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Читать книгу: «Brasilien», страница 3

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Ein besonderes Glück in dieser glücklichen Begegnung einer gewaltigen Aufgabe und einer noch gewaltigeren Energie, die sich anschickt, sie zu bewältigen, ist die Gegenwart eines wirklichen Führers. Manuel da Nóbrega, dem der Auftrag seines Provinzials, nach Brasilien zu reisen, derart rasch zufällt, daß er nicht einmal Zeit mehr hat, von dem Meister des Ordens, Ignacio de Loyola, in Rom persönliche Instruktionen zu empfangen, steht in der Fülle seiner Kraft. Er ist zweiunddreißig Jahre alt und hat auf der Universität Coimbra studiert, ehe er in den Orden eingetreten ist; aber nicht seine besondere theologische Gelehrsamkeit gibt ihm die historische Größe, sondern seine ungeheure Energie und seine sittliche Kraft. Nóbrega – schon durch einen Sprachfehler gehemmt – ist nicht wie Vieira ein großer Prediger, nicht wie Anchieta ein großer Schriftsteller. Er ist im Geiste Loyolas vor allem Kämpfer. Bei den Expeditionen zur Befreiung Rio de Janeiros ist er die antreibende Kraft der Armee und der strategische Berater des Gouverneurs, in der Verwaltung bewährt er die idealen Fähigkeiten eines genialen Organisators, und die Klarsichtigkeit, die man aus seinen Briefen spürt, paart sich mit einer heroischen Energie, die keine Selbstaufopferung scheut. Rechnet man nur die Reisen zusammen, die er in jenen Jahren vom Norden zum Süden und wieder zum Norden und quer durch das Land unternommen, so ergeben schon diese Inspektionsfahrten hunderte und vielleicht tausende Nächte voll Sorge und Gefahr. In all diesen Jahren ist er Gouverneur neben dem Gouverneur, Lehrer über und neben den Lehrern, Städtegründer und Friedensstifter, und so gibt es kein wichtiges Geschehnis in der damaligen Geschichte Brasiliens, das nicht mit seinem Namen verbunden wäre. Die Wiedergewinnung des Hafens von Rio de Janeiro, die Gründung von São Paulo und Santos, die Befriedung der feindlichen Stämme und die Errichtung der collégios, die Organisation des Unterrichts, die Errettung der Einheimischen vor der Sklaverei sind in erster Linie seine Tat. Überall war er im Beginn; mögen die Namen seiner Schüler und Nachfahren Anchieta und Vieira im Lande späterhin populärer geworden sein als der seine, so sind sie doch nur Fortentwickler seiner Idee gewesen. Wo sie bauten, fanden sie schon das Fundament. In der Geschichte Brasiliens, dieser obra sem exemplo na História, war es Nóbregas Hand, die das erste Blatt beschrieb, und jeder Zug dieser energischen und festen Hand ist unauslöschlich geblieben bis in die Gegenwart.

Die ersten Tage nach der Ankunft widmen die Jesuiten der Rekognoszierung der Situation. Ehe sie lehren, wollen sie lernen, und sofort macht einer der Brüder sich ans Werk, um möglichst schnell die Sprache der Eingeborenen zu meistern. Daß die Eingeborenen sich noch auf dem tiefsten Tiefstand der nomadischen Epoche befinden, zeigt schon der erste Blick. Sie gehen völlig nackt, kennen keine Arbeit, haben weder Schmuck noch das primitivste Gerät. Was sie zum Leben brauchen, holen sie von den Bäumen oder aus den Flüssen, sobald eine Gegend abgegrast ist, ziehen sie weiter. An sich eine gutmütige und sanfte Rasse, führen sie Krieg untereinander nur, um Gefangene zu machen, die sie dann unter großen Festlichkeiten verzehren. Aber auch dieser kannibalische Brauch stammt nicht aus einer besonderen Grausamkeit ihrer Natur; im Gegenteil, diese Barbaren geben dem Gefangenen noch ihre Tochter zur Frau und hegen und pflegen ihn, ehe sie ihn schlachten. Wenn die Priester versuchen, sie des Kannibalismus zu entwöhnen, so stoßen sie mehr auf verwundertes Erstaunen als auf wirklichen Widerstand, denn diese Wilden leben noch völlig jenseits jeder kulturellen oder moralischen Erkenntnis, und Gefangene zu verzehren bedeutet für sie nichts als ein ebenso festlich unschuldiges Vergnügen wie Trinken, Tanzen oder mit Frauen Schlafen.

Dieser ungeheure Tiefstand der Lebenshaltung scheint zunächst eine unüberwindliche Hemmung für das Werk der Jesuiten, in Wirklichkeit aber erleichtert er ihnen ihre Aufgabe. Denn da diese nackten Wesen überhaupt keine religiösen oder sittlichen Vorstellungen besitzen, ist es viel leichter, ihnen welche beizubringen als Völkern, bei denen ein eigener Kult schon vorwaltet und wo Zauberer, Priester und Schamanen dem Missionar mit Erbitterung entgegentreten. Die brasilianische Urbevölkerung dagegen ist ein »unbeschriebenes Blatt«, ein papel em branco, wie Nóbrega sagt, das weich und gefügig die neue Vorschrift aufnimmt und jeder Belehrung vollen Raum läßt. Überall empfangen die Eingeborenen die brancos, die Priester ohne jedes Mißtrauen: Onde quer que vamos, somos recebidos com grande boa vontade. Sie lassen sich ohne Zögern taufen und folgen – warum auch nicht? – den Priestern, den »guten Weißen«, die sie vor den andern, den »wilden Weißen« schützen, willig und dankbar in die Kirche. Selbstverständlich wissen die Jesuiten als gelernte und immer wache Realisten, daß diese träge, gedankenlose Zustimmung, das Niederknien und Kreuzeschlagen von Kannibalen noch lange kein wirkliches Christentum ist – selbst bei dem berühmten Verteidiger ihrer Mission in São Paulo bei Tibiriçá erleben sie gelegentliche Rückfälle in den Kannibalismus – und sie vergeuden nicht ihre Zeit mit prahlerischen Statistiken über die schon gewonnenen Seelen. Sie wissen, daß ihre eigentliche Aufgabe in der Zukunft liegt. Zunächst einmal nur die nomadische Masse an stabilen Stätten anwurzeln lassen, damit man ihre Kinder erfassen und belehren kann. Das gegenwärtige kannibalische Geschlecht ist nicht mehr ernstlich zu kultivieren. Aber ihre Kinder und Kindeskinder, also die kommenden Generationen, im Sinne der Kultur auszubilden, kann leicht gelingen. Darum ist es den Jesuiten das Wichtigste, Schulen einzurichten, in denen sie, weit vorausblickend, mit jener Idee systematischer Vermischung beginnen, die Brasilien zur Einheit geformt und allein als Einheit erhalten hat. Bewußt vereinen sie Kinder aus den Strohhütten der Wilden mit den schon zahlreichen Mischlingen und fordern dringend weiße Kinder aus Lissabon, mögen es auch nur die verwahrlosten, die verlassenen Kinder sein, die in den Straßen Lissabons aufgelesen werden. Jedes neue Element, das die Mischung befördert, ist ihnen willkommen, sogar die moços perdidos, ladrões e maus que aqui chamam de patifes. Denn es gilt für sie, da die Eingeborenen gleichfarbigen oder mischfarbigen Brüdern bei dem religiösen Unterricht mehr Vertrauen schenken als den Fremden, den Weißen, sich die Lehrer des Volkes aus dem eigenen Blut des Volkes zu schaffen. Im Gegensatz zu den andern denken sie ausschließlich in und für kommende Generationen; strenge und klare Realisten und Rechner, haben sie als einzige eine wirkliche Vision des kommenden, des werdenden Brasiliens, und noch ehe irgendein Geograph die räumliche Größe dieses Landes ahnt, stellen sie ihre Arbeit auf den richtigen Maßstab ein. Es ist ein Feldzugsplan für die Zukunft, den sie entwerfen, und sein letztes Ziel bleibt unverrückbar durch die Jahrhunderte: Formung dieses neuen Landes im Geist einer einzigen Religion, Sprache und Idee. Daß dieses Ziel erreicht wurde, bleibt Brasiliens dauernde Dankesschuld an diese ersten Schöpfer ihrer Staatsidee.

Der eigentliche Widerstand, auf den die Jesuiten mit ihrem großzügigen Kolonisationsplan stoßen, kommt nicht, wie man zuerst erwarten konnte, von den Eingeborenen, den Wilden, den Kannibalen; er kommt von den Europäern, den Christen, den Kolonisten. Bisher war für diese entlaufenen Soldaten, desertierten Matrosen, für die Desgregados Brasilien ein exotisches Paradies gewesen, ein Land ohne Gesetze und Einschränkungen und Verpflichtungen, in dem jeder tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ohne von Justiz oder Autorität ernstlich behelligt zu werden, konnten sie den wüstesten Trieben freien Lauf gewähren; was in ihrem Heimatland mit Kette und Brandmarkung geahndet wurde, galt hier als erlaubtes Vergnügen gemäß der Conquistadorendoktrin: Ultra equinoxialem non peccatur. Sie beschlagnahmten Land, wo und wieviel sie wollten, sie holten sich Eingeborene, wo sie sie gerade fanden und ließen sie unter der Peitsche roboten. Sie nahmen jede Frau, die ihnen über den Weg lief, und die ungeheure Zahl der Mischkinder illustrierte bald die Verbreitung dieser wilden Vielweiberei. Niemand war zur Stelle, ihnen Autorität aufzuzwingen, und so lebte jeder dieser Gesellen, die meist noch die Brandmale des Zuchthauses auf den Schultern trugen, wie ein Pascha, ohne sich um Recht und Religion zu kümmern und vor allem ohne jemals selbst die Hand zu wirklicher Arbeit zu rühren. Statt das Land zu zivilisieren, waren diese ersten Kolonisten selber verwildert.

Dieser rüden, an Müßiggang und Selbstherrlichkeit gewöhnten Rotte wieder Zucht beizubringen, bedeutete eine harte Aufgabe. Was die frommen Brüder am meisten entsetzt, ist die zügellose Vielweiberei, das braune Haremswesen. Aber anderseits, wie diese Männer anklagen, daß sie hier in wildem Konkubinat leben, da doch gar keine Möglichkeit für sie besteht, legal zu heiraten und eine Familie zu gründen? Denn wie eine Familie gründen, die allein Grundlage bürgerlicher Gesittung werden kann, wenn weiße Frauen völlig fehlen? So drängt Nóbrega den König, er möge Frauen aus Portugal herüberschicken: Mande Vossa Alteza mulheres órfãs, porque tôdas casarão. Und da nicht zu erwarten ist, daß die Fidalgos Portugals ihre Töchter in das weite und entlegene Land senden werden, damit sie sich unter diesen wüsten Gesellen einen Gemahl suchen, geht Nóbrega in seiner Großzügigkeit sogar so weit, den König zu bitten, er möge auch die gefallenen Mädchen, die Dirnen aus den Straßen Lissabons herüberspedieren. Hier fände jede einen Mann. Nach einiger Zeit gelingt es den vereinten geistlichen und amtlichen Autoritäten tatsächlich, in den Sitten wieder eine gewisse Ordnung zu schaffen. Aber in einem Punkte stoßen sie bei der ganzen Kolonie auf erbitterten Widerstand – in der Frage der Sklaverei, die vom Anfang bis zum Ende, von 1500 bis fast 1900, die Crux des brasilianischen Problems bleiben wird. Die Erde braucht Hände, und es sind nicht genug Hände da. Die wenigen Kolonisten reichen nicht aus, um das Zuckerrohr zu pflanzen und in den engenhos, den primitiven Fabriken zu arbeiten; außerdem sind diese Abenteurer und Conquistadoren nicht deshalb über das Meer in dies tropische Land gekommen, um hier mit Hacke und Schaufel zu werken. Sie wollen hier Herren sein; so hatten sie sich einfach geholfen, indem sie die Eingeborenen wie Hasen einfingen und sie dann unter der Peitsche roboten ließen, bis sie zusammenbrachen; die Erde gehört ihnen, argumentieren sie, mit allem, was darüber und darunter ist, also auch alle diese zweibeinigen braunen Tiere, gleichgültig ob sie bei der Arbeit verrecken oder nicht; für jeden Toten holt man sich in der munteren caça al branco ein Schock neuer ein und hat dazu noch einen sportlichen Spaß.

Gegen diese bequeme Auffassung greifen nun die Jesuiten energisch ein, denn die Versklavung und Entvölkerung des Landes geht schroff ihrem weitreichenden und wohldurchdachten Plan zuwider. Sie können es nicht dulden, daß die Kolonisten die Eingeborenen zu Arbeitstieren herabdrücken, weil sie sich es doch gerade als die wesentlichste Aufgabe gesetzt haben, diese Unbelehrten dem Glauben, der Erde und der Zukunft zu gewinnen. Jeder freie Eingeborene bedeutet für sie ein notwendiges Objekt der Besiedlung und Zivilisierung. Während es bislang im Interesse der Kolonisten lag, die einzelnen Stämme zu fortwährenden Kriegen gegeneinander zu hetzen, damit sie einander rascher ausrotten und man außerdem nach jedem Kriegszug die erbeuteten Gefangenen als billige Ware kaufen könnte, suchen die Jesuiten die Stämme untereinander zu versöhnen und in dem gewaltigen Raume durch Ansiedlung zu isolieren. Der Eingeborene stellt für sie als künftiger Brasilianer und gewonnener Christ die vielleicht kostbarste Substanz dieser Erde dar, wichtiger als das Zuckerrohr, das Brasilholz und der Tabak, um derentwillen sie geknechtet und ausgerottet werden sollen. Als die wesentliche, die gottgewollte Nahrung wollen sie diese noch ungeformten Menschen in die Scholle einsetzen, ebenso wie die fremden Früchte und Pflanzen, die sie von Europa mitgebracht haben, statt sie verkümmern und weiter verwildern zu lassen. Ausdrücklich haben sie sich darum vom König die Freiheit der Eingeborenen ausbedungen, in ihrem Plan soll es im künftigen Brasilien nicht eine Herrennation von Weißen und eine Sklavennation von Farbigen geben, sondern nur ein einheitliches freies Volk auf freier Erde.

Freilich, selbst ein königlicher Brief und Auftrag verliert dreitausend Meilen weit viel von seiner gebieterischen Kraft, und ein Dutzend Priester, von denen die Hälfte immer auf ruhelosen Missionsfahrten das Land durchwandert, sind zu schwach gegen den selbstsüchtigen Willen der Kolonie. Um wenigstens einen Teil der Eingeborenen zu retten, müssen die Jesuiten in der Sklavenfrage paktieren. Sie müssen die angeblich im »gerechten« Kriege, das heißt im Verteidigungskriege gegen die Eingeborenen gemachten Gefangenen den Kolonisten als Sklaven konzedieren, und selbstverständlich findet diese Verklausulierung die allerbiegsamste und unkontrollierbarste Auslegung. Außerdem sind sie genötigt, um nicht beschuldigt zu werden, das rasche Fortschreiten der Kolonie zu verunmöglichen, den Import afrikanischer Neger zu befürworten; selbst diese geistig hochstehenden und human gesinnten Männer können sich nicht der Anschauung der Zeit entziehen, für die der Negersklave ein ebenso selbstverständlicher Handelsartikel ist wie Wolle oder Holz. In jenen Jahren beherbergt Lissabon, die europäische Hauptstadt, schon zehntausend schwarze Sklaven; wie sie dann dem Kolonialland verweigern? Sogar die Jesuiten selbst sind genötigt, sich Neger anzuschaffen; mit voller Gleichmütigkeit berichtet in einem Atemzug Nóbrega, er habe drei Sklaven und einige Kühe angeschafft für sein Kollegium. Aber an dem Prinzip, daß die Eingeborenen Brasiliens nicht Freiwild jedes hergelaufenen Abenteurers sind, halten die Jesuiten unbeugsam fest; sie schützen jeden ihrer Täuflinge, und die ethische Unbeugsamkeit, mit der sie für das Recht der braunen Brasilianer kämpfen, wird ihr Verhängnis sein. Nichts hat die Situation der Jesuiten in Brasilien so schwierig gemacht wie dieser Kampf um die brasilianische Idee der Besiedlung und Beseelung des Landes durch freie Menschen, und wehmütig bekennt einer von ihnen: »Viel ruhiger hätten wir gelebt, wenn wir bloß in den Kollegien geblieben wären und uns darauf beschränkt hätten, einzig religiösen Dienst zu tun.« Aber der Gründer ihres Ordens war nicht umsonst vordem Soldat gewesen, er hatte seine Schüler zum Kampf erzogen für eine Idee. Und diese Idee haben sie mit ihrem Leben in das Land getragen: die Idee Brasiliens.

Es zeigt den großen Strategen in Nóbrega, daß er bei seinem Eroberungsplan des künftigen Reiches sofort den richtigen Punkt für den Brückenschlag in die Zukunft erkannte. Bald nach seiner Ankunft in Bahia hatte er seine erste Ausbildungsschule errichtet und mit den nachgekommenen Brüdern in mühevollen, anstrengenden Fahrten die ganze Küste von Pernambuco bis hinab nach Santos visitiert, wo er São Vincente begründet. Aber noch immer hat er nicht die richtige Stelle gefunden für das Hauptkollegium, für das geistige und geistliche Nervenzentrum, das nach und nach das ganze Land durchdringen soll. Auf den ersten Blick ist dieses sorgliche, wohl überlegende Suchen Nóbregas nach einem richtigen Stützpunkt unverständlich. Warum verlegt er sein Hauptquartier nicht nach Bahia, der Hauptstadt, dem Sitz des Gouverneurs und des päpstlichen Bischofs? Aber hier wird man zum erstenmal eines geheimen Gegensatzes gewahr, der mit der Zeit sich zu einem offenen und schließlich sogar gewalttätigen auswirken wird. Der Orden Loyolas will nicht unter staatlicher und nicht einmal unter päpstlicher Kontrolle sein Werk beginnen; den Jesuiten geht es von der ersten Stunde an bei Brasilien um ein höheres Spiel und Ziel, als dort bloß ein lehrendes, helfendes, der Krone und der Curie untergeordnetes Kolonisationselement zu sein. Brasilien bedeutet für sie ein entscheidendes Experiment, die erste Probe für die Realisationsfähigkeit ihrer organisatorischen Kraft, und Nóbrega spricht es unumwunden aus: esta terra é nossa emprêsa, »dieses Land ist unsere Aufgabe« und meint damit: wir sind für ihre Lösung vor Gott und den Menschen verantwortlich. Verantwortung will der Starke aber nur allein tragen. Die Jesuiten – dies der Grund des geheimen Mißtrauens, das sie in Brasilien von Anfang an durch die Geschichte begleitet – hatten zweifelsohne ein besonderes, ein persönlich durchdachtes und den andern nicht ganz erkennbares Ziel. Was sie – bewußt oder unbewußt – anstrebten, war nicht bloß die Heranbildung einer portugiesischen Kolonie unter all den andern portugiesischen Kolonien, sondern eine theokratische Gemeinschaft, ein neuartiges, den Kräften des Geldes und der Gewalt nicht unterworfenes Staatsgebilde, wie sie es ja später in Paraguay zu gründen versuchten. Von der ersten Stunde an wollten sie mit Brasilien etwas Einmaliges, etwas Neues, etwas Vorbildliches schaffen, und eine solche neuartige Konzeption mußte früher oder später mit den bloß merkantilen und feudalistischen Ideen des portugiesischen Hofes in Konflikt geraten; sicher ging es ihnen nicht, wie ihre Gegner sie beschuldigten, um eine Besitznahme Brasiliens im souveränen oder kapitalistischen Sinne für ihren Orden und dessen Zwecke.

Aber daß sie mehr mit Brasilien wollten als dort bloß Prediger des Evangeliums sein, daß sie mehr und etwas anderes als die anderen geistlichen Orden mit ihrer Anwesenheit dort einsetzen und durchsetzen wollten, das spürte von Anfang an die Regierung, die sich ihrer dankbar bediente und sie doch mit einem leisen Mißtrauen überwachte, das spürte die Curie, die ihre geistige Autorität mit niemandem zu teilen geneigt war, das spürten die Kolonisten, die sich in ihrem rücksichtslosen Raubbau von den Ordensbrüdern gehemmt fühlten. Gerade weil sie nichts Sichtbares wollten, sondern die Durchsetzung eines geistigen, eines idealistischen, und darum den Tendenzen der Zeit unfaßbaren Prinzips, hatten sie von Anfang ständig Widerstand gegen sich, dem sie schließlich erliegen mußten, ausgestoßen aus dem Lande, dem sie trotz allem und allem den Keim der Befruchtung eingesenkt haben. Es war also vollkommen wohlüberlegt, daß Nóbrega, um diesen Konflikt der Kompetenzen möglichst lange zu vermeiden, sein Rom, seine geistige Hauptstadt abseits von der Residenz des Gouverneurs und des Bischofs anlegen wollte; nur wo er ungehindert und unbeaufsichtigt wirken konnte, vermochte jener langsame und mühevolle Prozeß der Kristallisierung zu gelingen, der ihm vorschwebte. Diese Rückverlegung des Wirkungszentrums von der Küste ins Binnenland bedeutete im geographischen Sinn wie zum Zweck der Katechisierung einen wohlerwogenen Vorteil. Nur eine Wegkreuzung im Land, geschützt einerseits gegen piratische Angriffe von der See her durch die Bergkette und doch nahe dem Ozean, nahe aber auch anderseits zu den verschiedenen Stämmen, die der Zivilisation zu gewinnen und aus dem Nomadischen zum Seßhaften zu erziehen waren, konnte die ideale Keimzelle bilden.

Nóbregas Wahl fällt auf Piratininga, das heutige São Paulo, und die spätere historische Entwicklung hat die Genialität seiner Entscheidung bestätigt, denn die Industrie, der Handel, der Unternehmungsgeist Brasiliens sind noch nach Hunderten von Jahren seiner inspirativen Wahl nachgefolgt; an derselben Stelle, wo er am 24. Januar 1554 jene paupérrima e estreitíssima casinha im Verein mit seinen Helfern errichtet, steht heute mit Hochhäusern, Fabriken und menschenüberfüllten Straßen eine moderne Weltstadt. Nóbrega hätte nicht besser wählen können. Das Klima auf diesem Hochplateau ist gemäßigt, die Erde satt und fruchtbar, ein Hafen nahe und durch Flußläufe die Verbindung mit dem großen Wasserlauf des Paraná und Paraguay und damit des la Plata gesichert; von hier aus können nach allen Richtungen die Missionare zu den verschiedenen Stämmen vordringen und ihr Belehrungswerk radial ausstrahlen lassen. Außerdem besteht vorläufig keine die Sitten korrumpierende Kolonie von Degredados in der Nähe der kleinen Siedlung, die bald die Freundschaft der Nachbarstämme durch kleine Geschenke und gute Behandlung zu gewinnen weiß. Ohne viel Mühe lassen sich die Eingeborenen von den Priestern zu kleinen aldeias, zu jenen Wirtschaftsgemeinschaften vereinigen, die ziemliche Ähnlichkeit mit den heutigen russischen »Kollektivs« haben, und nach kurzer Zeit kann Nóbrega bereits melden: Vai-se fazendo uma formosa povoação. Noch hat der Orden nicht wie in späteren Zeiten selbst reichlichen Grundbesitz, und die sparsamen Mittel verstatten zunächst nur das Kollegium in kleinen Proportionen zu entwickeln. Aber immerhin werden hier bald eine ganze Reihe von Brüdern herangebildet, weiße und farbige, die, sobald sie der Landessprache mächtig sind, als missões volantes von Stamm zu Stamm ziehen, um immer neue Nomaden zur Seßhaftigkeit zu bewegen und für den Glauben zu gewinnen. Ein Knotenpunkt ist geschaffen, die erste escola para muitas nações de índios, und rasch bildet sich zwischen dem Missionar und den angesiedelten Stämmen ein ehrliches Gefühl der Solidarität; bei dem ersten Überfall schweifender Banden sind es schon die Neugetauften, die mit leidenschaftlicher Aufopferung unter der Führung ihres Häuptlings Tibiriças den Angriff abwehren. Das große Experiment nationaler Besiedlung unter geistlicher Führung, das dann in der Jesuitenrepublik von Paraguay seine einmalige Gestaltung finden wird, hat begonnen.

Die Gründung Nóbregas bedeutet aber auch einen großen Fortschritt im nationalen Sinne. Zum erstenmal ist ein gewisses Gleichgewicht für den künftigen Staat geschaffen. Während vordem Brasilien eigentlich nur ein Streifen Küste war mit seinen drei oder vier Hafenstädten im Norden, die einzig mit tropischen Produkten handelten, beginnt nun auch im Süden und im inneren Land Kolonisation sich zu entwickeln. Bald werden diese langsam gesammelten Energien schöpferisch vorstoßen und aus eigener Neugier und Ungeduld das Land sich selbst in seinen Formen und Flüssen, in seiner Weite und Tiefe entdecken. Mit der ersten disziplinierten Innensiedlung hat sich die vorgefaßte Idee bereits in Saat und Tat verwandelt.

Brasilien ist etwa fünfzig Jahre alt, da es nach embryonischen ungewissen Regungen zum erstenmal Zeichen wirklich bewußten Eigenlebens zu geben beginnt. Langsam treten die ersten Resultate kolonialer Organisation in Erscheinung. Die Zuckerplantagen von Bahia und Pernambuco werfen, obwohl noch primitiv gehandhabt, reichlich Gewinn ab. Öfter und öfter streifen Schiffe heran, um Rohprodukte zu holen und gegen Waren einzutauschen; es sind noch nicht viele, die sich herab nach Brasilien wagen, und kaum gibt ein Buch Bericht von dieser weiträumigen Welt. Aber gerade die zögernde und sporadische Art, mit der sich die Kolonie im Welthandel bemerkbar macht, ist im letzten Sinn Brasiliens Glück, weil es ihm eine organische Entwicklung gewährt. In Zeiten der Eroberung und der Gewalt bedeutet es immer eher einen Vorteil für ein Land, wenn es unbeachtet und unbegehrlich bleibt; die Schätze, die Albuquerque in Indien und den Molukken erspäht hat, die Beute, die Cortez aus Mexiko und Pizarro aus Peru heimbringt, lenken eigentlich in glücklichster Weise die Aufmerksamkeit und Besitzgier der anderen Nationen von Brasilien ab. Noch immer gilt das »Papageienland« als eine quantité négligeable, um die sich weder das eigene Land noch die andern ernstlich bemühen.

Es ist darum eigentlich kein ausgesprochen kriegerischer Akt, wenn am 10. November 1555 eine kleine Flotte unter französischer Flagge in der Bucht von Guanabara erscheint und dort auf einer der Inseln ein paar hundert Leute landet. Denn sie stören de facto damit keinen fremden Besitz. Rio de Janeiro ist damals noch keine Stadt und kaum eine Niederlassung. In den paar verstreuten Hütten findet sich kein Soldat, kein Beamter des portugiesischen Königs, und der sonderbare Abenteurer, der hier die Fahne hißt, begegnet keinerlei Widerstand bei seinem kühnen Abenteurerstreich. Zweideutige und attraktive Figur, dieser Rhodosritter Nicolas Durand de Villegaignon, halb Pirat, halb Gelehrter und ein ganzes blutechtes Stück Renaissance. Er hat Maria Stuart aus Schottland an den französischen Königshof gebracht, im Kriege sich ausgezeichnet, in den Künsten dilettiert. Er ist gerühmt von Ronsard und gefürchtet vom Hofe, weil unberechenbar, ein quecksilberner Geist, dem jede geregelte Tätigkeit widerwärtig ist und der das beste Amt, die höchsten Würden verachtet, um lieber frei und ungehemmt seinen oft phantastischen Launen nachgeben zu können. Den Hugenotten gilt er als Katholik, den Katholiken als Hugenotte. Niemand weiß, welcher Sache er dient, und er weiß vielleicht selbst nichts anderes von sich, als daß er irgend etwas Großes und Besonderes tun möchte, etwas anders als die anderen, etwas Wilderes, Verwegeneres, Romantischeres und Eigenartigeres. In Spanien wäre er ein Pizarro geworden oder ein Cortez, aber sein König, vollauf im Lande beschäftigt, organisiert keine kolonialen Abenteuer; so muß der ungeduldige Villegaignon eines auf eigene Faust erfinden. Er rafft ein paar Schiffe zusammen, lädt sie voll mit ein paar hundert Mann, meistens Hugenotten, die sich im Frankreich der Guisen unbehaglich fühlen, aber auch Katholiken, die in die neue Welt wollen, und, ruhmsüchtig im höchsten Grade, nimmt er sich vorsichtsweise gleich einen Geschichtsschreiber, André Thévet, mit, denn er hat keinen geringeren Traum als eine »France Antarctique« zu gründen, deren Schöpfer, Gouverneur oder vielleicht sogar eigenwilliger Fürst er sein will. Wieweit der französische Hof diese Pläne gekannt, wieweit er sie gebilligt und sogar gefördert hat, ist kaum ersichtlich. Wahrscheinlich hätte im Falle eines Erfolgs König Heinrich sich seine Tat ebenso zu eigen gemacht wie Elisabeth von England die ihrer Piraten Raleigh und Drake; zunächst läßt man Villegaignon bloß als Privatperson sein Glück versuchen, um nicht gegenüber Portugal durch eine offizielle Mission und Annexion ins Unrecht zu kommen.

Villegaignon, als bewährter Soldat zunächst auf Verteidigung bedacht, errichtet sofort nach seiner Ankunft auf der heute nach ihm benannten Insel ein Fort Coligny zu Ehren des hugenottischen Admirals, während er die gegenüberliegende künftige Stadt – vorläufig nichts als Sumpf und leere Hügel – aus Respekt für seinen König großspurig Henriville tauft. Unbedenklich in religiösen Dingen, holt er, da er für diese erträumte Kolonie in Frankreich keine anderen Katholiken mehr findet, sich 1556 eine weitere Ladung Calvinisten aus Genf herüber, was innerhalb der kleinen Niederlassung bald zu religiösen Zänkereien führt. Zweierlei Prediger, die sich gegenseitig Ketzer nennen, sind zuviel auf einer engen Insel. Aber immerhin, die France Antarctique ist begründet, und die Franzosen stehen, da sie keine Sklavenräuberei dulden, bald in bestem Einvernehmen mit den Eingeborenen, mit denen sie regen Handel treiben; von nun ab pendeln, als wäre es ihr rechtmäßiger Hafen, französische Schiffe regelmäßig zwischen dieser von Frankreich noch nicht offiziell anerkannten Siedlung und dem Heimatland hin und her.

Dem portugiesischen Gouverneur in Bahia kann dieser Einbruch keineswegs gleichgültig bleiben. Nach dem damals gültigen Rechtsprinzip sind die brasilianischen Küsten ein mare clausum, an dessen Küsten fremde Schiffe weder landen noch Handel treiben dürfen; gar eine Festung mit fremdem Militär im besten Hafen der Kolonie anzulegen bedeutet die Trennung von Süden und Norden und damit die Vernichtung der Einheit Brasiliens. Die natürlichste Aufgabe des Gouverneurs de Sousa wäre, diese fremden Schiffe zu kapern und die Niederlassung zu schleifen, aber er besitzt keinerlei Macht zu einer kriegerischen Unternehmung solchen Umfangs. Die paar hundert Soldaten, die zugleich mit ihm nach Brasilien gekommen waren, sind unterdes längst Landwirte oder Plantagenbesitzer geworden und wenig geneigt, nach ihren bequemen Jahren den Harnisch wieder anzulegen; noch fehlt dem jungen Gebilde jedes Nationalgefühl, jeder Gemeinschaftsgedanke, in Portugal wiederum die richtige Erkenntnis der Gefahr und wie immer das notwendige Geld für eine rasche Expedition. Noch immer ist der Krone das Aschenbrödel Brasilien nicht wichtig genug, um eine kostspielige Flotte auszurüsten. So bleibt den Franzosen reichlich Zeit, sich ständig zu verstärken und zu verschanzen; erst wie ein neuer Gouverneur, Mem de Sá 1557 nach Bahia gesandt wird, beginnt die Vorbereitung einer Aktion gegen die Eindringlinge. Mem de Sá schenkt Nóbrega rückhaltlos Vertrauen und unterwirft sich völlig seiner geistigen Autorität. Und Nóbrega ist es wiederum, der mit seiner ganzen leidenschaftlichen Energie ein rechtzeitiges Vorgehen gegen die Franzosen fordert. Die Jesuiten kennen das Land besser und sind mehr um seine Zukunft besorgt als die Kaufleute in Lissabon, die Länder einzig nach dem momentanen Ertrag ihrer Spezereien bewerten; sie wissen, daß wenn diese französischen Hugenotten an den brasilianischen Küsten dauernd Fuß fassen können, nicht nur die Einheit des Landes, sondern auch die Einheit der Religion für immer zerstört ist. Brief auf Brief senden abwechselnd der Gouverneur und Nóbrega nach Portugal hinüber, um zu fordern, daß man faça socorrer a êsse pobre Brasil. Aber Portugal hat – ein anderer Atlas – eine ganze Welt auf seinen schwachen Schultern zu tragen, und es dauert noch abermals zwei Jahre, bis 1559 endlich ein paar Schiffe von Lissabon herüberkommen und Mem de Sá an eine kriegerische Aktion gegen die Eindringlinge denken kann.

Der eigentliche Leiter der Expedition ist Nóbrega, der gemeinsam mit Anchieta von seinen Täuflingen möglichst viele herangeholt hat, um die schwache portugiesische Truppe zu verstärken. Zugleich mit dem Gouverneur erscheint er am 18. Februar 1560 vor Rio, und sobald am 15. März von São Vincente die rasch zusammengelesenen Hilfstruppen eintreffen, beginnt der Sturm auf die Festung Villegaignons. Vom heutigen Horizont aus gesehen, ist diese bedeutsame Aktion freilich nur eine Art Frosch- und Mäusekrieg. Hundertzwanzig Portugiesen und hundertvierzig Eingeborene stürmen das Fort Coligny, das von vierundsiebzig Franzosen und einigen Sklaven verteidigt wird. Die Franzosen können nicht standhalten und flüchten rechtzeitig auf das Festland hinüber zu den befreundeten Eingeborenen, um sich auf dem Morro do Castelo neu zu verschanzen. Für die Portugiesen ist es ein Sieg, weil das Fort Coligny, die Zwingburg, eingenommen ist; ohne die Franzosen zu verfolgen oder zu vernichten, kehren sie wieder nach Bahia und São Vincente zurück.

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