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Der Ruhm

1910. Ein Automobil saust die Champs Elysées entlang, seinen eigenen späten Warnruf überrennend. Ein Schrei – und der Unbedachte, der gerade die Straße überquerte, liegt unter den Rädern. Blutend, mit gebrochenen Gliedern hebt man den Überfahrenen auf und rettet ihm mühsam den Rest des Lebens.

Nichts sagt so sehr das Geheimnisvolle im Ruhme Romain Rollands aus als der Gedanke, wie wenig noch damals sein Verlust für die literarische Welt bedeutet hätte. Eine kleine Notiz in den Zeitungen, daß der Musiklehrer an der Sorbonne, Professor Rolland, einem Unfall zum Opfer geworden sei. Vielleicht hätte auch einer oder der andere sich daran erinnert, daß ein Mann dieses Namens vor fünfzehn Jahren hoffnungsvolle Dramen und musikalische Schriften verfaßt habe und in ganz Paris, der Dreimillionenstadt, hätte kaum eine Handvoll Menschen von dem verlorenen Dichter gewußt. So mystisch unbekannt war Romain Rolland zwei Jahre vor seinem europäischen Ruhm, so namenlos noch zu einer Zeit, als das Werk, das ihn zum Führer unserer Generation gemacht, im wesentlichen geschaffen war: das Dutzend Dramen, die Biographien der Heroen und die ersten acht Bände des »Johann Christof«.

Wunderbar das Geheimnis des Ruhms, wunderbar seine ewige Vielfalt. Jeder Ruhm hat seine eigene Form, unabhängig vom Menschen, dem er zufällt, und doch ihm zugehörig als sein Schicksal. Es gibt einen weisen Ruhm und einen törichten, einen gerechten und einen ungerechten, einen kurzatmigen, leichtfertigen, der wie ein Feuerwerk verprasselt, einen langsamen, schwerblütigen, der erst zögernd dem Werke nachfolgt, und es gibt einen infernalischen, boshaften, der immer zu spät kommt und sich von Leichen nährt.

Zwischen Rolland und dem Ruhm ist ein geheimnisvolles Verhältnis. Von Jugend an lockt ihn die große Magie, und so sehr ist schon der Jüngling bezaubert von dem Gedanken jenes einzig wirklichen Ruhmes, der moralische Macht und sittliche Autorität bedeutet, daß er stolz und sicher die kleinen Gelegenheiten des Klüngels und der Kameraderie verschmäht. Er kennt das Geheimnis und die Gefahr, die menschliche Versuchung der Macht, er weiß, daß man durch Geschäftigkeit nur seinen kalten Schatten fängt, nie das feurig wärmende Licht. Keinen Schritt ist er ihm darum entgegengegangen, nie hat er die Hand nach ihm ausgestreckt, so nahe er ihm mehrmals im Leben schon war, ja, er hat den nahenden sogar eigenwillig zurückgestoßen durch das grimmige Pamphlet seiner »Foire sur la Place« , die ihm für immer die Gunst der Pariser Presse nahm. Was er von seinem Johann Christof sagt, gilt ganz seiner eigenen Leidenschaft: »Le succès n'était pas sonbut, son but était la foi« . »Nicht der Erfolg, der Glaube war sein Ziel.«

Und der Ruhm hebt diesen Menschen, der ihn von ferne liebt, ohne sich ihm anzudrängen, er zögert lang, denn er will das Werk nicht stören, will eine lange Scholle der Dunkelheit um den Keim lassen, daß er reife in Leiden und Geduld. In zwei andern Welten wachsen sie beide heran, das Werk und der Ruhm, und warten der Begegnung. Kristallinisch bildet sich eine kleine Gemeinde seit dem »Beethoven«, die still dann mit Johann Christof sein Leben entlang geht. Die Getreuen von den »Cahiers de la quinzaine« werben neue Freunde. Ohne Mithilfe der Presse, einzig durch die unsichtbare Wirkung der werbenden Sympathie wachsen die Auflagen, im Auslande erscheinen Übersetzungen. Der ausgezeichnete schweizer Schriftsteller Paul Seippel gibt endlich 1912 in umfassender Darstellung die erste Biographie. Lange hat Rolland schon Liebe um sich, ehe die Zeitungen seinen Namen drucken, und der Preis der Akademie für das vollendete Werk ist dann nur gleichsam der Fanfarenstoß, der die Armeen seiner Getreuen zur Heerschau sammelt. Mit einemmal bricht die Welle der Worte über ihn herein, knapp vor seinem fünfzigsten Jahr. 1912 ist er noch unbekannt, 1914 ein Weltruhm. Mit einem Schrei der Überraschung erkennt eine Generation ihren Führer.

Es ist mystischer Sinn in diesem Ruhm Romain Rollands, wie in jedem Geschehnis seines Lebens. Er kommt spät zu dem Vergessenen, den er in bitteren Jahren der Sorge und materiellen Not allein gelassen. Aber er kommt noch zur rechten Stunde, er kommt vor dem Krieg. Wie ein Schwert gibt er sich ihm in die Hand. In entscheidendem Augenblick schenkt er ihm Macht und Stimme, damit er für Europa spreche, er hebt ihn hoch, damit er sichtbar sei im Getümmel. Er kommt rechtzeitig, dieser Ruhm, denn er kommt, als durch Leiden und Wissen Romain Rolland reif ist zu seinem höchsten Sinne, zu europäischer Verantwortlichkeit und die Welt des Mutigen bedarf, der gegen sie selbst ihre ewige Sendung, die Brüderlichkeit, verkünde.

Ausklang in die Zeit

So erhebt sich dieses Leben aus dem Dunkel in die Zeit: still bewegt, aber immer von den stärksten Kräften, scheinbar abseitig, aber wie kein anderes mit dem unheilvoll wachsenden Schicksal Europas verbunden. Von seiner Erfüllung aus gesehen, ist alles Hemmende, die vielen Jahre des unbekannten, des vergeblichen Ringens, notwendig darin, jede Begegnung symbolisch: wie ein Kunstwerk baut es sich auf in einer weisen Ordnung von Wille und Zufall. Und es hieße klein vom Schicksal denken, betrachtete man es bloß als Spiel, daß dieser Unbekannte gerade in den Jahren zu einer öffentlichen moralischen Macht geworden war, da wie nie ein Anwalt des geistigen Rechtes uns allen vonnöten war.

Mit diesem Jahre 1914 verlischt die private Existenz Romain Rollands: sein Leben gehört nicht mehr ihm, sondern der Welt, seine Biographie wird Zeitgeschichte, sie läßt sich nicht mehr ablösen von seiner öffentlichen Tat. Aus seiner Werkstatt ist der Einsame zum Werk in die Welt geschleudert: er, den bisher niemand gekannt hat, lebt bei offenen Türen und Fenstern, jeder Aufsatz, jeder Brief wird Manifest, wie ein heroisches Schauspiel baut seine persönliche Existenz sich auf. Von der Stunde ab, da seine teuerste Idee, die Einheit Europas, sich selbst zu vernichten droht, tritt er aus der Stille seiner Verborgenheit ins Licht, er wird Element der Zeit, unpersönliche Gewalt, ein Kapitel in der Geschichte des europäischen Geistes: und so wenig man Tolstois Leben trennen darf von seiner agitatorischen Tat, so wenig kann man hier den wirkenden Menschen von seiner Wirkung abzugrenzen versuchen. Seit 1914 ist Romain Rolland ganz eines mit seiner Idee und ihrem Kampf. Er ist nicht mehr Schriftsteller, Dichter, Künstler, nicht mehr Eigenwesen. Er ist die Stimme Europas in seiner tiefsten Qual. Er ist das Gewissen der Welt.

Dramatisches Beginnen

»Sein Ziel war nicht der Erfolg, sein

Ziel war der Glaube.«

Rolland, Johann Christof, Viertes Buch: Empörung

Das Werk und die Zeit

Man kann das Werk Romain Rollands nicht verstehen ohne die Zeit, aus der es geboren ist. Denn hier wächst eine Leidenschaft aus der Müdigkeit eines ganzen Landes, ein Glaube aus der Enttäuschung eines gedemütigten Volkes. Der Schatten von 1870 liegt über der Jugend dieses Dichters, und es bedeutet Sinn und Größe seines ganzen Werkes, daß es von dem einen Kriege zu dem andern eine Brücke des Geistes spannt. Bewölktem Himmel, blutiger Erde ist es entrungen und greift hinüber in den neuen Kampf und den neuen Geist.

Aus Dunkelheit wächst es auf. Denn ein Land, das einen Krieg verlor, ist wie ein Mensch, der seinen Gott verloren hat. Fanatische Ekstase bricht plötzlich hin in sinnlose Erschöpfung, ein Brand, der in Millionen lohte, stürzt ein in Asche und Schlacke. Es ist eine plötzliche Entwertung aller Werte: die Begeisterung ist sinnlos geworden, der Tod zwecklos, die Taten, die noch gestern als heldisch galten, eine Narrheit, das Vertrauen eine Enttäuschung, der Glaube an sich selbst ein armer Wahn. Alle Kraft zur Gemeinsamkeit sinkt hin, jeder steht für sich allein, wirft Schuld von sich ab und dem Nächsten zu, denkt bloß an Gewinn, an Nutzen und Vorteil, und eine unendliche Müdigkeit löst den hochgespannten Aufschwung ab. Es gibt nichts, was die moralische Kraft der Masse so sehr vernichtet, wie eine Niederlage, nichts was zunächst dermaßen die ganze geistige Haltung eines Volkes entwürdigt und schwächt.

So ist dies Frankreich nach 1870 ein seelisch-müdes, ein führerloses Land. Seine besten Dichter können ihm nicht helfen, sie taumeln einige Zeit hin wie betäubt vom Keulenschlag des Geschehens, dann raffen sie sich auf und schreiten den alten Weg weiter in die Literatur hinein, verkriechen sich noch tiefer in das Abseits vom Schicksal ihrer Nation. Die Vierzigjährigen vermag auch eine nationale Katastrophe nicht zu verwandeln: Zola, Flaubert, Anatole France, Maupassant, sie brauchen ihre ganze Kraft, um sich selbst aufrecht zu erhalten. Aber sie können nicht ihre Nation stützen, sie sind skeptisch geworden im Erlebnis, sie sind nicht mehr gläubig genug, um ihrem Volk einen neuen Glauben zu geben.

Die jungen Dichter aber, die Zwanzigjährigen, sie, die nicht mehr die Katastrophe selbst wissend erlebt haben, die nicht den wirklichen Kampf, sondern nur sein geistiges Leichenfeld gesehen, die verwüstete, zerstörte Seele ihres Volkes, sie können sich nicht abfinden mit dieser Müdigkeit. Eine wirkliche Jugend kann nicht leben ohne einen Glauben, kann nicht atmen in der moralischen Dumpfheit einer hoffnungslosen Welt. Leben und Schaffen bedeutet für sie Vertrauen entzünden, jenes mystisch brennende Vertrauen, das unzerstörbar aus jeder neuen Jugend, jeder aufsteigenden Generation glüht, und käme sie vorbei an den Gräbern ihrer Väter. Dieser Generation wird die Niederlage ein Urerlebnis, das brennendste Existenzproblem ihrer Kunst. Denn sie fühlen, daß sie nichts sind, wenn sie nicht vermögen, dieses Frankreich, das mit aufgerissener Flanke blutend aus dem Kampf wankt, wieder zu stützen, wenn sie nicht die Mission erfüllen, diesem skeptischen resignierten Volke eine neue Gläubigkeit zu geben. Ihr unverbrauchtes Gefühl sieht hier eine Aufgabe, ihre Leidenschaft ein Ziel. Es ist kein Zufall, daß immer in den geschlagenen Völkern bei den Besten ein neuer Idealismus sich aufringt, daß die Jugend solcher Völker nur ein Ziel kennt für ihr ganzes Leben: ihrer Nation eine Tröstung zu geben, ihr die Niederlage wegzunehmen.

Wie aber ein besiegtes Volk trösten, wie ihm die Niederlage von der Seele nehmen? Der Dichter muß eine Dialektik der Niederlage schaffen, irgend einen Ausweg finden für den Geist aus seiner Müdigkeit, einen Wahn oder sogar eine Lüge. Zweifach ist die Tröstung dieser jungen Dichter. Die einen deuten auf die Zukunft hin und sagen, Haß zwischen den Zähnen: »Diesmal sind wir besiegt worden, das nächste Mal werden wir siegen.« Das ist das Argument der Nationalisten, und es ist kein Zufall, daß ihre Führer, Maurice Barrès, Paul Claudel, Peguy, Altersgenossen Romain Rollands gewesen sind. Dreißig Jahre haben sie den beleidigten Stolz der französischen Nation heiß gehämmert mit Worten und Versen, bis er eine Waffe wurde, um den verhaßten Feind in das Herz zu treffen. Dreißig Jahre haben sie an nichts erinnert als an die Niederlage und den zukünftigen Sieg, immer wieder die alte Wunde, wenn sie vernarben wollte, aufgerissen, immer wieder die Jugend, wenn sie sich versöhnen wollte, aufgerüttelt mit der fanatischen Mahnung. Von Hand zu Hand haben sie diese unerbittliche Fackel der Revanche weitergereicht, immer bereit, sie in das Pulverfaß Europas zu schleudern.

Der andere Idealismus aber, der stillere und lange unbekannte, der Rollands, sucht anderen Glauben und anderen Trost für die Niederlage zu geben. Er deutet nicht auf die Zukunft hin, sondern hinaus in die Ewigkeit. Er verheißt keinen neuen Sieg, er entwertet nur die Niederlage. Für diese Dichter, die Schüler Tolstois sind, ist die Macht kein Argument für den Geist, der äußere Erfolg kein Wertmaß für die Seele. Für sie siegt der Einzelne nicht, wenn seine Generäle auch hundert Provinzen erobern, und er wird nicht besiegt, wenn die Armee auch tausend Kanonen verliert: der Einzelne siegt immer nur, wenn er frei ist von jedem Wahn und jeder Ungerechtigkeit seines Volkes. Immer versuchen diese Einsamen Frankreich zu bewegen, seine Niederlage zwar nicht zu vergessen, aber sie zu verwandeln in eine moralische Größe, den geistigen Wert zu erkennen, die geistige Saat, die eben auf den blutigen Schlachtfeldern gewachsen ist. »Gesegnet sei die Niederlage,« ruft Olivier im »Johann Christof«, der Wortführer jener französischen Jugend, seinem deutschen Freunde entgegen, »gesegnet der Zusammenbruch. Wir werden ihn nicht verleugnen, wir sind seine Kinder. In der Niederlage, mein lieber Christof, habt ihr uns wieder zusammengeschmiedet. Das Gute, das ihr uns ohne zu wollen zugefügt habt, ist größer als das Böse. Ihr habt unseren Idealismus entflammt, die Glut unserer Wissenschaft und unseres Glaubens neu belebt. Euch schulden wir das Wiedererwachen unseres Rassegewissens. Stelle dir die kleinen Franzosen vor, wie sie in Trauerhäusern, im Schatten der Niederlage geboren wurden, ernährt mit jenen trüben Gedanken, erzogen für eine blutige, unvermeidliche und vielleicht nutzlose Rache, denn das erste, was ihnen, so klein sie noch waren, immer zum Bewußtsein gebracht wurde, war: es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt, die Übermacht zermalmt das Recht. Solche Offenbarungen drücken die Seele eines Kindes für immer zu Boden oder reißen sie zur Größe empor.« Und er sagt dann weiter: »Die Niederlage verwandelt die Elite eines Volkes, alles Reine und Starke stellt sie abseits, macht sie reiner, stärker, noch stärker, aber sie drängt die anderen schneller dem Untergang entgegen. Dadurch trennt sie den großen Haufen des Volkes von der Elite, die ihren Weg weiter fortsetzt.«

In dieser Elite, die Frankreich mit der Welt versöhnt, sieht Rolland die zukünftige Aufgabe seiner Nation, und im letzten sind die dreißig Jahre seines Werkes nichts anderes als ein einziger Versuch, einen neuen Krieg zu verhindern, um nicht nochmals den entsetzlichen Zwiespalt von Sieg und Niederlage zu erneuern. Kein Volk soll in seinem Sinne mehr siegen durch Gewalt, sondern alle durch Einheit, durch die Idee der Brüderlichkeit Europas.

So strömen aus gleichem Ursprung, aus der dunklen Quelle der Niederlage zwei verschiedene Wellen des Idealismus dem französischen Volke zu. Ein unsichtbarer Kampf um die Seele der neuen Generation formt sich in Wort und Buch. Die Wirklichkeit hat für Maurice Barrès entschieden. Das Jahr 1914 hat die Ideen Romain Rollands besiegt. Die Niederlage ist nicht nur das Erlebnis seiner Jugend, sie ist auch der tragische Sinn seiner Mannesjahre geworden. Aber von je war es seine Kraft, aus den Niederlagen die stärksten Werke zu schaffen, aus Resignationen neue Erhebungen, aus Enttäuschungen leidenschaftliche Gläubigkeit.

Wille zur Größe

Früh weiß er schon um sein Amt. Der Held eines seiner ersten Werke, der Girondist Hugot im »Triomphe de la Raison« , verrät seinen glühendsten Glauben im begeisterten Ausruf »Unsere erste Pflicht ist: groß sein und die Größe auf Erden verteidigen«.

Dieser Wille zur Größe ist im Geheimnis jeder eigenen Größe. Was Romain Rolland, den Beginner von damals und den Kämpfer jener dreißig Jahre, von den andern unterscheidet, ist, daß er in der Kunst nie etwas Einzelnes, etwas Literarisches oder Gelegentliches schafft. Immer ist seine Anstrengung auf das höchste moralische Maß gerichtet, immer auf ewige Formen, immer empor zum Monumentalen: das Fresko, das Gesamtbild, die epische Umfassung ist sein Ziel; die größten Vorbilder sind sein Beispiel, die großen Helden der Jahrhunderte, nicht die literarischen Kollegen. Gewaltsam reißt er den Blick von Paris, von der zeitgenössischen (ihm zu geringen) Bewegung weg; Tolstoi, der einzig Schaffende im Sinne jener Großen, wird ihm Lehrer und Meister. Shakespeares Königsdramen, Tolstois »Krieg und Frieden«, Goethes Universalität, Balzacs Fülle, Wagners promethidischer Kunstwille, dieser heroischen Welt fühlt sich seine schaffende Sehnsucht trotz aller Demut näher verwandt, als der auf das Tägliche des Erfolges gerichteten Bemühung seiner Zeitgenossen.

Er durchforscht ihr Leben, um Mut zu finden an ihrem Mute, er studiert ihre Werke, um die seinen an ihrem Maß zu erheben über das bloß Tägliche, das nur Relative. Fast religiös wird sein Fanatismus für das Absolute: er denkt – ohne sich ihnen zu vergleichen – immer an die Unerreichbaren, an die aus der Ewigkeit in unseren Tag niedergestürzten Meteore; er träumt von einer Sixtina, von Symphonien, von den Königsdramen, von »Krieg und Frieden«, nicht von einer neuen »Madame Bovary« oder von Novellen Maupassants. Das Zeitlose ist seine wahre Welt, das Gestirn, zu dem sein schaffender Wille demütig und doch leidenschaftlich aufsieht. Nur Victor Hugo und Balzac von den neueren Franzosen haben diese heilige Anspannung zum Monumentalen gehabt: von den Deutschen keiner seit Richard Wagner, von den Engländern keiner seit Byron.

Solchen Willen zum Außerordentlichen kann Begabung und Fleiß allein nicht verwirklichen: immer muß irgend eine moralische Kraft der Hebel sein, um einen geistigen Kosmos aus den Angeln zu heben. Und diese moralische Kraft Rollands ist ein in der ganzen neueren Literatur unvergleichlicher Mut. Was seine Stellung im Kriege erst sichtbar der Welt offenbart hat, den einsamen Heroismus, sich mit seiner Gesinnung einer ganzen Zeit allein entgegenzustellen, das hatte im Unsichtbaren seine anonyme Leistung schon ein Vierteljahrhundert vorher den Wissenden bekundet. Man wird nicht plötzlich ein Held aus einer gemächlichen und konzilianten Natur: Mut will wie jede seelische Kraft in Prüfungen gestählt und gefestigt sein. Und von der ganzen neuen Generation war Rolland längst der Mutigste durch seine Bemühung um das Gewaltige. Er träumt nicht nur wie Schüler von Iliaden und Pentalogien: er schafft sie auch einsam, mit der Kühnheit vergangener Jahrhunderte, in unsere hastige Welt hinein. Noch spielt kein Theater seine Stücke, noch druckt kein Verleger seine Bücher, und dennoch beginnt er einen Dramenzyklus, so umfangreich wie die Tragödien Shakespeares. Noch hat er kein Publikum, keinen Namen und beginnt das Monstrum eines Romans, eine zehnbändige Lebensgeschichte, und wählt als Helden inmitten einer nationalistischen Epoche gerade einen Deutschen. Er verdirbt es sich von vornherein mit den Theatern, indem er sie in einem Manifest »Le théatre du peuple« der Banalität, der Geschäftlichkeit beschuldigt, er verdirbt es sich bewußt mit der Kritik, indem er in der »Foire sur la place« das Jahrmarktstreiben des Pariser Journalismus, der französischen Kunstmache mit einer Schärfe anprangert, wie sie seit den »Illusions perdues« des damals schon weltberühmten Balzac kein Autor jenseits des Rheins gewagt hatte. Ohne in seiner äußeren Existenz gesichert zu sein, ohne mächtige Gefährten, ohne Zeitschrift, ohne Verleger, ohne Theater will er den Geist der Generation reformieren, einzig durch den Willen und die Tat. Er schafft statt zu nahem Ziel immer ins Zukünftige hinein mit jener religiösen Macht des Glaubens an das Große, wie die Baumeister des Mittelalters nur zu Gottes Ehre ihre Kathedralen über die eitlen Städte bauten, ohne zu rechnen, ob die Vollendung ihr eigenes Leben nicht überwachsen würde. Dieser Mut, der wieder Kraft trinkt aus dem religiösen Element seiner Natur, ist sein einziger Helfer. Und das Wort Wilhelms von Oranien, das vor »Aërt«, einem seiner ersten Werke steht, »Ich bedarf des Beifalls nicht, um zu hoffen, und nicht des Erfolges, um auszuharren«, ist das wahre Leitwort seines Lebens.

Die Schaffenskreise

Dieser Wille zur Größe prägt sich unwillkürlich in den Formen aus: nie oder fast nie in seinem Werke versucht sich Rolland an etwas Einzelnem, Isoliertem, Abgelöstem, nie an Episoden des Herzens oder der Geschichte. Seine schöpferische Phantasie locken nur die elementaren Erscheinungen, die großen »courants de foi« , die Ströme des Glaubens, wo plötzlich eine Idee mit mystischer Gewalt die Millionen Einzelner zusammenschließt, wo ein Land, eine Zeit, eine Generation sich wie ein Feuerbrand entfachen. An den großen Fanalen der Menschheit – ob sie nun geniale Naturen seien oder geniale Epochen, Beethoven oder die Renaissance, Tolstoi oder die Revolution, Michelangelo oder die Kreuzzüge – entzündet er seine dichterische Flamme. Um aber solche weitverbreitete tief im Dämonischen wurzelnde, doch ganze Zeiträume überschattende Phänomene künstlerisch zu bewältigen, bedarf es mehr als jugendlichen Ansprunges und kurzatmiger Gymnasiastenleidenschaft: soll ein solcher geistiger Zustand wahrhaft bildhaft werden, so bedarf er breiter Formen; Kulturgeschichte beseelter und heroisch bewegter Epochen läßt sich nicht in flüchtigen Skizzen zeichnen, sie bedarf einer sorgfältigen Untermalung und vor allem monumentaler Architektur: weite Räume für die Fülle der Erscheinungen und gleichsam aufgestufte Terrassen für die geistige Überschau.

Darum braucht Rolland in allen seinen Werken so viel Raum; denn er will jeder Zeit (wie jedem einzelnen) gerecht sein. Nie ein Segment, einen bloß zufälligen Ausschnitt geben, sondern immer den ganzen Kreis des Geschehens. Nicht Episoden aus der Revolution, sondern die ganze französische Revolution, nicht die Lebensgeschichte eines modernen Musikers Johann Christof Krafft, sondern die Geschichte unserer europäischen Generation. Er will nicht nur die Zentralkraft einer Epoche darstellen, sondern immer auch ihre hundertfachen Gegenkräfte, nicht nur den Stoß, sondern auch den Widerstand; und er will gegen einen jeden gerecht sein. Breite ist für Rolland mehr eine moralische Notwendigkeit als eine künstlerische: in der Leidenschaft gerecht zu sein, jeder Idee ihren Sprecher im Parlament seines Werkes zu geben, muß er vielstimmige Chorwerke schreiben. Um die Revolution darzustellen in allen ihren Formen, in Aufstieg, Trübung, Politisierung, Abstieg und Sturz, plant er einen Zyklus von zehn Dramen; für die Renaissance fast ebensoviel; für den Johann Christof dreitausend Seiten; denn ihm, dem Gerechten, ist die Zwischenform, die Spielart ebenso wichtig im Sinne der reinen Wahrheit als der markante Typus. Er kennt die Gefahr der Typisierung: was wäre uns der Johann Christof, stünde ihm nur der eine Olivier als Franzose entgegen, wären nicht im Guten und Bösen in zahllosen Variationen immer die Nebenfiguren um die symbolische Dominante gruppiert? Der wahrhaft Objektive muß viele Zeugen vor die Schranken rufen, um ein gerechtes Urteil zu geben, er braucht die ganze Fülle der Tatsachen. Darum – und nur aus diesem moralischen Gefühl der Gerechtigkeit gegen das Große – braucht Rolland die breiten Formen, und es ist selbstverständlich, daß der Kreis, der alles umschließt, der Zyklus die seinem Schaffen wesentlichste Form ist. Jedes einzelne Werk in diesen Zyklen, so abgeschlossen es anmutet, ist doch nur immer Segment, das seinen tiefsten Sinn erst durch die Beziehung auf den Mittelpunkt hat, den moralischen Schwerpunkt der Gerechtigkeit, für die alle Ideen, Taten und Worte gleich nah und fern dem Zentrum des Allmenschlichen sind. Der Kreis, der Zyklus, der alle Fülle restlos umschließt, harmonisch die Gegensätze bändigt, dies Symbol sinnvoller Gerechtigkeit, ist Rollands, des ewigen Musikers, liebste und fast einzige Form.

Fünf solcher Schaffenskreise umfängt während dreißig Jahren das Werk Romain Rollands. Nicht immer vollendet er diese allzuweit gespannten Kreise. Der erste Schaffenskreis, ein Zyklus von Dramen, der in shakespearischem Geiste die Renaissance als eine Gesamtheit, in der Art Gobineaus, bezwingen wollte, fällt zerstückt aus den jugendlichen Händen: selbst die einzelnen Dramen hat Rolland als unfertig verworfen. Der zweite Zyklus sind die »Tragédies de la Foi« , der dritte das »Théatre de la Revolution« , beide unvollendet; aber schon hier sind die Fragmente von ehernem Guß. Der vierte Zyklus, die »Vie des hommes illustres« , ein Biographienkreis wie ein Fries um den Tempel des unsichtbaren Gottes geplant, bleibt gleichfalls Stückwerk. Erst die zehn Bände des »Johann Christof« runden ganz den Erdkreis einer Generation, Größe und Gerechtigkeit in erträumter Harmonie vereinend.

Über diesen fünf Schaffenskreisen aber schwebt noch unsichtbar ein anderer, Späteren erst in Anfang und Ende, Ursprung und Wiederkehr deutlich erkennbar: die harmonische Bindung einer vielfältigen Existenz zu erhobenem universellen Lebenskreis im Sinne Goethes, wo gleichfalls Leben und Dichtung, Wort und Brief, Zeugnis und Tat selbst Kunstwerk werden. Doch dieser Kreis ist noch schwingend und glühend in Gestaltung und Entfaltung, und noch fühlen wir seine Lebenswärme wirkend in unserer irdischen Welt.

Der unbekannte Dramenkreis (1890-1895)

Der Zwanzigjährige, zum erstenmal den Mauern des Pariser Seminars entronnen, vom Genius der Musik und der hinreißenden Dramatik Shakespeares befeuert, fühlt in Italien zum erstenmal die Welt als Freiheit, als lebendige Materie, die den Gestalter ruft. Aus Dokumenten und Schemen hat er Geschichte gelernt: nun blickt sie ihn an mit lebendigen Augen aus den Statuen und Gestalten, wie eine Bühne rücken die italienischen Städte, die Jahrhunderte zusammen vor dem leidenschaftlichen Blick. Nur das Wort fehlt ihnen noch, diesen erhabenen Erinnerungen, und schon wäre Geschichte Dichtung, Vergangenheit eine gestaltete Tragödie. Wie heilige Trunkenheit überflügeln ihn diese ersten Stunden; als Dichter, nicht als Historiker erlebt er das heilige Rom, das ewige Florenz.

Hier ist – so fühlt seine junge Begeisterung – die Größe, nach der er sich dumpf gesehnt hat, oder hier ist sie gewesen, in den Tagen der Renaissance, da diese Dome zwischen den blutigsten Schlachten wuchsen, da Michelangelo, Raphael die Wände eines Vatikans schmückten, dessen Päpste nicht minder gewaltig waren als ihre Meister, da aus jahrhundertalter Verschüttung mit den antiken Statuen auch der heroische Geist des Griechentums in einem neuen Europa aufstand. Beschwörend ruft der Wille die trotzigen übermenschlichen Gestalten vor den Blick: und plötzlich ist wieder der alte Freund seiner Jugend in ihm wach, Shakespeare. Eine Reihe von Vorstellungen Emesto Rossis zeigt ihm auf der Bühne gleichsam zum erstenmal seine dramatische Gewalt; nicht wie in der engen Dachstube zu Clamecy lockt ihn nun schwärmerische Neigung zu den märchenhaft milden Frauengestalten, sondern die dämonische Wildheit der starken Naturen, die durchbohrende Wahrheit der Menschenerkenntnis, der gewitterhafte Tumult der Seele. Er erlebt Shakespeare so neu, so innerlich (man kennt ja in Frankreich Shakespeare kaum vom Theater und nur kärglich durch die Prosaübersetzungen), wie ihn hundert Jahre vorher der fast gleichaltrige Goethe erlebt, als er trunken seinen Hymnus zum Shakespearetag schreibt. Und diese Begeisterung verwandelt sich stürmisch zu gestaltendem Drang: in einem Zuge schreibt der Befreite eine Reihe von Dramen aus der klassischen Vergangenheit, schreibt sie, wie einst die Deutschen des Sturm und Drangs ihre kraftgenialischen Entwürfe.

Es ist eine ganze Reihe von Dramen, die der Begeisterte damals vulkanisch aus sich schleudert, und die zuerst durch den Widerstand der Zeit, später dann durch die eigene kritische Erkenntnis unveröffentlicht geblieben sind. »Orsino« (1890 zu Rom geschrieben) heißt das erste; bald folgt ihm in der halkyonischen Landschaft Siziliens ein »Empedocles« , unbeeinflußt von dem grandiosen Entwurf Hölderlins, von dem Rolland erst durch Malvida von Meysenbug erfährt, dann »Gli Baglioni« (beide 1891). Die Rückkehr nach Paris bedeutet keine Unterbrechung, die angefachte dramatische Flamme lodert weiter in einem »Caligula« und einer »Niobe« (1892), von der Hochzeitsreise nach dem geliebten Italien bringt er 1893 ein neues Renaissance-Drama »Le Siège de Mantoue« zurück, das einzige, das er noch heute anerkennt, von dem ihm aber verhängnisvollerweise das Manuskript durch einen abenteuerlichen Zufall abhanden gekommen ist. Dann erst wendet sich die Neigung heimatlichen Stoffen zu, er schafft die »Tragédies de la Foi« , den »Saint Louis« (1893), eine »Jeanne de Pierne« (1894), die gleichfalls nie erschienen ist, den »Aërt« (1895), mit dem er zum erstenmal die Bühne erreicht, und dann, in rascher Folge die vier aufgeführten Dramen des »Théatre de la Révolution« (1896-1902), die »Montespan« (1900) und »Les trois Amoureuses« (1900).

Vor seinem eigentlichen Werke steht also schon eine fast anonyme Leistung von zwölf Dramen, so umfangreich wie die ganze dramatische Produktion eines Schiller, Kleist oder Hebbel, Dramen, von denen wiederum keines der ersten acht zunächst nur die ephemere Form einer Aufführung oder Drucklegung erreicht. Bloß Malvida von Meysenbug, die Vertraute und Wissende, bezeugt öffentlich im »Lebensabend einer Idealistin« ihren künstlerischen Wert, sonst klingt nicht ein Wort in die lebendige Welt.

Ein einziges von ihnen allen ist einmal an klassischer Stelle vom ersten Schauspieler Frankreichs gelesen worden, aber die Erinnerung ist eine schmerzliche. Gabriel Monod, längst aus dem Lehrer ein Freund Rollands geworden, hatte, durch den Enthusiasmus Malvida von Meysenbugs aufmerksam gemacht, drei Stücke Rollands dem großen Mounet-Sully übergeben, der für sie eine wunderbare Leidenschaft entfaltet. Er reicht sie der Comédie Française ein, kämpft im Lesekomitee verzweifelt für den Unbekannten, dessen Bedeutung er, der Komödiant, stärker fühlt als die Literaten. Aber der »Orsino« , die »Baglioni« werden mitleidslos verworfen, einzig die »Niobe« gelangt zur Vorlesung im »Comité des Lectures« . Die Stunde wird ein dramatischer Augenblick im Leben Rollands: zum ersten Male ist er dem Ruhm ganz nahe. Mounet-Sully liest selbst mit seiner sonoren Meisterschaft das Werk des Unbekannten vor, Rolland darf anwesend sein. Zwei Stunden und dann zwei Minuten halten sein Schicksal. Aber noch will das Schicksal nicht seinen Namen der Welt geben: das Werk wird verworfen und sinkt ins Namenlose zurück. Nicht einmal die kleine Gnade des Druckes wird ihm zuteil, und von dem Dutzend dramatischer Werke, das der nicht zu Entmutigende im nächsten Jahrzehnt schafft, überschreitet nicht ein einziges die dem Jüngling schon halb zugänglich gemachte Schwelle der Nationalbühne.

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