftspartnern bei verschiedenen Winzern getroffen und neben den hervorragenden Weinen auch das wunderbare Sommerwetter genossen. Seinetwegen hätte das Fest noch andauern können.

Während sie gemeinsam erwogen, was Arthur aufgehalten haben könnte, schlug die Türglocke an. Eine junge Frau betrat den Laden: Diane Fischer, die Ehefrau des erfolgsverwöhnten Architekten Moritz Fischer. Lutz kannte Moritz, seit er mit Arthur in eine Schulklasse ging, und begegnete dem Ehepaar Fischer hin und wieder bei privaten Einladungen und öffentlichen Veranstaltungen. Das letzte Treffen hatte in der ›Villa Stella‹ stattgefunden, erinnerte er sich nur allzu gut. Zwei Wochen lag das zurück. Die Fischers hatten anlässlich der abgeschlossenen Renovierung ihrer Bauhausvilla eine Reihe von Leuten eingeladen, die sie für bedeutend genug hielten, und auch Lutz Tann auf die Gästeliste gesetzt. Ob er die Einladung seiner Eigenschaft als Wiesbadener Verleger zu verdanken hatte, oder der Tatsache, mit der Galeristin Undine Abendstern liiert zu sein, wollte er nicht abwägen. Die Fischers hatten eines oder zwei Gemälde bei Undine gekauft. An jenem Abend hatte er die Blicke kaum von Diane lassen können. Undine verfügte über genügend Stil, um mit der Szene zu warten, bis sie im Wagen saßen. Seine altbackenen Argumente, sie könne sich die grundlose Eifersucht sparen, Diane Fischer sei eine verheiratete Frau und außerdem viel zu jung für ihn, falls er sich für sie interessieren würde, was er selbstverständlich nicht täte, diese und andere Ausflüchte hatte sie mit dem Einwand weggewischt, Diane Fischer sei für gar nichts zu jung und bestimmt nicht die Frau, die sich von einem Seitensprung abhalten ließe. Er war schließlich zu Fuß in seine Wohnung gegangen, und Undine hatte sich erst nach Tagen beruhigt. Er kannte diese Ausbrüche; sie gefiel sich in der Rolle der Tobsüchtigen und pflegte ihre ungerechtfertigten Angriffe. Haltlos deswegen, weil sie von seinen Affären, die er selbstverständlich immer wieder hatte, nichts wissen konnte. Er war diskret.

Diane Fischer eilte ihnen entgegen. Sie fragte nach Arthur. Lutz erwiderte ihr Lächeln mit gemischten Gefühlen. Er fand sie beunruhigend fraulich und anziehend, und zugleich wirkte sie auf ihn wie ein trotziges Kind. Der Blick ihrer Mandelaugen machte ihn mit jeder Begegnung nervöser. Josef Brunner schien gegen diesen Angriff tiefgründiger Weiblichkeit immun zu sein. Nein, er habe keine Erklärung, wo Arthur sich aufhalte, erklärte er ungerührt.

Diane Fischer schob die Unterlippe vor. »Ich verstehe das nicht. Wir waren verabredet. Arthur hat mir ein paar Bücher versprochen.«

Wie viele Leute mochte Arthur an diesem Morgen versetzt haben? Josef legte die hohe Stirn in Falten. Lutz verabschiedete sich mit der Ankündigung, später noch einmal vorbeizukommen, und verließ das Geschäft. Er ging entlang der Taunusstraße zurück zum Neropark und bog dort nach halber Strecke zu seiner Wohnung ab. Nach dem Tod der Eltern war er wieder in die ›Villa Tann‹ gezogen. Das Haus thronte hoch über der Straße und war nur über eine steile Treppe zu erreichen. Auf der unteren Stufe wackelte eine Steinplatte unter seinem Tritt. Er musste sie dringend befestigen lassen. Lutz seufzte unwillkürlich. Ständig war an der Villa etwas zu überarbeiten. Erst im vergangenen Jahr hatte er die Heizung rundum erneuern lassen. Die 100-jährige Stadtvilla war ein Fass ohne Boden. So sehr er das Haus auch liebte, manchmal wünschte er sich, in einem profanen Neubau zu leben. Aber ein Verkauf kam nicht in Frage. In nicht allzu ferner Zeit würde die Villa seinem einzigen Sohn Arthur gehören, und Arthur müsste für das Erbe der Familie aufkommen wie andere Söhne zuvor.

Mit diesem tröstlichen Gedanken stieg er die Treppe hinauf.

5

Das hochsommerliche Wetter und die Gewissheit, dass die Rheingauer Weinwoche an diesem Samstag in ihren vorletzten Tag ging, ließ die Wiesbadener Bürger und Besucher aus der Umgebung zum neuen Rathaus strömen. Familien und Freunde drängten sich zwischen den Buden, die sich dicht an dicht vom alten Rathaus und entlang des Landtags bis zur Marktkirche zogen, deren rote Backsteinmauern in der Morgensonne wie Kupfer glänzten. Wer an den langen Tischen einen Platz ergattern konnte, gab ihn so bald nicht wieder auf. Hinter dem Rathaus bot der freie Platz des Dernschen Geländes den Verkaufsbuden mehr Raum. Doch auch hier waren bereits die meisten Tische und Bänke besetzt. Das Weinfest galt als beliebter Anlass zu einem Treffen mit Verwandten und Bekannten ebenso wie mit Geschäftspartnern und Kollegen, und man ließ sich den Riesling schon am Vormittag schmecken.

Gegen halb 12 machte man sich in allen Ständen, die Snacks und warme Mahlzeiten anboten, auf den bevorstehenden Mittagsansturm gefasst. Gabi hatte aus der Küche des ›Räuber Leichtweis‹ einen Tagesvorrat an Handkäs und grüner Soße samt der Kartoffeln heranschaffen lassen und zeigte den beiden Studentinnen, wie die Portionen zu verteilen waren, während Norma schon einmal Teller und Besteck bereitstellte. Der Fußboden in Brunos Verkaufswagen lag um drei Tritte erhöht, und so bot sich Norma, wenn sie von ihrer Arbeit aufsah, über die Köpfe der Besucher hinweg ein freier Blick auf den Stand des ›Wiesbadener Kuriers‹ vor den Stufen der breiten Rathaustreppe. Unter den zwei Damen und vier Herren, die zu dieser Stunde im Einsatz waren, hatte sie einen Bundestagsabgeordneten und einen Wiesbadener Galeristen erkannt. Bruno blieben nur noch wenige Minuten, bis sein karitativer Dienst begann. Am frühen Morgen hatte er sich am eigenen Stand blicken lassen und war, wie an den anderen Tagen auch, im Handumdrehen verschwunden, um im ›Parkhof‹ nach dem Rechten zu sehen.

Norma bückte sich nach einer Gabel. Als sie sich wieder aufrichtete, entdeckte sie Bruno auf der Rathaustreppe. Langsam stieg er die Stufen hinunter: Ein behäbig und schwerfällig wirkender Mann, dessen flinke Beweglichkeit man leicht unterschätzte. Am Stand kam es zu einem Gedränge, bis Bruno und seine Kollegen und Kolleginnen auf Zeit die Plätze eingenommen hatten. Die Studentinnen diskutierten tuschelnd, ob die Fernsehredakteurin so attraktiv war wie auf dem Bildschirm.

Bruno lächelte matt und winkte den Menschen ringsherum linkisch zu. Bereits am Morgen war er Norma auffallend unruhig vorgekommen. Nun zeigten seine runden, sonst rötlichen Wangen eine ungewöhnliche Blässe. Unablässig fuhr er sich mit einem Taschentuch über den Nacken. Die Einladung des ›Kuriers‹ erfüllte ihn mit Genugtuung; darin war sich Norma sicher. Aber seine Nervosität ließ sich damit nicht erklären. Etwas anderes musste ihm zu schaffen machen. Fischers Verrat vielleicht?

Für den Architekten wurde es höchste Zeit, seinen Dienst anzutreten. Endlich entdeckte Norma in der Menge die schlanke Gestalt mit den hellen aufgebürsteten Haaren und einem jungenhaften Lächeln. Moritz Fischer eilte dicht an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken – oder bemerken zu wollen – und bahnte sich, unermüdlich um Entschuldigung bittend, gegen den Besucherstrom einen Weg zum Prominentenstand. Dort wurde er von einer Dame hineingebeten. Sie schien von ihrem Gast entzückt. Moritz Fischer war es in den vergangenen Wochen, vor allem dank der ›Villa Stella‹, öfter denn je gelungen, sich ins Gespräch zu bringen. Eilfertig verteilte er Küsschen unter den Damen und reichte den Männern die Hand. Bruno blickte auf seine Finger, als hätte er sich am Herd verbrannt, und würdigte den Architekten danach keines Blickes.

Normas Beobachtungen wurden von einem jungen Paar unterbrochen. Sie nahm die Bestellung auf und richtete zwei Portionen Kartoffeln mit grüner Soße an. Kaum hatte sie die Teller weitergereicht, wurde sie von einem adrett frisierten Lockenkopf angesprochen.

»Hallo, Norma. Wie gehts denn so?«, säuselte Diane Fischer.

Norma durfte sicher sein, an ihrem Wohlergehen war niemand weniger interessiert als Diane. Es musste ihr ein diebisches Vergnügen bereiten, Norma in Brunos Bude schuften zu sehen. Man konnte nicht sagen, dass die elegante Frau nicht arbeiten wollte. Sie war außerordentlich fleißig. Allerdings, wie sie niemals zu betonen vergaß, ausschließlich im schöpferischen Bereich und vorzugsweise im Architekturbüro ihres Mannes Moritz. Für ihre Entwürfe hatte sie zahlreiche Preise erhalten. In die Tat umgesetzt worden war bisher kaum eine der anspruchsvollen Ideen.

»Weißt du, wo Arthur steckt?«, folgte auch sogleich die Frage Nummer zwei.

An deren Beantwortung schien Diane tatsächlich gelegen. Ihre schwarzen Mandelaugen blickten erwartungsvoll. Diese exotischen Augen und das mädchenhafte Gehabe, das Diane mit Anfang 30 zur Perfektion ausgefeilt hatte, gefiel nicht nur Moritz. Auch Bruno war Diane überaus zugetan, ohne damit auch nur eine Spur Ärger aus Fischer herauszukitzeln. In Bruno sah Fischer, der mit seiner Eifersucht gewöhnlich nicht hinter dem Berg hielt, keine Konkurrenz. Auch vor Arthur musste er sich nicht vorsehen. Keinesfalls aus mangelnder Attraktivität, sondern weil Arthur sich von einer Kindfrau wie Diane nicht um den Finger wickeln ließ. Das Mädchengetue gehe ihm gehörig auf die Nerven, behauptete er standhaft.

Diane kräuselte missmutig die Stupsnase. »Weißt du, wo Arthur steckt? Wir hatten uns um 11 Uhr im Laden verabredet. Aber er war nicht da.«

Sie wolle sich einige Bildbände ausleihen, die sie auf innovative Gestaltungsideen bringen sollten, fügte sie mit bedeutungsvoller Miene hinzu.

Norma häufelte einen Schlag dampfender Kartoffeln auf einen Teller. »Vielleicht führt er ein innovatives Kundengespräch.«

Diane musterte die Kartoffeln abschätzig. »Trotzdem könnte er sein Handy anstellen! Das steht sonst immer auf Empfang. Seit gestern Nacht kann ich ihn nicht erreichen.«

Die Bücher schienen ihr sehr am Herzen zu liegen!

Norma versicherte, keine Ahnung zu haben, wo Arthur sich herumtreiben mochte. Sie hatte nicht die Absicht, von dem Streit zu erzählen. Diane wartete unschlüssig ab und schaute zum Kurierstand hinüber, hinter dessen Tresen ihr Mann Moritz eine Weinflasche nach der anderen entkorkte und vor guter Laune zu bersten schien, während Bruno sich untätig in eine Ecke drückte und still vor sich hin schwitzte.

»Bruno mutiert zielstrebig zum fettsüchtigen Grizzly«, murmelte Diane ganz und gar unmädchenhaft. »Wer ist der Mann im Anzug? Sollte man den kennen?«

Der Anzugträger war kurz nach Moritz Fischer eingetroffen. Norma wusste von Gabi, um wen es sich handelte. Sie griff nach einem Putztuch und wischte einen Spritzer Soße vom Tresen. »Das ist ein Vertreter der Stadt Görlitz. Du weißt sicher, dass Görlitz eine Wiesbadener Partnerstadt ist? Die Stadt will bei uns für ihr Altstadtfest werben.«

»Ach so«, murmelte Diane, bereits von der eigenen Frage gelangweilt, und hob die Hand, um mit den Fingerspitzen Moritz zu winken, der seine Frau entdeckt hatte und ihr eine überschwängliche Kusshand zuwarf.

Affig, dachte Norma. Alle beide.

Die jüngere der Studentinnen, der die Unternehmungslust aus den Augen blitzte, mischte sich in das Gespräch. »Ich kenne Görlitz und das Altstadtfest! Das ist ein tolles Event! Alle verkleiden sich mittelalterlich. Irre Kostüme und so! Bringt jede Menge Spaß. Hört ihr das?«

In das Stimmengewirr rings herum, in das Klappern der Teller und Klirren der Gläser mischten sich ein schneller Trommelschlag und die Rufe einer kräftigen Männerstimme. Norma reckte den Hals und spähte zur Marktstraße hinüber. Vom alten Rathaus her näherte sich eine bunte Gesellschaft. Vorneweg schritt ein Mann in grüner Robe, eine Erscheinung, die in Norma die Assoziation ›stattlich‹ weckte. Er bat die Zuschauer mit volltönender Stimme, der Görlitzer Bürgerschar Auge und Ohr zu schenken. Wer das Mittelalter erleben wollte, sollte zum Altstadtfest nach Görlitz reisen, forderte er die Umstehenden auf. Der Junge neben ihm, in einen groben Leinenanzug gekleidet, schwenkte mit konzentriertem Gesicht eine Standarte, auf der ein Adler und ein Löwe abgebildet waren. Dahinter folgte eine muntere Gesellschaft von Mönchen, Mägden, Kaufleuten und anderen robust gekleideten Männern und Frauen. Die Trommler erhöhten die Takte, und dazu erklang eine fröhliche Melodie, von einem blonden Mädchen auf der Querflöte gespielt. Die Weinfestbesucher begannen im Takt der Trommeln zu klatschen und gaben den Weg frei. Diane drückte sich naserümpfend an den Tresen, als ein als Gaukler verkleideter Görlitzer ihr mit einem anzüglichen Grinsen zu nahe rückte.

Angeführt von dem stattlichen Sprecher und dem schmächtigen Standartenträger, näherte sich der Zug dem Aufgang zum Rathaus und drängte sich an den Prominentenstand heran, um den Abgesandten der Heimatstadt zu begrüßen. Brunos rastlose Blicke strichen über die bunte Schar, als suche er jemanden. Von dem Trubel unbeeindruckt, plauderte Moritz Fischer mit der Frau vom Fernsehen. Vertraulich steckten sie die Köpfe zusammen. Die Frau lachte laut. Norma hielt vergeblich nach Diane Ausschau. Fischers Ehefrau hatte ihren Platz verlassen und war nirgends zu entdecken. Als Norma wieder zum Kurierstand blickte, fiel ihr einer der Mönche auf, der aus der Gruppe ausgeschert war und sich von der Seite an den Stand herandrängte. Wie seine Ordensbrüder trug auch er eine dunkelbraune Kutte, die übergroß geschnitten war. Der Saum reichte bis zu den Knöcheln und gab den Blick auf die nackten Füße in Sandalen frei. Die Arme waren bis zu den Fingerspitzen bedeckt, und die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Er näherte sich Fischer und der Redakteurin und sprach sie an. Die Frau beugte sich mit einem fragenden Lächeln zu ihm hinunter. Fischer schaute ungehalten ob der Störung. Der Mönch winkelte den rechten Arm an, und wie auf ein verabredetes Zeichen griff Fischer sich an die Brust. Auf seinem Gesicht malte sich ein ungläubiges Staunen aus. Er riss den Mund weit auf, ein stummer Schrei. Unter der Hand breitete sich ein Fleck aus. Das Hemd färbte sich blutrot. Ein taumelnder Schritt zurück, ein Wanken, und Fischer krachte rücklings gegen das Weinregal. Flaschen polterten zu Boden, Gläser klirrten, und die Redakteurin öffnete den Mund und begann zu schreien.

Fischer sackte in sich zusammen und entglitt Normas Blickfeld.

860,87 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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251 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783839233344
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