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Читать книгу: «Lehrbuch Psychomotorik», страница 2

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Irmischer, T., Hammer, R. (2001) (Hrsg.): Psychomotorik in Geschichten. AKL, Lemgo

Roob, I. (Hrsg.) (2015): Spurensuche. Psychomotorische Schätze neu entdecken. WVPM-Verlag, Marburg

Eine Übersicht über die Entwicklungen der europäischen Psychomotorik findet sich bei:

Fischer, K. (2009): Einführung in die Psychomotorik. 3. überarb. u. erw. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel

Krus, A. (2015a): Entwicklungslinien der Psychomotorik. In: Krus, A., Jasmund, C. (Hrsg.): Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfelder. Kohlhammer, Stuttgart, 15–35

1.1 Begriffsklärung Psychomotorik

„Es gibt unter den PsychomotorikerInnen viel Einigkeit in der Sache und in grundlegenden Überzeugungen, aber wenig Einigkeit in der Sprache. Diese babylonische Sprachverwirrung ist zu einem großen Teil selbst gemacht. Sie entsteht wesentlich dadurch, daß (sic!) der Begriff Psychomotorik in unterschiedlicher Bedeutung benutzt wird“ (Seewald 1997b, 1).

Wie das vorhergehende Kapitel bereits thematisiert, stellt die deutsche Psychomotorik kein einheitliches Konzept dar. In ihrem Kontext sind darüber hinaus weitere Begriffe entstanden, die einleitend skizziert werden, um eine Einordnung vornehmen zu können.

Im Zuge der Verwissenschaftlichung und Lehrbarmachung der Psychomotorik entstanden interessanterweise Wortschöpfungen, die nicht den Begriff Psychomotorik enthalten. So wird die fachschulisch gelehrte Psychomotorik von MotopädInnen praktiziert und die universitäre Lehre und Forschung der Psychomotorik in der Motologie verortet. Motopädie und Motologie grenzen sich dabei nicht inhaltlich, sondern nur institutionell von dem international vorherrschenden Oberbegriff Psychomotorik ab (Fischer 2015, 263).

Motologie Dabei bildet die Motologie ein „wissenschaftliches Fachgebiet mit eigener Fachsystematik und eigenem Berufsbild (Diplom-Motologe / Motologin bzw. Motologe/Motologin M.A.)“ (Fischer 2015, 263).

Die Fortbildungseinrichtung des akp trug zunächst (bis 2008) den Titel „Akademie für Motopädagogik und Mototherapie“. Motopädagogik und Mototherapie galten auch als Teilgebiete der Motologie.

Motopädagogik/Mototherapie Die Motopädagogik legte dabei den Schwerpunkt des psychomotorischen Arbeitens auf Prävention und erzieherische Arbeit, in der Regel im Kindesalter. Die Mototherapie legte hingegen ihren Schwerpunkt auf die Rehabilitation im eher klinischen Bereich. Inzwischen haben sich aber auch Inhalte und Strukturen des Master-Studiengangs Motologie erweitert und verändert, sodass die Begriffe Motopädagogik und Mototherapie hier nicht mehr verwendet werden. Mittlerweile können Studienschwerpunkte im Bereich Förderung und Beratung im Arbeitsfeld Kinder und Jugendliche oder im Bereich Körperpsychotherapie gewählt werden. Der Einzug von Themen wie Organisationsberatung, Gesundheitsförderung, Evaluation verweist darauf, dass sich auch die Motologie in einem steten Prozess der Weiterentwicklung befindet, der wiederum in Interaktion mit der psychomotorischen Praxis steht.

Festzuhalten bleibt, dass sich bei aller (historischen) Begriffsvielfalt der Begriff Psychomotorik in Deutschland etablieren konnte, auch weil er international anschlussfähig ist:

Psychomotorik international „Unter internationalen Gesichtspunkten tritt der Begriff ‚Psychomotorik‘ immer mehr in den Vordergrund und findet in den verschiedenen Sprachen seine entsprechende Übersetzung (Psychomotricity, Psychomoticité, Psicomotricidad“ (Zimmer 2012, 19).

Europäisches Forum der Psychomotorik Dies schlägt sich auch in der Bezeichnung des 1996 gegründeten „European Forum for Psychomotricity“ (Europäisches Forum für Psychomotorik) nieder, dem im Jahr 2017 15 europäische Staaten angehören (eine gute Übersicht über die europäische Psychomotorik findet sich bei Krus 2015a, 29ff.).

Letztendlich bildet der Begriff Psychomotorik eine gemeinsame Klammer aller psychomotorischer Fachkräfte, unabhängig ihres Aus- und Weiterbildungsweges.

Deutsche Akademie für Psychomotorik So trägt auch die Akademie für Motopädagogik und Mototherapie seit 2008 den Namen „Deutsche Akademie für Psychomotorik“.

Deutsche Gesellschaft für Psychomotorik Die „Deutsche Gesellschaft für Psychomotorik“ (DGfPM)) bildet seit 2006 den Dachverband der Verbände und Vereine der deutschen Psychomotorik.

Der Begriff „Psychomotorik“ wird allerdings nicht einheitlich und in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen benutzt.

Begriffsbedeutungen Psychomotorik So können nach Seewald (1997a, 272) folgende vier Bedeutungen des Begriffs Psychomotorik unterschieden werden:

1. „Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsförderung“ als Sammelbegriff und Eigenname für psychomotorische Konzepte in der Tradition der „Psychomotorischen Übungsbehandlung“, die sich an einem humanistischen Menschenbild, spezifischen Prinzipien und Zielen orientieren.

2. „Psychomotorik als Begriff, der die Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen bezeichnet“, verweist auf die psychomotorische Überzeugung, der Ganzheitlichkeit und Unteilbarkeit körperlich-seelischer Prozesse. In diesem Verständnis wird also der enge Zusammenhang von Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln betont (Fischer 2009, 11).

3. „Psychomotorik als Begriff der (Sport-)Motorikforschung“ im Sinne eines Oberbegriffs für Theorien, die sich mit psychisch gesteuerten motorischen Prozessen und Abläufen befassen (Pöhlmann et al. 2011, 85).

4. Psychomotorik als Bezeichnung einer Entwicklungsphase, die in der Reihenfolge „Neuromotorik“, „Sensomotorik“, „Psychomotorik“ und „Soziomotorik“ auftritt (Leyendecker 2005, 13ff.).

Vor allem die Begriffsbedeutung „Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsförderung“ und „Psychomotorik als Begriff, der die Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen bezeichnet“ sind dabei von Relevanz für die Theorie und Praxis der Psychomotorik. Im Einzelfall sollte jedoch immer geklärt werden, in welchem Sinne der Begriff „Psychomotorik“ benutzt wird. Dies illustriert auch das folgende Beispiel aus der psychomotorischen Praxis:

Fallbeispiel: psychomotorische Begriffsverwirrung


Im Rahmen des Sportunterrichts nutzt die Klasse von P. im Winterhalbjahr eine Eislaufhalle. Der dort unterrichtenden Lehrerin fällt auf, dass P. noch große Schwierigkeiten zeigt, das Gleichgewicht auf dem Eis zu halten und er es noch nicht schafft, sich die neuen Bewegungsabläufe anzueignen. Sie beobachtet insgesamt eine große motorische Unsicherheit und dass P. sich sehr ängstlich verhält. Für sie, als erfahrene Lehrerin, ist P. daher ein „typisches“ Kind für die psychomotorische Förderung. Dorthin hat sie schon öfter Kinder vermittelt, die ihr im Bewegungsverhalten aufgefallen sind. Sie informiert daher die Eltern darüber, dass ihr Kind eine „psychomotorische Störung“ habe und rät zur Förderung. Den Eltern ist der Begriff der psychomotorischen Störung nicht bekannt.

Die Mutter, Gesundheits- und Krankenpflegerin in einer Klinik, spricht daher einen der Klinikärzte auf diese Störung an. Dieser zeigt sich äußert besorgt, spricht von neurologischen und psychischen Erkrankungen und rät unbedingt zu einer Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels. Diese wird ohne Befund durchgeführt. Die Eltern sind erleichtert und melden das Ergebnis der Untersuchung an die Lehrerin zurück. Diese versteht nicht, warum die Eltern anhand eines MRTs eine psychomotorische Störung ausschließen. Sie bittet die Eltern, sich P. beim Schlittschuhlaufen anzusehen, damit sie verstehen, was sie meint. Während die Eltern P. auf dem Eis beobachten, erklärt die Lehrerin, was sich aus ihrer Sicht hinter einer „psychomotorischen Störung“ verbirgt und warum eine psychomotorische Förderung helfen könnte. Die Eltern können nun nachvollziehen, warum die Lehrerin der Meinung ist, dass eine psychomotorische Förderung für P. sinnvoll sein könnte. Aber wird das Spielen und Toben in einer Gruppe in diesem Psychomotorikverein P. auch helfen?

notwendige Begriffsklärung in der Praxis Vor allem im Austausch mit KooperationspartnerInnen (Kap. 6) sollte zu Beginn eine Begriffsklärung erfolgen. So könnten zum Beispiel NeurologInnen oder PsychologInnen den Begriff weniger als Eigenname oder als allgemeinen Begriff verstehen, sondern im Sinne der psychisch gesteuerten Motorik. Eltern kennen den Begriff möglicherweise gar nicht und zeigen sich auch irritiert aufgrund des Wortteils „Psycho“. Daher ist es notwendig, den Begriff Psychomotorik zu definieren, ihn erklären zu können und zu wissen, dass nicht alle Berufsgruppen das gleiche Begriffsverständnis haben.

Aber auch innerhalb der Psychomotorik existieren verschiedene Definitionen von Psychomotorik. Im Folgenden werden daher mehrere Definitionen vorgestellt, die auch noch einmal verdeutlichen, dass Psychomotorik zum einen als Begriff für ein Konzept der Entwicklungsförderung und zum anderen als ein Begriff zur Benennung der Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen verwendet wird. Die gewählten Definitionen stehen darüber hinaus exemplarisch für die historische Entwicklung und die Standortbestimmung der deutschen Psychomotorik im 21. Jahrhundert.

Definition Ernst J. Kiphard Ausgangspunkt bildet die Definition des Begründers der deutschen Psychomotorik, der Psychomotorik definiert als „eine ganzheitlich-humanistische, entwicklungs- und kindgemäße Art der Bewegungserziehung, in deren Mittelpunkt die Förderung der gesamten Persönlichkeit steht“ (Kiphard 1984, 49).

Diese Definition verweist auf das der Psychomotorik zugrunde liegende Menschenbild (Kap. 1.6.1), beschreibt die damaligen AdressatInnen der PMÜ (Kinder), benennt die Entwicklungsorientierung und den pädagogischen Anspruch des „Erziehens durch Bewegung“ als Methode und die Förderung der gesamten Persönlichkeit als Ziel. Dieser Ansatz steht damit dem Sport als „Erziehung zur Bewegung“ gegenüber.

Neuere Definitionen enthalten in der Regel immer auch Kernelemente dieser Definition. So wird durchgehend die Einheit von Bewegen, Wahrnehmen, Erleben sowie die Orientierung am Individuum und seiner Entwicklung betont, wie auch die folgenden Definitionen zeigen:

Definition Dietrich Eggert/Birgit Lütje-Klose Dietrich Eggert und Birgit Lütje-Klose benennen als Klientel der Psychomotorik ebenfalls die Gruppe der Kinder und beschreiben Psychomotorik als „die Förderung der Entwicklung von Kindern durch das Zusammenspiel von Bewegen, Denken, Fühlen und Orientieren im Spiel oder einer anderen bedeutungsvollen Handlung zusammen mit anderen“ (Eggert / Lütje-Klose 2008, 22). Diese Definition bezieht sich noch ausschließlich auf Kinder. Ergänzend zur Kiphardschen Definition verweist sie auf die Bedeutung der Gruppe in der Psychomotorik. Statt Erziehung wird der Begriff der Förderung verwendet. Dieser wird in der Definition von Astrid Krus um therapeutische Aspekte ergänzt:

Definition Astrid Krus „Das Konzept der Psychomotorik bezeichnet eine ganzheitliche, humanistische, pädagogische oder therapeutisch Methode der Entwicklungsförderung über die Lebensspanne durch Bewegung und Körperlichkeit. Die Einheit von Bewegen, Wahrnehmen und Erleben beschreibt das Grundkonzept der Psychomotorik“ (Krus 2015b, 53).

In dieser Definition werden psychomotorische Angebote auf die gesamte Lebensspanne bezogen. Entwicklungsförderung in pädagogischen oder therapeutischen Kontexten wird als Ziel definiert.

Definition Europäisches Forum Den Bezug auf ein humanistisches Menschenbild sowie die Ganzheitlichkeit findet sich auch in der Definition des Europäischen Forums für Psychomotorik: „Aufgrund eines holistischen Menschenbildes, das von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht, beschreibt der Begriff Psychomotorik die Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen Kontext“ (Passolt / Pinter-Theiss 2003, 11). Hier findet eine Erweiterung um den psychosozialen Kontext statt.

Definition Ingrid Olbrich Ingrid Olbrich definiert nicht ein Konzept, sondern Psychomotorik als den emotionalen Ausdruck, der über den Leib im Spiel ermöglicht wird: „Unter Psychomotorik verstehe ich die in der Leiblichkeit und ihrer beweglichen Ausdruckskraft sichtbar werdenden Gefühlsqualitäten, neben den gesellschaftlich zugelassenen auch die unerwünschten, die sich beim Kind oft nur noch im Spiel zeigen können“ (Olbrich 1995, 47).

Definition Amara Eckert Auch Amara Eckert versteht unter Psychomotorik „das menschliche Ausdrucksgeschehen mit seinen individuellen, dialogischen und gestalterischen Aspekten, den vielfältigen Möglichkeiten sinnhaft leiblich in dieser Welt zu sein“ (Eckert 2004, 70). Mit dem Begriff Leib weisen Ingrid Olbrich und Amara Eckert darauf hin, dass es in ihrem Verständnis um den subjektiv gespürten Leib geht (Kap. 1.6.2), also nicht um den naturwissenschaftlichen Blick auf einen mess- und beschreibbaren Körper. Ansatzpunkt sind die durch den Leib gewonnenen und mitgeteilten inneren Bewegungen.

Definition Gerd Hölter Dies und die sozialen Faktoren betont auch Gerd Hölter, denn für ihn ist Psychomotorik „eine über eine biomechanische / physiologische Sichtweise hinausgehende Interpretation der menschlichen Leiblichkeit und Bewegung, bei der die Beachtung einer Wechselwirkungen von physischen, psychischen und sozialen Faktoren bedeutsam ist“ (Hölter 1990, 94).

Definition Klaus Fischer Klaus Fischers Definition weist darauf hin, dass sich die Psychomotorik von einem zunächst in der praktischen Arbeit entstandenen Konzept zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hat. „Psychomotorik ist eine entwicklungstheoriegeleitete Handlungswissenschaft mit Ausrichtung auf die Erforschung der dynamischen Personen-Umwelt-Interaktion“ (Fischer 2011, 3). „Der Begriff Psychomotorik betont innerhalb der menschlichen Motorik den engen Zusammenhang von Wahrnehmen, Bewegen, Erleben, Erfahren und Handeln (Fischer 2015, 363).

Die einzelnen Definitionen weisen Überschneidungen und Ergänzungen auf. In allen Definitionen wird deutlich, dass Bewegung in der Psychomotorik nicht nur als motorische Funktion des Körpers betrachtet wird. Bewegungs- und Wahrnehmungsaktivitäten werden eine zentrale Rolle in der kindlichen Welterschließung und -aneignung zugesprochen: Über den Körper erfährt das Kind etwas über sich, seine materielle sowie personelle Umwelt. Gleichzeitig drückt es sich über seinen Körper aus und wirkt aktiv auf seine soziale und materielle Umwelt, die wiederum auf das Kind wirkt. Körper- und Bewegungserfahrungen gelten in der Psychomotorik als fundamentale Bausteine von Lernprozessen, Persönlichkeitsentwicklung, Identitätsbildung und Beziehungsgestaltung. Dabei hat sich der Fokus von der Lebensphase Kindheit auf die gesamte Lebensspanne geweitet.

Zusammenfassung

Verschiedene Definitionen von Psychomotorik weisen Gemeinsamkeiten, Akzentsetzungen und Erweiterungen auf. Als Kernelemente der Definitionen kann herausgearbeitet werden, dass der Einheit von Bewegung, Wahrnehmen und Erleben für die menschliche Entwicklung eine fundamentale Bedeutung zukommt. Neuere Definitionen beziehen Umweltfaktoren und die gesamte Lebensspanne mit ein.


1. Stellen Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vorgestellten Definitionen vor.

2. Welche Begriffe zeichnen sich in den Definitionen als zentral ab?

3. Welche der Definitionen nutzt den Begriff Psychomotorik im Sinne eines Konzepts der Entwicklungsförderung und welche, um Psychomotorik als Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen zu bezeichnen?

4. Recherchieren Sie weitere Definitionen von Psychomotorik. Vergleichen Sie diese mit den hier aufgeführten Definitionen.

1.2 Entwicklungslinien und psychomotorische Perspektiven

Die in Kapitel 1.1 vorgestellten Definitionen verweisen unter anderem bereits darauf, dass aus unterschiedlichen Perspektiven psychomotorisch gehandelt wird. Diese werden im folgenden Kapitel vorgestellt.

Als Ausgangspunkt einer allgemeinen Übersicht und einer ersten Einordnung der Psychomotorik wird Bezug auf die von Gerd Hölter beschriebenen „Entwicklungslinien der Psychomotorik im deutschsprachigen Raum“ (Hölter 1997) sowie die von Jürgen Seewald (1993) formulierten „Theoriebrillen“ genommen.

Entwicklungslinien Gerd Hölter fasst die Entwicklungslinien der deutschen Psychomotorik wie folgt zusammen: „Betrachtet man die Arbeitskonzepte aus wissenschaftlicher Sicht, so lassen sich deutlich drei Richtungen mit unterschiedlichen Interessen und Arbeitsschwerpunkten voneinander unterscheiden, eine psychiatrische, eine bewegungsanalytische und eine praxeologische Richtung. Die praxeologische

Richtung basiert und profitiert zum Teil von den anderen beiden Richtungen, hat aber ihre eigenen Akzente entwickelt, in denen Bewegung als Funktionsgeschehen, als Strukturierungsleistung und / oder Bedeutungsphänomen betrachtet wird“ (Hölter 1997, 20).

psychiatrische Entwicklungslinie Die psychiatrische Entwicklungslinie befasste sich zunächst mit dem Zusammenhang von gezeigtem Bewegungsverhalten und dem psychischen Zustand der klinischen PatientInnen. Neuere Forschungen beschäftigen sich, die Perspektive umkehrend, mit dem möglichen Bedingungsgefüge psychomotorischer Störungen und psychischen Erkrankungen.

bewegungsanalytische Entwicklungslinie Die bewegungsanalytische Entwicklungslinie interessiert sich hingegen weniger für Bewegungsverhalten als Ausdruck psychischer Prozesse, als vielmehr für Bewegung als Steuerungsvorgang (beispielsweise in der Biomechanik) oder aber als Ausdruck menschlicher Intelligenz.

praxeologische Entwicklungslinie Die praxeologische Entwicklungslinie versteht sich als eine anwendungsorientierte Richtung der Psychomotorik, wie sie in diesem Lehrbuch vermittelt wird. Innerhalb der deutschen Psychomotorik haben sich ausgehend von der Psychomotorischen Übungsbehandlung unterschiedliche Richtungen und psychomotorische Ansätze entwickelt, die sich in erster Linie in ihren Grundannahmen über Entwicklungsprozesse, ihrem Störungsverständnis und dem davon abzuleitendem Förderprozess unterscheiden (Fischer 2009, 29; Krus 2015a, 19ff.).

Theoriebrillen Jürgen Seewald (1993; 2009) stellt mit seinem Modell der „Theoriebrillen“ einen Systematisierungsversuch der Perspektiven der praxeologischen Entwicklungslinie der Psychomotorik vor.

erklärende und verstehende Ansätze Dabei können zunächst zwei grundlegende Kategorien gebildet werden (Abb. 1): Erklärende Ansätze (mit einer funktional-physiologischen oder erkenntnisstrukturierenden Perspektive) sowie verstehende Ansätze (mit identitätsbildender / sinnverstehender oder ökologisch-systemischer Perspektive; Abb. 1). Dabei gehören die erklärenden Ansätze chronologisch betrachtet zur älteren Generation der Psychomotorik und die Verstehenden zur jüngeren.


Abb. 1: Systematisierung psychomotorischer Ansätze (nach Seewald 2009)

1.2.1 Funktional-physiologische Perspektive

biologistisches Menschenbild Grundgedanke bildet bei diesem Ansatz ein medizinisches / biologistisches Menschenbild, welches das Bewegungsgeschehen als ein Produkt neuraler Prozesse versteht und somit Bewegung als neurophysiologisches Steuerungsgeschehen betrachtet. Störungen werden, in der Tradition eines linear medizinisch orientierten Denkmodells, auf Defizite in der Wahrnehmung und Bewegung beziehungsweise auf sogenannte cerebrale Dysfunktionen, zurückgeführt.

Defizitorientierung Ansatzpunkt sind damit diagnostizierte Defizite im motorischen und / oder sensorischen Bereich, die durch ein gezieltes Trainieren aufgehoben werden sollen (Seewald 1993, 189; Fischer 2009, 30). Das Therapieverständnis beschreibt Seewald (1993, 18) wie folgt: „Besteht ein Rückstand in der Körperkoordination, muß diese geübt werden, ist der Rückstand größer, muß entsprechend mehr oder öfter geübt werden.“ Den KlientInnen kommt dabei eine eher passive Rolle zu, denn nach einer Diagnostik werden das Förderziel, die Auswahl und die Durchführung geeigneter Übungen allein durch die psychomotorische Fachkraft bestimmt.

Neben einigen Vorteilen, die vor allem in der Handlungssicherheit der psychomotorischen Fachkraft, in klaren Rollenzuweisungen und in der Verhinderung von Überinterpretationen motorischer Abläufe liegen, bestehen auch Nachteile. Zunächst ist der diesem Konzept immanente Subjekt- und Normalitätsbegriff kritisch zu betrachten, denn es wird davon ausgegangen, dass sich Menschen mit einer „gesunden“ cerebralen Ausstattung adäquat an die Gegebenheiten (Stimuli) der Realität anpassen können. Von den Normalitätsvorstellungen abweichendes Verhalten wird im Umkehrschluss monokausal auf pathologische Veränderungen im menschlichen Gehirn zurückgeführt.

Beüben Da das primäre Anliegen eine Verbesserung der Motorik und / oder der Wahrnehmungsleistung ist, erfolgt die Therapie auf der Basis eines reinen „Beübens“ des menschlichen Bewegungsapparates. Ziel des „Beübens“ ist das Erfüllen einer definierten Normalitätserwartung. Dabei wird der Gesamtproblematik ein monokausaler Erklärungsansatz zugrunde gelegt und mögliche psychosoziale Verursachungsfaktoren ausgeblendet. Durch dieses Vorgehen wird Störungsbildern als Symptomen keinerlei subjektiver Sinn zuerkannt, sodass die Biografie und die Lebenswelt der KlientInnen keine Berücksichtigung finden (Seewald 1993, 6f.).

In der aktuellen Psychomotorik wirkt diese Perspektive vielleicht befremdlich, aber die PMÜ wird dieser Perspektive zugeordnet. Die Anfänge der Psychomotorik liegen im Setting der Kinder- und Jugendpsychiatrie der 1950er Jahre. Daher verwundert es nicht, dass in Kiphards PMÜ funktionelle und medizinische Aspekte zu überwiegen scheinen. Das erste Kapitel von „Bewegung heilt“ trägt auch die Überschrift: „Medizinische Grundlagen“. Hier werden Kinder mit „frühkindlichem Hirnschaden“ und „neurotische Kinder“ als Zielgruppe der PMÜ beschrieben (Hünnekens / Kiphard 1971, 9).

Funktionsstufen der PMÜ Auch werden vier Funktionsstufen beschrieben, an die das Kind herangeführt werden solle: Zu Beginn steht die isolierte Erfahrung im Gebrauch der Sinne. Hierdurch sollte erlernt werden, bewusst zu hören, zu fühlen oder zu sehen. Diesen Erfahrungen schließen sich statische und dynamische Körpererfahrungen an, die die Basis für die folgenden Bewegungserfahrungen im Großraum sind, die die grobmotorische Koordination fördern sollten. Übungen im feinmotorischen Bereich bilden die vierte Funktionsstufe (Hünnekens / Kiphard 1971, 18). Die entwickelten Tests (zum Beispiel der Körperkoordinationstest oder der Trampolinkoordinationstest) sollten die motorischen Defizite der Kinder erheben, die dann entsprechend behandelt wurden.

Astrid Krus (2015a, 20) verweist darauf, dass sich Kiphard selbst nicht dieser Perspektive der Psychomotorik zuordnete, da er von Anfang an die Bedeutung der Bewegung für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung betont habe und nicht symptom- und defizitorientiert vorgegangen sei.

Unter der Berücksichtigung aktueller Entwicklungstheorien sowie des ganzheitlichen, humanistischen Menschenbilds der Psychomotorik kann eine rein funktionale Perspektive nicht länger als einziges Begründungsmuster und Vorgehen in der Psychomotorik betrachtet werden.

1.2.2 Kompetenztheoretische, erkenntnisstrukturierende, selbstkonzeptorientierte Perspektive

Diese Perspektive, eingebracht durch Friedhelm Schilling, Gründungsprofessor des Motologiestudiengangs, stützt sich auf psychologische Theorien der Handlungsfähigkeit und lässt sich unter anderem auf die Entwicklungstheorie Jean Piagets zurückführen (Fischer 2009, 30). Grundgedanke ist, dass Wahrnehmung und Bewegung als Strukturierungsleistungen des Individuums gelten, die vom Individuum zu Mustern zusammenfügt werden.

Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster Diese Muster bilden dann die Basis der Handlungskompetenz. Je zahlreicher die erworbenen Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster (= Körper-, Sozial-, Materialerfahrung) und je sicherer ihre Beherrschung (= Körper-, Sozial-, Materialkompetenz), desto flexibler (im Sinne einer Automatisierung) können sie auf neue Umweltbedingungen angewendet werden (= Handlungskompetenz).

Störungen basieren auf einem unzureichenden Erwerb von Handlungsmustern, die sich in einem zweiten Schritt negativ auf Verhalten und Emotion auswirken können (Seewald 1993, 190).

Sekundärstörungshypothese Eine mangelnde Handlungskompetenz wirkt sich also negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aus (sog. Sekundärstörungshypothese).

Handlungskompetenz Ziel ist neben einer Verbesserung der Handlungsfähigkeit/Handlungskompetenz (durch den Erwerb flexibler Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster) die Stärkung des Selbstwertgefühls durch systematische Erfolgserlebnisse.

Stärkung des Selbstwertgefühls „Durch die Stärkung des Selbstwertgefühls soll das Kind indirekt in die Lage versetzt werden, seine Schwächen zu überwinden oder adäquater damit umzugehen“ (Seewald 1993, 191). Renate Zimmer (2012, 22f; 2014, 24) nennt als Ziele der selbstkonzeptorientierten Psychomotorik:

■ Förderung von Eigentätigkeit und selbstständigem Handeln

■ Erweiterung von Handlungskompetenz und Kommunikationsfähigkeit

■ Stärkung der Selbstwahrnehmung

■ Erfahren eigener Ressourcen, Kompetenz und Selbstwirksamkeit

■ Verbesserung motorischer Fähigkeiten

■ Stärkung des Selbstbewusstseins

Ansatzpunkte bilden dabei die Stärken und Vorlieben des Kindes. Die Förderung besteht in der Bereitstellung anregungs- und variantenreicher Bewegungs- und Wahrnehmungssituationen, die zum Problemlösen sowie zur Eigentätigkeit auffordern. Hierdurch sollen neue Muster angewendet und automatisiert werden können. Durch ein Mehr an Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern soll das Kind in seiner Handlungskompetenz gestärkt werden (= kompetenztheoretische Perspektive).

Als Vorteil ist die Abkehr vom Übungscharakter sowie von einer Symptom- und Defizitorientierung zu sehen.

nichtlineares Denkmodell Problem und Lösung liegen nicht länger auf einer Ebene, sodass ein nichtlineares Denkmodell vertreten wird, wenngleich das Problem monokausal auf ein Verursachungsschema zurückgeführt wird. KlientInnen werden als AkteurInnen der Förderung angesehen und ihre Bedürfnisse und Gefühle erhalten Raum. Dennoch sind folgende Nachteile auszumachen: Das Lebensumfeld der KlientInnen wird nicht explizit einbezogen und das Problem wird allein an den KlientInnen festgemacht. Auch die Beziehung zwischen KlientIn und psychomotorischer Fachkraft wird nicht ausreichend mitreflektiert.

positives Selbstkonzepts und Persönlichkeitsentwicklung In Weiterentwicklungen dieser Perspektive wird vor allem der Aufbau eines positiven Selbstkonzepts als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung betont (Krus 2015a, 22). „Inhaltlich geht es in dieser Perspektive um die Stärkung des Selbstkonzepts durch Selbstwirksamkeitserfahrungen in Problemlösesituationen durch Handeln“ (Fischer 2009, 31). Vertreterinnen dieser Perspektive sind beispielsweise Renate Zimmer („Kindzentrierte psychomotorische Entwicklungsförderung“) und Astrid Krus („Psychomotorische Entwicklungstherapie“).


Theorie und Praxis kompetenztheoretischer, selbstkonzeptorientierter Psychomotorik:

Krus, A. (2004): Mut zur Entwicklung: Das Konzept der psychomotorischen Entwicklungstherapie. hofmann, Schorndorf

Zimmer, R. (2012): Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Herder, Freiburg i. Br.

1.2.3 Sinnverstehende Perspektive

Bewegung als Bedeutungsphänomen In der verstehenden Perspektive wird Bewegung als Bedeutungsphänomen betrachtet, „in dem sich das Kind ausdrückt und mitteilt. Die Bewegungsgeschichte ist Teil der Lebensgeschichte des Kindes und zeigt dominierende Lebensthemen“ (Seewald 1993, 191). Die Bedeutung der kindlichen Bewegung wird somit in einem biografischen Kontext betrachtet.

konflikthafte Lebens- und Beziehungsthemen Grundgedanke ist, dass das (Bewegungs-)Verhalten Hinweise darauf bietet, dass bestimmte Lebens- und Beziehungsthemen konflikthaft und traumatisch besetzt sind und nicht adäquat verarbeitet werden konnten. Durch das gezeigte Symptom symbolisiert das Kind also eine Bedeutung, die es auf anderen Wegen nicht auszudrücken vermag.

„Verstehen und Verstanden werden sind zentrale menschliche Bedürfnisse, vielleicht die wichtigsten überhaupt. Sie stehen im Mittelpunkt des Verstehenden Ansatzes. Dabei wird Verstehen nicht nur sprachlich gesehen, Verstehen ergibt sich auch im gemeinsamen Handeln und im leiblichen Mitsein. Dies ist das eigentlich Neue des Verstehenden Ansatzes: das Verstehen auf die vor- und außersprachliche Sphäre der Kommunikation auszuweiten und es damit zur Sache der Psychomotorik zu machen“ (Seewald 2007, 9).

biografischer Zugang Ansatzpunkte bilden Szenen und Spiele des Kindes. Diese werden von psychomotorischen Fachkräften als sinngeleitete Ausdrucksformen in Hinblick auf frühere Lebensthemen entschlüsselt. Die psychomotorische Fachkraft unterbreitet dem Kind dann Materialien und Situationen, die in ihrem symbolischen Appell zu den entschlüsselten Lebensthemen passen. Ziel ist das Nacherleben und Verarbeiten von konflikthaften Erlebnissen. Das Tempo des Prozesses wird vom Kind gesteuert (Seewald 1993, 193). Eine Verbesserung der Motorik steht dabei zunächst nicht im Vordergrund. Störungen werden keinem Krankheitsbild zugeordnet.

Selbstmitteilung Sie werden als grundsätzlich sinnvolle Äußerung, als „Selbstmitteilung“ verstanden und sinnerschließend erfasst. Der wesentliche Vorteil dieser Sichtweise kann daher in der Vermeidung einer Pathologisierung des gezeigten Verhaltens bestehen, da das als Störung empfundene Verhalten in seinem subjektiven Sinn verstanden wird. Kritisch betrachtet werden muss, dass der Ansatz sich aber durchaus an einem medizinischen Gesundheitsbegriff orientiert, an den die Person durch Beseitigung ihrer Störungen wieder herangeführt werden soll. Die Rolle der psychomotorischen Fachkraft und der Störungsbegriff können daher auch kritisch gesehen werden, denn „auch der verstehende Ansatz mündet […] in eine individuumszentrierte therapeutische Verhaltensweise, mit dem Ziel, im besseren Wissen darüber, was das einzelne Kind braucht, die aufgespürten defizitären Aspekte frühkindlicher Beziehungen durch positive Erfahrungen nachholen, ausgleichen und somit die Störung beheben zu wollen“ (Balgo 1998, 4).

2 438,95 ₽
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410 стр. 67 иллюстраций
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9783846387177
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