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Mein Traumberuf

18 Jahre vor dieser Begebenheit im Rosental, an einem Sonntag um fünf Uhr nachmittags, hörten wir Kinder die Stimme unseres Vaters. »Wir müssen zurück«, rief er. »Die Kühe warten nicht.«

Mein größerer Bruder und ich kannten den Spruch. Wir wären lieber noch geblieben, denn das Grenzlandfest war stets eine große Sache. Es hieß so, weil unser kleines Dorf, Laßnitz bei Murau, genau an der Grenze zwischen der Steiermark und Kärnten lag, die der kleine Bach bildete, der durch unser Tal floss. Es fand auch in diesem Jahr, 1989, auf einem Hof gleich in unserer Nähe statt. Die Frauen buken für das Fest Kuchen und brühten Kaffee auf, die Männer sorgten für Bier, Wein und Schnaps sowie für Tische und Sitzgelegenheiten, und die Kinder tollten miteinander herum. Wir fanden es unfair, dass wir schon fahren mussten. Stumm trotteten wir hinter meinem Vater her zum Wagen.

Zurück auf unserem eigenen Hof ruhten wir uns etwas aus, während sich mein Vater umzog und in den Stall ging. Als das Telefon läutete, dachten wir uns nichts dabei. Unser Onkel rief an, der auch mit uns am Grenzlandfest gefeiert hatte. Er war Vizebürgermeister von Laßnitz für die Volkspartei. Er klang aufgeregt.

Als mein Vater endlich aus dem Stall kam und den Anruf entgegen nahm, konnten wir die Stimme unseres Onkels aus dem Telefon hören, obwohl wir zwei Meter entfernt standen. »Der Haider ist da!«, rief er. »Der Haider!«

Mein Vater war ebenfalls im Gemeinderat politisch aktiv, allerdings nicht wie mein Onkel bei der ÖVP. Er war Ortsparteiobmann bei den Freiheitlichen, was mitunter intensive politische Diskussionen innerhalb der Familie und Verwandtschaft auslöste, den Frieden aber nicht störte.

Als mein Vater aufgelegt hatte, suchte er unverzüglich meine Mutter. Sie war einverstanden, die Kühe zu übernehmen. »Geh nur«, sagte sie zu meinem Vater, der sich den Auftritt des FPÖ-Chefs nicht entgehen lassen wollte.

Mein großer Bruder und ich wollten unbedingt mit. Die Aufregung meines Vaters steckte uns an, und obwohl wir noch klein waren, wussten wir, wer Haider war. Schließlich drehten sich die meisten der politischen Diskussionen in unserer Familie um den schillernden Haider. Er war der Mann aus dem Fernsehen, der sich mit allen anderen anlegte, der jung, frech und anders war, modern wirkte, und der für alle der Größte zu sein schien, selbst für die, die sich über ihn mokierten.

Seit ich denken konnte, hatte ich Haider als Sieger erlebt. Ich kam 1981 zur Welt und er eilte ab 1986 als Bundesparteiobmann der FPÖ von Wahltriumph zu Wahltriumph. Er war der Star, der Unbezwingbare, der ewige Gewinner. Er war für uns der Held einer Art Realitiy-Soap, die uns so sehr beschäftigte, dass sie Teil unseres Lebens war. Diesen Mann in echt zu treffen, war für mich vergleichbar damit, Michael Jackson zu treffen. Er war fast außerirdisch. Unerreichbar. Weit weg, und jetzt auf einmal ganz nah.

Mein Vater duschte eilig, zog sich wieder sein Festtagsgewand und hielt uns die Fondtür unseres weinroten Passat auf. Zurück auf dem Fest mischten uns unter die anderen Besucher. Nach wie vor herrschte reger Betrieb. Überall auf dem weitläufigen Gelände des Hofes wuselte es vor Menschen. Werkzeugkammern und Scheunen dienten heute als Bier-Schuppen, Schnapsbars und Kaffeeküchen, und eine Tenne als Tanzboden. Irgendwo mitten in diesem Gewusel musste Haider sein.

Während mein Vater die Menschenmenge nach ihm absuchte, eilten wir Kinder hinter ihm her. Bis ich ihn sah. Haider stand bei ein paar Musikanten. Sie spielten Ziehharmonika und er spielte mit. Genau im Takt schlug er zwei Löffel aufeinander, ausgelassen und mit einem breiten Lächeln, als gehöre die ganze Welt ihm. Gleichzeitig schaffte er es auch noch, Menschen im Publikum zuzunicken oder ihnen etwas zuzurufen.

Ich hob langsam eine Hand, um auf ihn zu zeigen. Da entdeckte ihn auch mein Vater, und während er geradewegs auf ihn zusteuerte, blieb ich mit Respektabstand wie angewurzelt stehen und starrte ihn gebannt an. Ich hatte noch nie jemanden in echt gesehen, der berühmt war. Vor kurzem hatte ich noch gedacht, dass es die Menschen im Fernsehen gar nicht wirklich gab, sondern dass sie so im Fernseher eingeschlossen waren, wie die Helden von Romanen anscheinend in Buchseiten eingeschlossen waren. Ein bisschen unwirklich kam er mir noch immer vor. Er war wie ein Fernsehbild, das sich mit dem richtigen Leben vermischt hatte, wie eine Projektion inmitten der vertrauten Menschen um mich.

Haider stand in weißem Hemd da und wirkte inmitten des Trubels souverän und erhaben auf mich. Er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Menschen um sich. Auch mit meinem Vater tauschte er sich aus. Schließlich ging er von Tisch zu Tisch und von Stand zu Stand. Er ging das ganze Gelände ab und reichte allen die Hand. Jedes seiner Gegenüber schien für diesen Augenblick seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

Mein Bruder war bei mir geblieben und beobachtete mit mir das Treiben. Erst als wir sahen, dass Haider Autogramme schrieb und sich eine ganze Menschentraube um ihn bildete, um eines zu ergattern, wagten wir uns vor. Haider stand jetzt auf einem kleinen Podest und gab jedem eine Autogrammkarte, der eine haben wollte. Wir stellten uns in die Schlange. Ich fragte mich, was ich tun sollte, wenn ich an der Reihe war, aber ich war zu nervös, um darüber nachzudenken.

Stück für Stück rückten wir näher, und irgendwann war ich auf einmal derjenige, der Haiders ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Ich erstarrte fast vor Ehrfurcht und sah ihn einfach nur mit großen Augen an. Haider grinste mich an. »Das sind dann Wähler von morgen«, sagte er zu den Erwachsenen um uns und drückte mir eine Karte in meine ausgestreckten Hände. Mein »Danke«, das er dafür bekam, hörte er gar nicht mehr, weil er längst dem Nächsten sein Autogramm in die Hand drückte. Dennoch war ich hochzufrieden. Er war mein Idol und nun hatte ich ein Stück dieses Idols in Form seiner Unterschrift und konnte es an die Wand meines Kinderzimmers kleben.

Als wir Kinder uns wenige Wochen später in der Früh die Schuhe anzogen, machte meine Mutter wie immer jedem von uns ein Kreuzzeichen auf die Stirn. »In Gottes Namen«, sagte sie dabei, was so viel bedeutete wie »Viel Glück, und kommt heil wieder heim«. Gleich darauf standen wir wie jeden Schultag vor dem Haus unseres Nachbarn und wartete auf den alten gelben Postbus, der uns zur Laßnitzer Volksschule bringen würde. Dreißig Schüler besuchten sie, und es gab zwei Lehrerinnen, eine für die erste und die zweite Klasse, sowie eine für die dritte und die vierte. Die Busfahrt dauerte rund 25 Minuten und als Volksschüler musste ich einmal umsteigen, denn der eine Bus fuhr mit den Hauptschülern und AHS-Schülern in die nächstgrößere Stadt, nach Murau, weiter, während ein anderer Bus die Volksschüler nach Laßnitz brachte.

Ich ging in die vierte, und an diesem Schultag im Jahr 1991, ich war zehn Jahre alt, sollten wir in Deutsch einen Aufsatz schreiben. Thema: Mein Traumberuf.

Ich mochte die Volksschule, weil ich dort jeden Tag Kinder aus unserer Gegend traf. Ich war allerdings nur ein mittelmäßiger, weil eher fauler Schüler, der mehr Streiche als Lernen im Kopf hatte. Deutsch ging noch ganz gut, aber die anderen Fächer wie Rechnen fielen mir eher schwerer.

Mein Traumberuf? Ich saß vor meinem Heft in der Schulbank, in die schon Schülergenerationen vor mir ihre Zeichen und Muster geritzt hatten, und musste nicht lange nachdenken. Ich wollte weder Astronaut noch Feuerwehrmann werden, und auch nicht Bauer wie mein Vater und mein Onkel. Ich hatte keinen dieser typischen Jungen-Berufswünsche. Ich wusste ganz genau, was ich werden wollte, und ich war sicher, dass ich es schaffen würde, trotz meiner mäßigen schulischen Leistungen und trotz eines anderen Problems, das mich seit einer Weile heimgesuchte: Irgendwann in der zweiten Klasse hatte ich zu stottern begonnen.

Weder wusste ich, woher es kam, noch beschäftigte es mich sonderlich, was wohl daran lag, dass wir Kinder einander alle schon immer kannten und nicht hänselten. Es war einfach da und fiel mir zum Beispiel dann besonders auf, wenn ich einmal aufzeigte, aber, wenn mich die Lehrerin aufrief, die Laute nicht heraus brachte. Irgendwann fiel das Stottern auch ihr auf, worauf sie mich in Absprache mit meiner Mutter zu einer Sprachlehrerin schickte. Zu der musste ich einmal die Woche, wegen diverser Übungen, deren Sinn sich mir damals überhaupt nicht erschloss.

Trotzdem hatte mein Traumberuf viel mit der Fähigkeit zu sprechen zu tun. Und mit den in der Grundfarbe Blau gehaltenen Werbeartikel der FPÖ, die ich im Kofferraum des weinroten Passat meines Vaters fand, wenn gerade Wahlkampf war. Ich begutachtete dann immer die Kugelschreiber, Sticker und Aufkleber. Während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr hatte ich mich über und über mit Stickern behängt, auf denen »Ich flieg auf die FPÖ« stand, und war so zur Schule gegangen.

Mein Berufswunsch hatte auch mit meiner wachsenden Leidenschaft für politische Diskussionen zu tun. Während andere Kinder im Schulbus über Kleidung oder Pop-Hits stritten, versuchte ich, politische Diskussionen loszutreten. Meine Cousine, eine Tochter der Kocher-Familie, hielt meistens mit. Ganz ihrer Familientradition entsprechend vertrat sie die ÖVP, während ich für die FPÖ das Wort ergriff. Ich konnte sie relativ einfach in Schach halten, indem ich ihr die Wahlerfolge der FPÖ vorhielt, und die immer größer werdenden Stimmenverluste der ÖVP. Manchmal wurde es so hitzig, dass der Busfahrer intervenieren musste.

Mein Berufswunsch also. Ohne langes Zögern schrieb ich in meinen krakeligen Zügen, an denen unsere Lehrerin wenig Gefallen fand, meine Überschrift hin: »Generalsekretär in der FPÖ unter Jörg Haider.«

Mein politischer Hintergrund

Ich habe mich nie für Ideologien interessiert. Meine Begeisterung für die Politik galt immer nur dem Handwerk. Als Kind interessierte mich, wer die Kugelschreiber, Sticker und Aufkleber machte, die ich im Kofferraum meines Vaters fand. Je mehr ich über diese Dinge herausfand, desto mehr faszinierte mich, womit sich Menschen begeistern ließen und womit nicht, oder wie Wahlkämpfe funktionierten und welche Dynamik ihnen innewohnte. Schuld daran war wohl eine Prägung durch meine Familie, die mütterlicherseits aus einem christlich-sozialen und väterlicherseits aus einem freiheitlichen Teil bestand. Die politischen Wurzeln beider Teile reichten weit in die Vergangenheit.

Meine Mutter, eine geborene Kocher, bekam von ihren Eltern den Namen der österreichischen Kaiserin Maria-Theresia. Die Kochers waren eine von zwei großen Bauernfamilien in unserem Tal. Ihr erster politischer Funktionär war Friedrich Kocher, mein Ururgroßvater, der von 1919 bis 1920 für die Christlich-Sozialen Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung der Ersten Republik war. In diesem ersten, vom Volk frei gewählten Parlament in der Geschichte Österreichs, nach dem Ersten Weltkrieg, beschloss er die Bundesverfassung mit und stimmte bei der Ratifizierung des Friedensvertrags von St. Germain ab. Schon während der Anfänge des Nationalsozialismus waren die Kochers offen gegen Hitler, dessen Schergen den damaligen christlich-sozialen Bundeskanzler Österreichs, Engelbert Dollfuß, ermordeten. Der Name meiner Großmutter war ein Tribut an ihn: Engelberta. Einer unserer Familienlegenden zufolge verweigerte meine Ururgroßmutter Wehrmachtssoldaten einmal sogar Verpflegung. »Für den Hitler gib i nix«, soll sie gesagt haben.

Auch die politische Tradition der väterlichen Linie in meiner Familie reichte weit zurück. Klement Wallner, mein Ururgroßvater väterlicherseits, war Mitglied im Landbund, einer deutsch-nationalen, antiklerikalen Bauernbewegung, die in Deutschland entstanden war und sich auch in Österreich verbreitet hatte. Wie viele zur damaligen Zeit war wohl auch er für den Anschluss Österreichs an Deutschland. Denn nur wenige glaubten damals an das Überleben dieses kleinen Rest-Österreichs, das von der einst so großen K&K-Monarchie übrig geblieben war.

Mein Großvater väterlicherseits, Rudolf Petzner, war ein klassischer Mitläufer. Über seine Haltung im Dritten Reich sprachen wir nie viel. Es hieß von ihm nur, dass er im Zweiten Weltkrieg als Soldat in Deutschland stationiert gewesen sei. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war er Anhänger und Mitglied des VDU, des Verbandes der Unabhängigen, einem nach dem Krieg neu entstandenen Sammelbecken national gesinnter Kräfte. Später wurde er Mitglied der Freiheitlichen Partei Österreichs, der FPÖ, die Ende der Fünfzigerjahre aus dem VDU hervorging.

Mein Vater Hubert wurde 1968 ebenfalls Mitglied der FPÖ. Er übernahm bereits in jungen Jahren sein Mandat als Gemeinderat in unserem Dorf, das damals immer die ÖVP dominierte. Er wurde FPÖ-Ortsparteiobmann und kandidierte später auch für den steirischen Landtag.

Mit meinen Eltern begegneten sich also zwei Kinder aus zwei Familien, die politisch völlig konträr waren. Noch dazu waren die Petzners neben den Kochers die zweite große Bauernfamilie in unserer Gegend, weshalb beide Familien besondere Beachtung und Aufmerksamkeit fanden. Die Liebe wollte es so, dass mit meinen Eltern ausgerechnet zwei Kinder aus diesen beiden großen Familien zueinander fanden und heirateten.

Da es damals üblich war, um Erlaubnis zu bitten, wollte meine Mutter ihrer Urgroßmutter ihre Wahl möglichst schonend beibringen. »In Ordnung«, sagte die. »Der Hubert ist ein anständiger Bauer.« Dann hob sie einen Finger. »Aber dass er ein Freisinniger ist, das passt mir gar nicht.« Die Anhänger der Freiheitlichen Partei nannten sie bei uns damals noch »Freisinnige«.

Trotz dieser gegensätzlichen Einstellungen befreundeten sich beide Familien eng miteinander. Die einzige Folge der politischen Trennlinie zwischen ihnen war eine besonders intensiv gelebte politische Diskussionskultur. Politik war bei uns immer Thema. Wir waren alle daran interessiert. Wie das bei einer großen Bauernfamilie mit fünf Kindern so ist, saßen im Haus Petzner immer alle am Küchentisch und debattierten. Wir lernten dabei die Materie spielerisch kennen, indem wir anfangs nur zuhörten und dann immer mehr mitredeten. Mein Vater gab uns nie eine Linie oder eine Ideologie vor. Er war eher darauf bedacht, uns zu mündigen und selbstbestimmten Bürgern zu erziehen.

Nachrichtensendungen im Fernsehen waren bei uns Fixtermine, nach denen wir das Weltgeschehen besprachen. In unserem Tal war das Fernsehen das einzige richtige Fenster zur Welt. Sonst gab es nur Wald, Wiesen und Kühe, was idyllisch sein mochte, aber auch sehr abgeschieden. Wir waren als Bauernfamilie nie im Ausland auf Urlaub gewesen. Schon ein Ausflug zum Wörthersee war etwas Besonderes für uns, obwohl er kaum eine Stunde Autofahrt entfernt lag. Als ich mit knapp elf Jahren zum ersten Mal eine Rolltreppe sah, war das wie ein Weltwunder für mich. Über Politik zu diskutieren war für mich deshalb auch eine Form, am Rest der Welt teilzuhaben.

Der Fall der Berliner Mauer etwa war für mich ein einschneidendes Erlebnis. Dass der Kommunismus im Osten Deutschlands gescheitert war, verstand ich damals nicht wirklich, dennoch saß ich mit den anderen vor dem Fernseher und sah mit großen Augen all diese Menschen auf der Mauer stehen. Etwas Gewaltiges, Weltveränderndes passierte da, das begriff ich. Mein Vater, der neben mir saß, war aufgelöst und glückselig. »Passt auf und merkt euch das«, sagte er zu uns Kindern. »Schaut zu, denn in diesem Moment wird Weltgeschichte geschrieben.« Sein Versuch, uns die Hintergründe zu erklären, schlug fehl, doch eine Sache verstand ich: Politik verändert die Welt.

Der Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu war auch so ein Ereignis. Die Fernsehbilder waren gespenstisch: Der Diktator, der mit geballter Faust vom Balkon seines Palastes spricht, die demonstrierenden Massen vor ihm zu beschwichtigen und mit neuen Versprechungen zu besänftigen versuchte. Das Volk, das das Gebäude stürmte und ihn zur Flucht im Hubschrauber vom Dach seines eigenen Palastes zwang. Drei Tage später seine Verhaftung, der Schauprozess und seine Hinrichtung durch ein Erschießungskommando, das ihn an eine Ziegelwand an einem geheim gehaltenen Ort irgendwo in Rumänien stellte. Diese Bilder verfolgten mich tagelang in meinen Träumen. Mit acht Jahren verstand ich, dass es in der Politik nicht nur geliebte und geehrte Menschen gab, sondern dass politisches Handeln auch düstere Konsequenzen haben konnte. Den Tod inklusive.

Mein Vater hatte immer ein gespaltenes Verhältnis zu Haider. Zum einen freute er sich über die steigende Bedeutung, die seine Partei, für die er im Laßnitzer Gemeinderat saß, durch die von Haider erzielten Wahlerfolge auf einmal hatte. Vor Haider war die FPÖ eine Kleinstpartei mit gerade einmal vier, fünf oder höchstens acht Prozent gewesen, erst mit Haider an ihrer Spitze begann ihr Siegeszug. Wir saßen an jedem Wahlabend vor dem Fernseher, egal ob gerade Landtagswahl oder Nationalratswahl war, und fieberten dem Ergebnis entgegen. Dass Haider wieder einmal gewinnen würde, war damals schon vor der ersten Hochrechnung dem ganzen Land klar, die Frage lautete stets nur noch, wie hoch.

Andererseits fühlte sich mein Vater immer dem liberalen Lager innerhalb der FPÖ zugetan, das sich von vielen Ideen des nationalen Lagers, dem die Burschenschaften angehörten, distanzierte. Auf einem Bundesparteitag der FPÖ stimmte er seinerzeit daher auch für den liberalen Norbert Steger als Parteiobmann und gegen den Kandidaten des nationalen Lagers. Jenem Norbert Steger, der später von Jörg Haider gestürzt werden sollte. Denn obwohl mein Vater als Bauer aus einer konservativen und ländlich-traditionell geprägten Region stammte, war er ein weltoffener und liberaler Mensch. Als solcher war er ein glühender Anhänger des vereinten Europa, des Euro als gemeinsame Währung und des Beitritts Österreichs zur EU. Haider hingegen schürte zuerst die Ängste der Menschen vor diesen Veränderungen, und benützte sie dann, um zu polarisieren.

Die kalkulierten Skandale, die Haider regelmäßig lieferte, verabscheute mein Vater. Als Haider Österreich als »ideologische Missgeburt« bezeichnete und wochenlang Historiker und Politikwissenschaftler darüber diskutierten, war auch er aufgebracht. »Was ist ihm da wieder eingefallen?«, schimpfte er. »Das geht doch nicht. Das ist eine Beleidigung aller Österreicher. Ich kann das nicht unterstützen.«

Auch als Haider das Thema Zuwanderung entdeckte und 1993 sein Ausländer-Volksbegehren startete, weigerte sich mein Vater, es zu unterstützen und zu unterschreiben. »Das ist menschenverachtend«, sagte er zu mir, und Hetze würde seiner politischen Haltung widersprechen. Zu den grundlegenden christlichen Werten, die ausgesprochen oder unausgesprochen meine gesamte Familie prägten, gehörte auch die Hilfe für Menschen, die Hilfe benötigten. Egal welcher Herkunft.

Ich hingegen sah die Dinge emotionslos. Ich sah in Haider den geschicktesten politischen Taktiker im Land, der mit seinen Gegenspielern meist machte, was er wollte. Bei seinen polarisierenden Äußerungen interessierte mich vor allem, wie weit er gehen konnte. Ich entdeckte die schmale Grenze zwischen Applaus und Ekel bei solchen Äußerungen, und Haider als waghalsigen Grenzgänger zwischen den Fronten. Als Haider etwa im TV-Duell im Zuge der Nationalratswahl 1994 den damaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler Franz Vranitzky vor laufenden Kameras mit einem »Taferl« auf dem die Mehrfach-Einkommen eines SPÖ-Multifunktionärs angeführt waren, völlig aus der Fassung und aus dem Konzept brachte, war ich nicht nur fasziniert. Die dahinter steckende Machart solcher Aktionen und ihre Wirkungsweise beschäftigten mich intensiv.

Doch die Kluft zwischen mir und meinem Traumberuf erwies sich, als ich in die Hauptschule in der Bezirkshauptstadt Murau wechselte, noch größer, als es in der Laßnitzer Volksschule den Anschein gehabt hatte. Dort sah es für mich weder nach einer Laufbahn in der Politik, noch in irgendeinem anderen Bereich, der eine höhere Bildungslaufbahn voraussetzte, aus. Denn ich kam mit dem Schulwechsel schwer zurecht. Für einen Bauernjungen wie mich war Murau eine große fremde Stadt mit vielen unbekannten Gesichtern. Alleine in meiner Klasse waren jetzt mehr Schüler als bisher in der ganzen Schule, und insgesamt gab es hier mehrere Hundert. Das machte mir Angst. Ich zog mich in mich selbst zurück und wurde ein extrem schüchterner Junge.

Meine wenigen Freunde aus der Volksschule fanden rasch Anschluss und waren für mich schon bald keine Bezugspersonen mehr. Auch deshalb, weil ich im Unterricht weiterhin nur Mittelmaß war. Außer in Deutsch war ich in allen Fächern in der zweiten von drei Leistungsgruppen, während meine Kindheitsfreunde sich alle in der ersten Gruppe befanden. Dabei musste ich ständig fürchten, in die dritte Leistungsgruppe abzurutschen. Einmal sollte ich im Mathematik-Unterricht an der Tafel ein Beispiel vorrechnen. Ich hatte keine Ahnung und brach in Tränen aus. »Ich will nicht in die dritte Leistungsgruppe, ich will nicht in die dritte Leistungsgruppe«, schluchzte ich. In der dritten Leistungsgruppe wäre ich der einzige Schüler meiner Klasse gewesen, was auch daran lag, dass damals alle guten Schüler in die eine Klasse gesteckt wurden und die schlechten Schüler in die andere. Als Schüler des Mittelmaßes fiel ich diesem selektionsartigen Einteilungsprozess, der nur schwarz oder weiß kannte, zum Opfer. Für die schlechte Klasse war ich zu gut, und für die gute Klasse war ich zu schlecht. Am Ende landete ich in der guten Klasse, war dort aber der Schlechteste unter lauter Einser-Schülern.

Im Sport konnte ich auch nicht mithalten. Bei Völkerball oder Fußball wählten mich die anderen immer als wenn nicht Letzten, als Vorletzten unter großem Seufzen in die Mannschaft. Meiner ohnehin sensiblen Natur tat das gar nicht gut. Ich fühlte mich hilflos, ausgeliefert, allein gelassen und zog mich noch mehr zurück. Ich sprach während der ersten beiden Jahre in der Hauptschule mit fast niemandem meiner Mitschüler ein Wort.

Ab der dritten Klasse verbesserten der Deutsch- und der Geografie-Unterricht mein Selbstbewusstsein zumindest ein wenig. Beide Fächer unterrichtete eine Lehrerin namens Juliane Höfinger, die uns politische Bildung vermitteln und uns für das nationale und internationale politische Geschehen interessieren wollte. Die Erfolge der anderen Schüler in diesem Bereich waren mäßig, aber ich war aufgrund der elterlichen Prägung über alle politischen Entwicklungen genau informiert und sammelte so bei Juliane Höfinger Punkte. »Stefan hat es als Einziger gewusst«, sagte sie, wenn sie mit Verweis auf die darin enthaltenen politischen Fragestellungen unsere Tests zurückgab.

Es waren kleine Lichtblicke in meiner Isolation. Doch selbst bei diesen Gelegenheiten quälte mich das Stottern, das mir mittlerweile als Problem voll bewusst geworden war, und das mich alljährlich für einige Zeit heimsuchte, um dann ebenso leise und unauffällig wieder zu verschwinden, wie es gekommen war. Einmal war die Apartheid in Südafrika Thema. Nelson Mandela kam gerade frei, Frederik Willem de Klerk dankte ab und ein neues Zeitalter begann für das Land. »Wie hieß das abgelöste politische System in Südafrika?«, fragte Höfinger.

Schweigen in der Klasse. Ich wusste es aus den Nachrichten, die bei uns daheim nach wie vor Fixtermine für alle waren. Doch ich zögerte, meine Hand zu heben. Ich wusste wie jeder Stotterer, dass jedes Wort, das mit einem Vokal beginnt, besonders schwierig ist. Sekunden verstrichen. Juliane Höfinger streifte mich mit einem halb fragenden Blick.

Auf die Toleranz meiner Mitschüler in Sachen Stottern konnte ich in der Hauptschule nicht zählen. Besonders Klaus, der beliebteste Junge in unserer Klasse und Klassensprecher, war in dem Punkt gnadenlos. Er stellte mich regelmäßig bloß und hänselte mich dafür, was mein Problem nur noch schlimmer machte. Mir fiel auch keine Möglichkeit ein, das »A« in »Apartheid« durch eine andere Satzkonstruktion zu umgehen.

Ich lasse mich davon nicht unterkriegen, ich kriege das weg und dann werde ich Generalsekretär der FPÖ unter Haider, dachte ich während Höfinger das Wort in den Raum schmetterte, das ich die ganze Zeit im Kopf gehabt hatte.

Daheim sahen wir uns in dieser Zeit einmal eine Übertragung einer Nationalratssitzung an. Mein Vater saß in seinem Couchsessel und ich auf der Ofenbank direkt in seinem Rücken. »Weißt du, was ich mir wünsche?«, sagte er, mitten aus dem Nichts.

Ich erwartete eine der üblichen Belehrungen, dass ich mich mehr anstrengen sollte, damit etwas aus mir wird. Doch er hatte anderes im Sinn. »Ich wünsche mir, dass einmal einer meiner Söhne im Nationalrat sitzt«, sagte er. Er hätte das selbst auch gerne geschafft, aber für ihn hätte es sich nie ergeben. »Das würde mich sehr stolz machen«, sagte er.

Ich schwieg. Ich antwortete nur innerlich: Ja Papa, ich werde einmal dort sitzen. Das verspreche ich dir.

Ich war in diesem Moment sicher, dass jeder Mensch eine Bestimmung im Leben hatte, und dass meine trotz meiner Schulleistungen die Politik war. Diese Gewissheit in mir war so groß, dass ich trotz meiner Isolation und den damit verbundenen Demütigungen alle Probleme und Hürden als Aufforderung sah, härter zu arbeiten, härter zu kämpfen und alles zu unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen.

Ich fing an, dafür zu üben. Vor dem Badezimmerspiegel hielt ich Reden. Ich war vielleicht vor Menschen blockiert, aber das hinderte mich nicht daran, hier an meiner Mimik, Gestik und Rhetorik zu arbeiten. Ich stützte die Hände auf den Rand des Waschbeckens, das mir als Rednerpult diente, und legte los. Es waren keine konkreten politischen Themen, die ich da mit mir selbst besprach, ich übte eher die Stilmittel, Techniken und rhetorischen Kunstgriffe der Politiker. Ich studierte Gesten ein, Stehsätze und einzelne Bauteile. »Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir uns unserer Verantwortung im Bereich der Ausländer- und Sicherheitspolitik stellen. Hier geht es um den Schutz unserer Heimat Österreich!«

Die Fragen der Fernseh-Moderatoren an Politiker merkte ich mir, um damit vor dem Spiegel zu üben. Selbst beim Spielen oder bei Hofarbeiten murmelte ich politischen Argumentationen vor mich hin. Am meisten Inspiration holte ich mir von der FPÖ. Sie zeigte damals im Vergleich zu den anderen Parteien einen anderen, neuen und aggressiven rhetorischen Stil. Ich sah die FPÖ-Politiker Peter Westenthaler und Walter Meischberger Journalisten und politische Gegner regelrecht niederreden. Sie brachten im Fernsehen die Fragesteller meist schon aus dem Konzept, ehe die überhaupt richtig angefangen hatten.

In etwa dieser Zeit organsierte die FPÖ-Bezirkspartei von Murau eine Fahrt nach Wien mit einem Besuch des Parlaments. Mein Vater meldete sich und mich zu dieser Fahrt an. Wien war mir egal, nur das Innenleben dieses Gebäudes mit seinen wuchtigen Säulen und der steinernen Pallas Athene vor dem Eingang interessierten mich. Ehrfürchtig ging ich durch die langen Gänge und versuchte dabei mit allen Sinnen, die Eindrücke zu erfassen und einzuprägen, die sich mir boten. Ich sog die Luft auf, die nach dem alten Gemäuer dieses historischen Gebäudes roch und sah den verstreut vorbei eilenden Mitarbeitern und Abgeordneten, mit ihren Akten und Unterlagen unter dem Arm, hinterher. Als Höhepunkt lauschte ich an der Seite meines Vaters von der Besuchergalerie aus der gerade laufenden Nationalratssitzung im großen Plenarsaal. Ich sah das hölzerne Rednerpult mit den schwarzen Mikrofonknöpfen, um das sich wie in einer Arena die Sitzreihen der Abgeordneten auftürmten. Auf einem dieser Sessel werde ich sitzen, dachte ich. Von diesem Rednerpult aus werde ich sprechen. In diesem Haus werde ich arbeiten. Ich war überwältigt von dieser Flut an Eindrücken und fühlte mich dennoch zuhause und angekommen. Nur widerwillig räumte ich nach Aufforderung einer Saalordnerin meinen Platz auf der Galerie, um für die nächste Besuchergruppe Platz zu machen. Ich komme wieder, als einer von ihnen, sagte ich still in mich hinein, während mein Blick ein letztes Mal über die Reihen der Abgeordneten strich.

Als in der vierten Klasse die Nationalratswahlen 1994 vor der Tür standen, ließ uns Juliane Höfinger die Runde der Spitzenkandidaten im Fernsehen nachstellen. Jeweils ein Schüler sollte eine der Parteien vertreten, und dann würde die Klasse mit Stimmzetteln wählen. Beim Völkerball und beim Fußball wurde ich noch immer als Letzter in die Mannschaften gerufen, aber wenn es um die FPÖ ging, war ich der Erste. Es stand in der Klasse außer Streit, wer die FPÖ in dieser Diskussion vertreten sollte, den von meinem politischen Interesse wussten längst alle. »Das macht der Stefan«, hieß es.

In den nächsten Tagen bereitete ich mich intensiv darauf vor. Ich las Hintergrundinformationen und übte wuchtige Ansagen über die rot-schwarze »Freunderlwirtschaft« und die »Privilegienritter« ein. Bepackt mit Unterlagen ging ich in die Diskussion.

Für die SPÖ trat Klaus an, der auch unser Klassensprecher war. Es war meine Chance, mich für die Jahre der Ausgrenzung zu revanchieren. Mir war klar, dass sich niemand so intensiv auf diese kleine Übung in der Klasse vorbereitet hatte wie ich, dass ich in politischem Wissen allen anderen überlegen war und dass es mir leicht fallen würde, meine Gegner rhetorisch zu besiegen. Nun konnte ich zeigen, was ich die Jahre zuvor heimlich zuhause vor dem Spiegel wieder und wieder geübt und geprobt hatte. Nur eines konnte mich noch stoppen: Das Stottern. Ich wusste aber auch, ich konnte diese Sprachbarriere überwinden, wenn ich nur wollte und die Angst davor überwand.

Mit voller Konzentration legte ich los. Der erste Satz gelang mir perfekt, der zweite ebenfalls. Damit war der Damm gebrochen und die Worte und Sätze sprudelten nur so aus mir heraus. Klaus knickte ein, als ich Argument um Argument und Beispiel um Beispiel brachte. »Mit solchen Mitteln arbeitet ihr! Das ist ein Skandal!«, sagte ich einmal, während ich ein Plakat der Sozialistischen Jugend hochhielt. »Inländer sind faul und stinken«, stand darauf. Es war ein Versuch der Sozialistischen Jugend gewesen, die Diktion der FPÖ zu karikieren, doch im Getöse eines Nationalratswahlkampfes hat solche Ironie keinen Platz und die Sache war für die SJ nach hinten losgegangen. Die FPÖ hatte das Plakat sogar groß in ihrer Parteizeitung abgedruckt. »Das ist also eure Meinung über uns«, sagte ich in Richtung Klaus, »dass wir faul sind und stinken.«

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