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Träume der Jugend

Vor langer Zeit, also weit vor meiner Bustour durch die Vereinigten Staaten, wollte ich schon nach Kalifornien reisen. Doch die USA waren damals ein rotes Tuch für mich. Das lag zum einen an dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan und später an dessen Nachfolger George W. Bush. Es hatte aber auch mit der unkonventionellen Lebensweise der Amerikaner zu tun, die ich gelinde gesagt als fragwürdig empfand.

Meine Sehnsüchte und Träume, die ich mit Kalifornien verband, stammten aus meiner Jugend- und Hippiezeit. Ähnlich wie bei einer unerfüllten Liebe, die sich niemals dem Realitätstest stellen muss, blieben meine Vorstellungen romantisch verklärt. Das Monterey Pop Festival, Joan Baez, Bob Dylan, Golden Gate, Allen Ginsburg, Ashbury Road: Dieser «Summer of Love» fand 1967 statt, ein Jahr, bevor ich geboren wurde. Die Errungenschaften der darauf einsetzenden 68er-Bewegung prägten meine Jugend und die vielen Ansprüche an mein sehr bewegtes Leben. Kurz: Trotz diffuser Ressentiments bleiben die USA für mich eine Art gelobtes Land.

Frei sein

Wir alle haben den Wunsch auf Selbstverwirklichung und ein Leben außerhalb der strengen Konventionen. Glücklich werden, frei sein! «Die Freiheit ist ein wundersames Tier», singt der österreichische Liedermacher Georg Danzer, und weiter: «Man sperrt sie ein und augenblicklich ist sie weg.» Über Jahrzehnte habe ich diese Freiheit gesucht. Ich pilgerte mit Indien und Südamerika immer an die einschlägigen Strände, wo die Jugend die Freiheit vermutet. Das geschah so viele Jahre, bis ich längst nicht mehr jung war. Und die ersehnte Freiheit hatte ich trotz all meiner Reisen rund um die Welt niemals gefunden. Ich war ein Robinson Crusoe, der auf seiner eigenen kleinen Insel gefangen blieb.

Es wurde mir immer wieder gesagt, ja förmlich eingetrichtert: «Du lebst in einem der freiesten Länder dieser Welt!» Die Schweiz sei ein Land, das gut zu seinen Bürgern schaut und sie sei auch ein reiches wie sicheres Land. «Was treibt dich immer wieder weg?», wurde ich gefragt. Und ich antwortete stets mit demselben Mantra: «Es ist das Gefühl, in einem goldenen Käfig gefangen zu sein.»

Der Wohlstand und das Sicherheitsdenken meiner Landsleute hatte seinen Preis, und der war nach meiner Auffassung die Unfreiheit. Heute weiß ich, dass es nicht die Rahmenbedingungen waren, die meine persönliche Freiheit verhinderten. Die Gründe dafür lagen vielmehr tief in meinem Innersten, und ich werde in diesem Buch konkret darauf eingehen. Heute definiere ich Freiheit insofern, dass ich mir einiges im Leben zutraue. Ein Gefühl, das mir quälende Jahre zuvor gefehlt hatte.

Der Glaube allein

Die Kraft, an sich zu glauben, hat einen enormen Einfluss darauf, wie Menschen ihr Leben gestalten. Wer über genügend Selbstvertrauen verfügt, muss sich nicht die ganze Zeit beweisen. Man weiß ganz einfach, dass man viel erreichen kann im Laufe seiner Erdenjahre. Dieses überaus starke Gefühl ist mit innerem Frieden verbunden, und diese Ruhe gibt mir heute das Gefühl von Freiheit.

Die neu gewonnene Freiheit stelle ich natürlich in Relation zu meinen vielen Erfahrungen, die ich gemacht habe. Manche Weichen wären zu einem früheren Zeitpunkt vielleicht anders gestellt worden, wäre meine Freiheit eine echte Freiheit gewesen. Aber ich bin auch ein rationaler Mensch und weiß zu gut, dass man das Rad der Zeit nicht zurückdrehen kann. Ich bin mit dem, was ich heute bin, im Großen und Ganzen zufrieden. Das kann ich allerdings erst mit 50 Lenzen auf dem Buckel so klar formulieren. Es ist schön, auch mit reifen Jahren erfahren zu dürfen, wie es dem eigenen Wohlbefinden dient, wenn man dem Leben nicht mehr nachrennen muss, sondern daran teilnehmen darf. Wenn die ständige Getriebenheit einer achtsamen Gelassenheit weicht, ist das eine Form von Gnade und Glückseligkeit. Die Welt ist plötzlich nicht mehr schwarz-weiß, und ich habe heute die Zentriertheit, die Komplexität des Daseins mit all ihren Schattierungen wahrnehmen zu dürfen. Es ist wie ein Befreiungsschlag: Wer seine Gedanken ordnen kann, der kann auch loslassen!

Kein Guru brachte den Frieden

Zustände von Frieden, Ruhe oder Entspannung waren mir bisher anhin fremd. Ich machte Sport, bewegte mich viel an der frischen Luft, und ich versuchte meine Unrast mit alternativen Heilmitteln zu besänftigen. Ich suchte Erlösung mit Yoga, übte mich in Atemtechniken sowie in autogenem Training. Eine gezielte Therapie bei einem Arzt wies mich zwar in eine hoffnungsvolle Richtung, letztendlich scheiterten aber alle meine Bemühungen, den hyperaktiven Kern in mir zu dimmen.

Ich erhebe freilich keinen Anspruch, dass meine Erfahrungen, die ich hier im Buch schildere, allgemeingültig sind. Letztendlich ist es aber so, wie ich es seit einiger Zeit erlebe, und ich muss es hier auch mit aller Klarheit sagen: Die vielen Vorteile in meinem neuen Leben verdanke ich nicht einem Achtsamkeits-Coaching in Trivandrum oder einem spirituellen Lehrer in Goa. Die Wahrheit ist weit profaner: Mein neues Lebensgefühl verdanke ich einer runden, weißen Pille. Ihr Name ist Ritalin und sie ist in der Gesellschaft nicht unumstritten.

Die Diagnose

2013 erhielt ich die Diagnose ADHS. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS – wird vor allem bei Kindern diagnostiziert und gehört aus heutiger Sicht zur Gruppe der Verhaltens- und Emotionsstörungen. Probleme mit der Aufmerksamkeit, der Impulskontrolle und der Selbstregulation sind damit verbunden. Körperliche Unruhe wie innere Getriebenheit gelten als häufigste Begleiterscheinungen. Früher wurde ADHS, manche nennen die Störung auch einen Persönlichkeitsstil, als reines Verhaltensproblem angesehen. Heute gehen zumindest Fachleute von einer komplexen Entwicklungsverzögerung des Selbstmanagement-Systems in gewissen Gehirnregionen aus.

Ein schwieriges Kind

Ich galt als ein schwieriger Junge. Streitereien in der Schule waren gang und gäbe. Da ich regelmäßig den Unterricht störte, musste ich so manche Schulstunde vor der Türe verbringen. Ich war derart auffällig, dass sich nicht wenige Freunde aus dem Umfeld abwandten. Noch heute spricht man vom Zappelphilipp, der 1844 vom Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann ersonnen wurde. Doch ADHS oder ADS mit seinen zahlreichen Mischformen und Begleiterscheinungen ist weit komplexer und kann zahlreiche Komorbiditäten in verschiedenen Lebensbereichen zur Folge haben.

In meiner Kindheit gab es die Diagnose noch nicht. Wie ich bereits eingangs erwähnte, sprach man von POS, dem Psychoorganischen Syndrom, was der Wahrheit in keiner Weise nachkam. Fakt ist, dass selbst heute noch viele Kinder und Jugendliche unbehandelt sind, weil man sie nicht abklärt. Experten gehen davon aus, dass die Anzahl von Erwachsenen relativ hoch ist, die unter einer unbehandelten AD(H)S-Symptomatik leiden.

Ein neues Lebensgefühl

Es sollte also ganze 50 Jahre dauern, bis ich mein Dasein so genießen konnte, wie es für die meisten Menschen eine Normalität darstellt. Und das auch im Hinblick darauf, dass jemand sein Leben möglichst ohne Medikamente leben kann. Das sind oder vielmehr waren alles Gedanken, die mich auf meiner Reise durch Kalifornien begleiteten. Während den drei Wochen in den USA erlebte ich die Verbesserungen meiner Lebensqualität besonders intensiv. Zum ersten Mal in meinem Leben reiste ich ohne Begleitung, und ich empfand diesen Zustand als absolut befreiend. Es ist eine unbeschreibliche Erfahrung, sich auf einer Reise derart entspannt zu fühlen und entsprechend harmonisch zu agieren in seinem Umfeld. Kleinigkeiten nerven mich nicht mehr, denn die positiven Aspekte rücken jetzt eindeutig in den Vordergrund. Das ist einfach nur wunderbar!

Ein Beispiel gefällig? Die bekannte Bigger-is-better-Maxime der Amerikaner, die sich in fast allen Lebensbereichen niederschlägt, lässt mich im Gegensatz zu früher wunderbar unberührt. Die riesigen Pappbecher für Coca Cola & Co, die gigantischen Essensportionen auf den Tellern und der ausgeprägte Hang zu Hedonismus und Konsum hinterlassen auf meiner Stirn keine Zornesfalten mehr. Noch zwölf Monate zuvor hätte mich all das und vor allem auch die laute Politik mit ihren schrillen Protagonisten außerordentlich aufgebracht. Und mit Sicherheit hätte ich mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten. Die Mitreisenden aus Australien oder England hätte ich mit Nachdruck wissen lassen, dass die USA kein fairer Player sind im Weltgefüge. Ich hätte der Verkäuferin im Souvenir-Shop, wo ich aus Spaß Donald-Trump-Socken kaufte, erklärt, wie negativ dessen Außenpolitik bei uns Europäern ankommt. Ich kann heute all dem Stress, Ärger und Streit regelrecht «Good bye» sagen. All die guten Aspekte einer mehrwöchigen Reise wären früher zwangsläufig in den Hintergrund getreten. Heute erstrahlen sie in nie da gewesenem Glanz.

Die Neue Welt, wie man die USA auch nennt, fand in einer neuen Welt statt. In meiner neuen Welt! Ich bin heute relaxt, urteile objektiv und das Wichtigste: Ich kann mit unerfüllten Erwartungen und unerwarteten Abweichungen ganz normal umgehen. Es ist für mich eine Art Segen, dass ich mich tatsächlich auf einer Gruppenreise befinde und mich mit diesen Menschen verbunden fühle, die wie ich eine große Liebe zu den Vereinigten Staaten mit seinen vielen Sehenswürdigkeiten und Naturparks empfinden. Ja, ich verspüre in diesem Moment einen kleinen Triumph über mich selbst. Die Verschiedenheit meiner Mitreisenden stört mich nicht mehr im Geringsten und dieses «Laisser-Vivre» führt jetzt sogar zu richtig netten Bekanntschaften. Nun sind es die kleinen Details einer Reise, die mich mit Glück und Dankbarkeit erfüllen. Für jemand anderen mag das alles banal klingen, für mich ist es geradezu eine spektakuläre Erfahrung!

Woodstock, Chi Coltrane und ABBA

Mein Wunsch, die Vereinigten Staaten zu bereisen, geht weit zurück. In der vierten Klasse veranstaltete ein Lehrer zweimal pro Jahr eine Hitparade mit den Lieblings-Songs seiner «Bande». Jeder Schüler und jede Schülerin durfte die Kracher mitbringen, die am besten gefielen und die sich dann einer Bewertung der Mitschüler stellen mussten. Ich erinnere mich an die Langspielplatten und Singles von Elvis, den Beach Boys, Blondie und Chi Coltrane. Diese Musik begeisterte mich allerdings nur bedingt, schließlich war ich ein fast schon fanatischer Fan der schwedischen Popgruppe ABBA. Mein ABBA-Fimmel war derart ausgeprägt, dass höchstens noch Boney M. auf dem Plattenteller Platz hatten und dort auch nur ihr Evergreen «Rivers of Babylon». Es war mir schlichtweg unmöglich, anderen Bands und ihren Pophymnen Raum zu geben. Sogar die Musikbox wurde nur für ABBA-Hits mit Kleingeld gefüttert und die Wände meines Zimmers waren mit Postern tapeziert. Also, diese vier Schweden haben glaube ich ganz gut gelebt von meinem Geld. Doch dann, eines schönen Tages im Jahr 1978, präsentierte uns ein Lehrer, der einen Einspringer machte, seine Musik. Das Triple-Hammer-Album «Woodstock»! Die Klänge von The Who und Ten Years After waren mir zwar zu wild und rockig, doch die Reminiszenzen der Lehrperson und die Übersetzungen der Liedtexte zum Woodstockfestival berührten mich ungemein. Sie erzählten von Liebe, Frieden und Toleranz. Damals wuchs der Wunsch in mir, diesem Lebensgefühl eines Tages an den Originalschauplätzen auf die Spur zu gehen. In Amerika! In Kalifornien!

Ein Präsent aus der Schweiz

Ich erlaube mir an dieser Stelle eine weitere kleine Rückschau, um zu verdeutlichen, wie sich ein stressgeplagtes Dasein mit der passenden Dosis an Ritalin praktisch in Luft auflösen kann. Der grassierende Antiamerikanismus hielt mich vorerst ab von meinem Vorhaben, in das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» zu reisen. Andere Ausflüge in ferne Länder hatten eindeutig Vorrang. Doch noch während meiner ersten USA-Reise sollte schon bald die Zeit kommen, in der mich nichts mehr bremsen konnte, meinem ganz großen Idol einen Besuch abzustatten. Eine Frau, die auf besagter «Woodstock»-Platte hochschwanger und mit kraftvoller Stimme Anti-Kriegs-Lieder sang: Joan Baez.

Über dreißig Jahre, nachdem ich mir die erste Platte von Joan Baez gekauft hatte, stand ich vor dem Bungalow der berühmten Folk-Sängerin. Ich hatte erfahren, dass sie zum Zeitpunkt meines Aufenthaltes ihr letztes Konzert auf ihrer Abschiedstournee in Oakland geben würde und am nächsten Tag – so malte ich mir das aus – vermutlich wieder auf ihrem Landsitz im Silicon Valley anzutreffen wäre. Also machte ich mich zuerst mit dem Zug auf nach Redwood City und gelangte danach mit dem Schulbus bis nach Woodside High School. Nachdem ich die letzten drei Kilometer bis zur besagten Adresse zu Fuß lief, erblickte ich das schöne alte Holzhaus schon von Weitem. Da es keinen Briefkasten und auch keine Türglocke gab, legte ich die leckeren Pralinen aus der Schweiz auf die Schwelle des Eingangstors. Dazu schrieb ich eine persönliche Karte an Joan Baez und blieb noch eine Weile dort, um ein Sandwich zu essen und danach die Rückreise nach San Francisco anzutreten. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht wusste, ob Joan Baez die Schoggi und meine Zeilen je erreichen würden, fühlte ich mich unendlich gut dabei.

Ein halbes Jahr später, bei einem Konzert in London, wartete ich beim Bühneneingang auf die Musikerin. Prompt suchte die beliebte Folklegende den Kontakt zu ihren Fans und ich schaffte es tatsächlich, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich machte nämlich nicht den Fehler, dort zu warten, wo sich die Fan-Massen aufhielten. Ich beobachte fern der Massen ein Taxi, das diskret in die Nähe des Bühneneingangs fuhr und ich wusste instinktiv, dass der Wagen für Joan Baez bestimmt war. Menschen mit ADHS entwickeln nämlich ein feines Sensorium, wenn sie etwas unbedingt wollen. Wir spüren in diesen Momenten genau, was geht und was nicht geht. Es sind dann die feinen Details, die uns auffallen und die wir richtig einordnen in unserem Plan.

Joan Baez stieg dann prompt in das Taxi, vor dem ich stand, und so konnte ich ihr noch eine Frage stellen. Mit einem Lächeln im Gesicht bestätigte sie mir, mein spezielles Geschenk erhalten zu haben, und ich war endgültig zufrieden, wenn nicht zu sagen, ein klein wenig selig. Diesen Zustand genoss ich während meines London-Aufenthalts noch ein paar Tage lang.

Flower-Power und Kommerz

Als ich in San Francisco den Stadtteil Haight-Ashbury aufsuchte, das ehemalige Epizentrum der Beatnik- und Hippiebewegung, der Lebensmittelpunkt von Janis Joplin, von Grateful Dead und Jefferson Airplane, war ich – obwohl ich es nicht anders erwartet hatte – ernüchtert. Das Geschäft mit dem Tourismus schien das Quartier und seine Geschichte komplett vereinnahmt zu haben. Was damals einer progressiven, lebendigen Lebenshaltung entsprach – Musik, Kleidung, Literatur und Politik –, ist heute nur noch ein fernes Echo einer pulsierenden Ära, das sich nun in verfremdeter Weise in billigen Souvenirs widerspiegelt. Ich hatte es bereits erwähnt: Selbst solche traurigen Erfahrungen bringen mich heute nicht mehr aus dem Konzept. Der Grund ist auch, ich muss es in dieser Klarheit sagen, diese kleine runde Pille Ritalin. Das Schöne an meiner kleinen Reminiszenz ist schnell erklärt:Ich hatte nach all den vielen Jahren endlich das gefunden, was die einstige Flower-Power-Generation einen Sommer lang gesucht hatte: die Gewissheit, dass keine Barrieren mehr existieren, die meinen natürlichen Lebensfluss behindern oder ins Stocken geraten lassen.

Dr. med. univ. Ilona Maier erläutert das Kapitel
Fakten zu ADHS:
Wie schnell fühlen sich Menschen mit ADHS eingeengt?

Menschen mit ADHS fällt es in der Regel schwer, sich zu strukturieren. Sie werden jahrelang, gerade im Kindesalter, immer wieder ermahnt und dazu angehalten, gewisse Regeln einzuhalten. Ihnen wird von außen eine Struktur auferlegt, die nicht immer zur Persönlichkeit des Kindes passt und so zusätzlichen Stress anstatt Erleichterung mit sich bringt. Diese Kinder – natürlich gilt das auch für Jugendliche und Erwachsene – fühlen sich nicht akzeptiert, wie sie sind, sie haben das Gefühl, eingeschränkt und eingeengt zu werden. Ein Flucht- bzw. Vermeidungsverhalten, auch eine Auflehnung, gerade in der Pubertät, ist oft die Folge.

Die Konsequenzen dieses Verhaltens sind dann häufig mehr Regeln und Ermahnungen. Diese (versuchte) Fremdbestimmung löst meistens noch mehr negative Emotionen bei den Betroffenen aus.

Menschen mit ADHS, abhängig von der jeweiligen Ausprägung, fällt es manchmal schwer, Denkweisen anderer zu akzeptieren, wenn diese nicht ihren eigenen entsprechen. Daraus resultiert häufig auch ein Gefühl, missverstanden und ungerecht behandelt zu werden.

Ein Kinderleben

Mein Leben auf diesem verrückten Planeten begann 1968. In der Schweiz war auf dem Land von den gesellschaftspolitischen Aufbrüchen und Veränderungen jener Zeit vorerst wenig zu spüren. Meine Eltern gehörten zwar altersmäßig zu jener Generation, die eine alternative Lebensweise und die freie Liebe proklamierten. Sie bewegten sich aber beide weiterhin innerhalb der damals eng gesteckten Grenzen, die einerseits den Gepflogenheiten eines konservativ bürgerlichen Milieus entsprachen und andererseits mit den Geschichten der jeweiligen Familien zu tun hatten. Die Seetaler Gemeinde, in der wir lebten, gehört zum Kanton Aargau. Das Dorf mit seinen rund dreihundert Einwohnern ist noch heute ländlich geprägt. Damals gab es allerdings nur zwei Beizen, einen Verein und natürlich eine Kirche, die mitten im Dorf stand.

Bereits die Ehe zwischen einem katholischen und einem reformierten Ehepartner galt in gewissen Landstrichen als Skandal. So war es auch bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Als sie im Jahr 1946 im Kloster Mariastein heirateten, mussten zwei Mönche als Trauzeugen aufgeboten werden. Die Hochzeit wurde in der Folge durch die reformierte und die katholische Verwandtschaft boykottiert. Die Großmutter, eine liebenswürdige und gottesfürchtige Katholikin, versuchte die fünf Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. Sie geriet aber wohl mehr als einmal in die Bredouille, da ihr Mann von ihrer religiösen Ausrichtung wenig hielt. Außerdem war mein Großvater, also ihr Mann, reformiert. Nach dem Erlebnis mit der besagten Hochzeit wandte er sich ganz ab von der Religion.

Mein Vater, so erfuhr ich erst viel später, pflegte ebenfalls ein zwiespältiges Verhältnis zur Religion. Im aargauischen Freiamt – dem sogenannten «schwarzen Erdteil» – aufgewachsen, erlebte er in seiner Kindheit und Jugend verbale und körperliche Gewalt durch Geistliche.

Trotz dieser Umstände waren beide Elternteile darauf bedacht, meine drei Jahre ältere Schwester und mich in der Tradition christlicher Werte zu erziehen. Obschon gerade in ländlicher Umgebung die soziale Kontrolle funktioniert und sich manche «Verfehlungen» wie ein Lauffeuer verbreiten, ließen Mutter und Vater die Sonntagsmesse regelmäßig sausen. Dem Pfarrer entging unsere Abwesenheit nicht, und am Montag erkundigte er sich im Religionsunterricht vor der ganzen Klasse, warum die Familie Rey am Sonntag nicht in der Kirche gewesen sei. Er hatte allerdings nicht mit der Gewitztheit meiner Eltern gerechnet. Sie halfen uns Kindern nämlich proaktiv mit der Formulierung von Notlügen, und so antworteten wir beispielsweise: «Wir haben die Großeltern auf dem Gasthof in den Bergen besucht.» Diese Besuche fanden zwar regelmäßig statt, denn meine Mutter war im dortigen Hotel arbeitstätig und trug somit zum Familieneinkommen bei. Wir saßen also in Tat und Wahrheit am Sonntag gemütlich in der guten Stube und unsere Ausflüge dienten als willkommene Ausrede für die geschwänzten Kirchenbesuche.

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