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Kapitel 4

22. Mai

»Rechts ran, du Schnarchnase!«, brüllte Tim.

»Nun mal sachte«, sagte Mark. »Wo soll er denn hin?«

»Weg.« Tim hieb auf die Hupe, aber deren Laut ging im Lärm des Einsatzhorns unter. Quälend langsam sortierten sich die Autos vor ihnen, bis sich der Rettungswagen endlich wieder in Bewegung setzen konnte.

»Nur Sonntagsfahrer unterwegs«, brummte Tim, lehnte sich vor und blickte links und rechts in die Kreuzung, bevor er über die rote Ampel fuhr.

»Rechts ist frei«, sagte Mark. »Hast du schlecht geschlafen oder was?«

»Nee. Weiß nicht. Nicht mein Tag.«

»Wir sollten dich in die Leitstelle setzen, dann traut sich keiner mehr, die 112 anzurufen.«

»Ist ja gut. Wir sind da.«

Die Leitstelle hatte ihnen eine »Hilope« hinter dem Einkaufszentrum Hamburger Meile gemeldet – eine hilflose Person. Das konnte alles Mögliche heißen, aber in den meisten Fällen bedeutete es einen sturzbesoffenen Patienten.

Und auch dieses Mal wurden ihre Erwartungen nicht enttäuscht.

Als sie ausstiegen, wurden sie von einer besorgten jungen Frau auf ein paar Füße aufmerksam gemacht, die aus einer Hecke ragten. »Ich habe ihn gefragt, ob es ihm gut geht, aber er antwortet nicht richtig«, sagte sie. »Er macht einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Ich will ihm nicht Unrecht tun, aber ich glaube, er ist betrunken.«

»Na, dann schauen wir ihn uns mal an.« Mark dankte der jungen Frau, die davoneilte, froh, die Verantwortung los zu sein.

Den Patienten hätten sie auch ohne die Füße in der Hecke schnell gefunden: immer dem Geruch nach. Eine wilde Mischung aus verschüttetem Fusel, Eau de Ungewaschen und altem Urin.

Sie traten an die kniehohe Hecke, über die ihr Kunde offenbar hintenüber gekippt war. Er war weich auf einem Bett aus immergrünen Bodendeckern gelandet und schien kein Problem damit zu haben.

»Mohoin!«, sagte Mark. »Alles klar bei dir?«

Der Angesprochene, dessen Aussehen seinem Geruch um nichts nachstand, lallte heiser. Tim und Mark zogen Latexhandschuhe an und stiegen über die Hecke in das Beet. Sie fassten den Mann unter den Armen und setzten ihn auf.

»Wir haben heute aber reichlich früh angefangen, was? Ist ja noch nicht mal elf.«

»Kannst du stehen?«, fragte Tim.

Der Mann öffnete mühsam die Augen, blinzelte Tim an und fluchte auf Russisch. Oder Polnisch. Oder so. Tim hielt die Luft an, denn der Mundgeruch des Mannes war noch unerträglicher als seine sonstigen Ausdünstungen.

»Sprichst du Deutsch?«, fragte Mark.

»Hä?«

»Deu-heutsch!«, sagte Tim. »Verstehst du mich?«

»Fick dich in Arsch, Hurensohn!«, lallte der Mann.

»Dir auch einen schönen guten Morgen. Aufstehen?«

»Fick dich!«

»Eins, zwei, drei!« Sie hoben den Mann auf die Beine.

»Na bitte, geht doch«, sagte Mark zufrieden. Ein Besoffener, der noch auf zwei Beinen stehen konnte, war nichts für den Rettungswagen und damit auf jeden Fall erfreulich.

Ihr Schützling wirkte weniger enthusiastisch. Er riss sich von Mark los und schlug mit der Faust nach Tims Gesicht, der ihn mit dem Unterarm abwehrte.

»Hey, was soll der Scheiß?« Tim stieß den Kerl von sich.

Der Mann taumelte rückwärts durch das Beet, brachte aber das Kunststück fertig, nicht umzufallen. »Fick dich, Hurensohn!«, brüllte er.

Tim hatte die Nase voll. »Schluss jetzt, Mann, benimm dich!«

Der Betrunkene lallte etwas, das wie »Hau auf Maul« klang, es konnte aber auch Russisch sein. Er holte wieder aus und machte einen Schritt auf Tim zu.

Tim trat zur Seite und sah seelenruhig zu, wie der Kerl das Gleichgewicht verlor, über die Hecke fiel und lang hinschlug. Vom Alkohol aller Schutzreflexe beraubt, bremste nur sein Gesicht den Sturz.

»Super«, sagte Mark. »Ganz toll, danke.« Er sprang über die Hecke, drehte den Mann auf die Seite und untersuchte ihn. Blut lief ihm aus der Nase, eine heftige Schürfwunde zierte seine Stirn.

»Was denn? Hätte ich mir noch eins in die Fresse geben lassen sollen?« Tim öffnete den Notfallrucksack und entnahm ihm Packungen mit Zellstoff-Mullkompressen, die er aufriss und Mark reichte.

»Lass uns das im Wagen diskutieren. Denn jetzt, und dafür noch einmal vielen Dank, haben wir den Knaben endgültig an der Backe.«

Der Besoffene pöbelte und ruderte mit den Armen. Offenbar hatte er die Verletzung noch nicht bemerkt – kein Wunder bei seinem Pegel. Tim holte die Trage, und ohne viel Federlesens packten sie den Mann bei den schmutzstarrenden Klamotten und hoben ihn darauf. Eine erneute osteuropäische Schimpfkanonade war die Folge. Sie schnallten ihn fest und schoben ihn in den Wagen, aber er ruderte wild mit Armen und Beinen, versuchte, sich an allem festzuhalten, was ihm in die Finger kam, und lallte Obszönitäten in verschiedenen Sprachen.

»Mann, jetzt halt doch einfach mal die Flossen still«, schnauzte Tim. »Glaubt du, uns macht das Spaß?«

Endlich hatten sie die Trage drin. Sie kletterten hinterher und schlugen die Türen zu. Tim ging ans Kopfende und tastete dem Mann den Gesichtsschädel ab, um festzustellen, ob etwas gebrochen war. Auch das stieß auf wenig Gegenliebe.

»Hast du mich gerade angespuckt?«, brüllte Tim. »Hast du mich ernsthaft gerade angespuckt? Versuch das noch einmal, und du lernst mich richtig kennen, Freundchen!«

»Heil Hitler«, grölte der Penner und knallte Tim den ausgestreckten Arm an den Kopf.

»So, jetzt ist Feierabend, Junge, ich …«

Mark packte Tim am Kragen und zog ihn vom Patienten weg. »Schluss jetzt, klar? Geh nach vorne und fahr los!«

»Mann, der Wichser hat versucht, mich anzuspucken!«

»Der Typ ist nicht das erste und nicht das letzte Arschloch auf dieser Trage. Reiß dich zusammen!«

»Ist ja gut.« Er schaute ihren Patienten an. »Und wehe, du kotzt mir in den Wagen! Ich feudel den mit dir aus, klar?«

»Fick dich, Hurensohn!«

Tim zeigte ihm den Mittelfinger und stieg aus, um zum Fahrerhaus zu gehen.

Sie brachten den Mann ins Krankenhaus Barmbek und kippten ihn dort nach der Übergabe unzeremoniell von der Trage auf eine der gummiüberzogenen Matratzen auf dem Boden des Ausnüchterungsraums. Das hatte Vorteile: Man musste die Patienten nicht noch einmal anfassen, und wenn man es geschickt anstellte, landeten sie recht sanft in der stabilen Seitenlage.

Zurück im RTW steckte Mark den Schlüssel ins Zündschloss, ließ den Wagen jedoch nicht an, sondern drehte sich zu Tim. »Was ist los mit dir?«

»Was soll los sein?«

»Junge, du kannst ein ziemliches Arschloch sein, aber heute bist du echt ein Mega-Arschloch.«

»Danke für die warmen Worte.«

»Du weißt, was ich meine. Liegt’s immer noch an deiner missglückten Liebschaft?«

»Quatsch, die kann mich an die Füße fassen. Und außerdem ist das meine Sache.«

»Ist es nicht, wenn es dich zum Arschloch macht. Du solltest darüber reden.«

»Bist du jetzt meine beste Freundin?«

»Ich bin zwar schwul, aber aufs Maul hauen kann ich dir trotzdem.«

»Ist ja gut. Nein, das ist es nicht.« Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. »Petra hat gestern angerufen.«

»Sag nicht, sie hat schon wieder das Wochenende abgesagt.«

»Wundert dich das?«

»Mich wundert, dass du dir das gefallen lässt.«

»Was soll ich denn machen?«

»Dich nicht verarschen lassen.«

»Brillante Idee, danke. Können wir dann?«

Mark machte keine Anstalten, den Wagen zu starten.

»Was ist?«, fragte Tim. »Möchtest du noch ein paar von meinen Problemen lösen? Wir könnten mit dem Koffeinmangel anfangen.«

»Das ist nicht der einzige Grund.«

»Was?«

»Petra. Das kenne ich. Du brüllst den Verkehr an, du fährst wie ein Henker und du bist unausstehlich.«

»Ich fahre nicht wie –«

»Aber du lässt es nicht an den Patienten aus. Niemals.«

»Hör mal, der Typ hat’s verdient.«

»Bestreite ich nicht. Trotzdem ist das nicht deine Art. Macht dir der Einsatz am Flughafen zu schaffen?«

Tim zuckte die Schultern. »Nee. Nicht direkt.«

»Das klingt nicht überzeugend. Brauchst du wen zum Reden?«

»Quatsch. Alles im Lack. Aber irgendwie lässt mich die Sache nicht los.«

»Was für eine Sache? Der Einsatz? Deine Frau Kommissar?«

Tim schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen. »Das ist es nicht. Ich komme einfach nicht drauf.«

»Dass die Notärztin dich angeflirtet hat?«

»Hat sie?«

»Ich bitte dich!«

»Nein, es ist … Kennst du dieses Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt, aber du weißt nicht, was?«

»Du meinst, außer dass ein Terrorist sich und das halbe Terminal 1 in die Luft gesprengt hat?«

Etwas machte »klick« in Tims Kopf. »Doch. Genau das.«

»Was willst du damit sagen?«

»Wenn du ein Islamist wärst und Ungläubige mit in den Tod reißen wolltest, wo würdest du das machen?«

»Na ja, Flughafen ist schon mal –«

»Turkish Airlines?«

Mark dachte kurz nach. »Eher nicht.«

Tim setzte sich kerzengerade auf. »Warum ist mir das nicht vorher aufgefallen? Das ist doch total widersinnig!«

»Bist du jetzt unter die Detektive gegangen? Vielleicht ist was schiefgelaufen. Terminal verwechselt oder Bombe zu früh explodiert.«

»Aber …«

»Ich bitte dich, Miss Marple, meinst du nicht, die von der Polizei kommen da von selbst drauf? Oder die vom Verfassungsschutz? Das sind Profis.«

»Und wenn nicht?«

»Und wenn doch? Tim, Selbstmordattentäter sind Idioten! Wer, der bei klarem Verstand ist, sprengt sich selbst in die Luft? Wie klar könntest du denken mit zehn Kilo Sprengstoff um den Bauch?«

Tim dachte nach. »Wahrscheinlich hast du recht.« Er drückte den Knopf für die Statusmeldung »wieder einsatzbereit« am Funkgerät.

Fast augenblicklich meldete sich die Leitstelle: »23 Berta für Florian Hamburg.«

Tim nahm den neuen Einsatz an, froh darüber, nicht weiter über das Thema reden zu müssen. Womöglich wäre das Gespräch erneut auf Marie gekommen, und darauf hatte er gar keine Lust.

Kapitel 5

22. Mai

Marie und die anderen Mitglieder der Mordbereitschaft – Harald, Johannes und Markus – saßen im Besprechungsraum und warteten auf ihren Chef. Es war 16.37 Uhr, auf 16.30 Uhr hatte Thewes eine Besprechung angesetzt.

»Hat Arthur gesagt, dass er später kommt?«, fragte Johannes.

Harald schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«

»Komisch. Ist doch sonst nicht seine Art.«

Die Tür flog auf und Arthur Thewes stürmte herein. »Sorry«, keuchte er, »bin zu spät.«

»Macht nichts«, sagte Johannes. »Kaffee?«

»Lieber ein Wasser. Danke!« Er nahm das angebotene Glas und trank es in einem Zug aus. »Wie sieht’s aus, was gibt’s Neues?«, fragte er.

»Es ist jetzt gesichert, dass die Bombe in dem Koffer war«, berichtete Markus. »Die Experten haben den Typ des Sprengstoffs ermittelt: Triacetontriperoxid, kurz TATP. Spitzname: ›Mutter des Satans‹. Hauptzutaten sind Nagellackentferner und Haarbleichmittel – einfach zu beschaffen, simpel in der Herstellung und hochwirksam. Es wurde bei den Terroranschlägen in London 2005 und Paris 2015 benutzt.«

»Also eine Substanz, mit der Islamisten Übung haben«, fügte Johannes hinzu.

»Nachteil: Der Sprengstoff ist höchst instabil. Erschütterung, Hitze oder Reibung reichen, und das Zeug fliegt einem gnadenlos um die Ohren.«

»Nichts für Amateure«, sagte Arthur.

»In der Handhabung nicht, in der Herstellung schon.«

»Was sagen die Kollegen vom Staatsschutz? Spricht das für Islamisten?«

»Bedingt«, antwortete Markus. »Wie Johannes sagte: Es wird gerne vom IS verwendet, aber die haben kein Copyright darauf. Der Tatmodus ist nicht sehr typisch für Islamisten, doch wir wissen ja, dass die in Europa eher lose organisiert sind. Es gibt, sagen die Staatsschützer, kein verbindliches Handbuch für Sprengstoffanschläge. Abweichungen im Vorgehen sind zu erwarten.«

»Wie steht es mit dem Zünder?«

»Noch nichts. Die Kriminaltechnik arbeitet daran, zusammen mit einigen Spezialisten vom BKA.«

»Gut. Was machen die Vernehmungen?«

»Marie und ich waren bei der Familie des Gemüsehändlers Ibrahim Kabaoglu«, sagte Harald.

»Hat sich der Verdacht auf seine Täterschaft erhärtet?«

»Nicht wirklich.« Marie und Harald berichteten von ihren Vernehmungen und der Suche nach Altay Kabaoglu.

»Scheint, als wäre der Sohn eine heiße Spur«, sagte Arthur. »Was meint ihr?«

»Kann sehr gut sein«, sagte Marie. »Es ist auf jeden Fall vielversprechender als alles, was wir bisher hatten. Ibrahim Kabaoglu können wir nicht hundertprozentig ausschließen, aber wenn du mich fragst – ich glaube nicht, dass er’s war.«

»Was sagt POLAS über den Sohn?«

POLAS, das Polizei-Auskunftssystem, enthielt zu allen polizeilich bekannten Personen Daten wie Anschrift, Straftaten, verbüßte Haftstrafen und mehr. Das digitale Kerbholz jedes Sünders, den die Polizei in die Finger bekommen hatte.

»Nichts. Wir gehen gleich hoch zu den Kollegen vom Staatsschutz, vielleicht wissen die mehr.«

»Gut, macht das.« Arthur Thewes schabte sich mit der Hand über die Bartstoppeln am Kinn. »Ich schätze, ich schulde euch eine Erklärung, warum ich mir ausgerechnet heute den halben Tag freigenommen habe.«

Harald winkte ab. »Du wirst deine Gründe haben.«

»So ist es. Die beste Freundin meiner Frau war gestern am Flughafen.«

»Oh, Scheiße«, entfuhr es Markus, sein Partner nickte.

»Kann man wohl sagen. Dorothee hatte Frühschicht am Infoschalter in Terminal 1. Ihr könnt euch vorstellen, dass sie ordentlich was abgekriegt hat.«

Marie erinnerte sich an die türkische Stewardess. »Was ist mit Dorothee passiert?«, hatte sie gefragt. Jetzt wussten sie es. »Furchtbar«, sagte sie.

»Ja, ist es. Sie liegt im künstlichen Koma, und die Ärzte haben keinen Schimmer, was passiert, wenn sie versuchen, sie zu wecken. Susanne sitzt die eine Hälfte des Tages im Krankenhaus, die andere kümmert sie sich um Dorothees Mann und ihre Tochter.«

»Schon in Ordnung, wenn du dir freinimmst und Susanne unterstützt«, sagte Harald.

»Wenn’s nur das wäre. Ich muss mindestens zweimal am Tag mit der blöden Töle raus.«

Die blöde Töle hieß eigentlich Minnie, war eine Hundedame und Arthurs Zugeständnis an seine Frau, weil er ständig Überstunden machte. Auslöser waren Karten für die Elbphilharmonie gewesen, die Arthur zum Hochzeitstag mühsam und vermutlich unter Einsatz seiner Dienstwaffe beschafft hatte, die er aber wegen eines ganz mies getimten Doppelmords sausen lassen musste. Susanne war letztendlich mit Dorothee gegangen. Der Dorothee.

»Ach herrje«, sagte Harald, »mein Beileid!«

»Keine dummen Scherze, Dorothee ist schwer in Ordnung«, mahnte Arthur. »Ich mach’s ja nicht wegen der Töle, ich mach’s für Dorothee. Und Susanne natürlich.«

Klar. Wenn Marie sich recht erinnerte, war das grundlegende Problem mit der Töle, dass sie und Arthur einander heiß und innig liebten, was weder ihm noch Susanne recht war. Vor Zeugen würde er niemals zugeben, dass Minnie sein Herz im Sturm erobert hatte. Arthur gab nicht einmal zu, dass er überhaupt ein Herz hatte.

»Ein Grund mehr, diesen Fall so schnell wie möglich aufzuklären. Ich bin es Dorothee schuldig. Und ihr seid es mir schuldig. Bevor mich das Vieh wahnsinnig macht. Also, an die Arbeit.« Er stand auf.

Es klopfte und ein Kollege streckte den Kopf herein. »Ist Marie hier? Besuch für dich.«

»Besuch? Wer?«

Der Kollege stieß die Tür auf und trat beiseite, um dem Gast Platz zu machen.

Sie stöhnte. »Was willst du hier?«, fragte sie.

»Kann ich dich sprechen?«, fragte Tim. »Es hat mit dem Fall zu tun. Am Flughafen.«

Harald klopfte auf den Tisch. »Kollegen, wir haben zu tun. Marie, der Raum gehört dir.« Er ging hinaus, Arthur, Johannes und Markus folgten ihm, nicht ohne einen fragenden Blick auf Tim zu werfen.

Marie machte die Tür hinter ihnen zu. »Sag mal, hast du noch alle Tassen im Schrank? Mich hier im Büro zu stalken? Hast du eine Ahnung, wie viel wir hier um die Ohren haben?«

Tim verschränkte die Arme. »Jetzt mach mal halblang. Stalken – du hast doch einen an der Waffel.«

»Was willst du?«

»Wie gesagt: über den Fall reden.«

»Aha. Über den Fall.«

Tim warf sich auf einen der Stühle und stützte die Unterarme auf den Tisch. »Mir sind da ein paar Sachen aufgefallen.«

Marie lehnte sich an die Wand und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich höre.«

»Hast du mal darüber nachgedacht, wo genau die Bombe losgegangen ist?«

»Was?«

»Wo die Bombe losgegangen ist. Am Flughafen.«

»Komm, zieh hier keine Show ab. Worauf willst du hinaus?«

»Turkish Airlines.«

»Und?«

»Wieso sprengt ein Islamist ausgerechnet den Schalter der einzigen Airline in die Luft, die aus einem islamischen Land stammt?«

Marie stutzte einen Moment, dann fing sie sich wieder. »Wie kommst du auf die Idee, dass es ein islamistischer Anschlag war?«

»Sag mir nicht, dass ihr das nicht auch glaubt.«

»Du bist hier bei der Polizei, nicht in der Kirche. Wir brauchen Beweise.«

»Trotzdem. Seltsam, oder?«

»War das alles?«

Tim schwieg.

»Nochmal: Ist noch was?«

»Ist ein bisschen dumm gelaufen am Flughafen, oder?«, brummte er.

Sie stieß sich von der Wand ab. »Was?«

»Dumm gelaufen«, wiederholte er. »Mit uns beiden.«

»Mann, mit uns beiden ist schon viel früher was Dummes gelaufen.« Sie schüttelte den Kopf und lachte auf. »Ich fasse es nicht. Du kommst wirklich hier ins Präsidium und stalkst mich. Unglaublich.«

»Ich stalke nicht, ich würde nur gerne wissen –«

»Ich nicht«, sagte sie und öffnete die Tür.

Tim stand mit einem Seufzen auf, stützte sich auf den Tisch und sah Marie eindringlich an.

»Ich habe viel zu tun. Wenn du …«

»Ihr seid tatsächlich noch nicht auf die Idee gekommen, oder?«

»Was?«

»Turkish Airlines. Ich hab’s an deiner Reaktion gesehen. Du bist eine lausige Pokerspielerin.«

»Komm, lass gut sein. Wir machen unsere Arbeit, du machst deine.«

Er ging an ihr vorbei auf den Flur, sie folgte ihm und begleitete ihn zum Ausgang, wie es Vorschrift war. Im Fahrstuhl schaute sie demonstrativ an ihm vorbei, spürte aber genau, dass er sie ansah. Die 20 Sekunden vom dritten Stock bis ins Erdgeschoss zogen sich ewig hin. Als sich die Türen endlich öffneten, ging sie rasch voran zur Ausgangsschleuse.

Der Summer ertönte, Tim ging hindurch. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Marie, ich –«

»Vielen Dank für Ihre Information. Wir sind auf aktive Hilfe aus der Bevölkerung angewiesen und werden Ihrem Hinweis gewissenhaft nachgehen.«

Er schüttelte den Kopf und ging.

Der Kollege hinter der Glasscheibe der Pförtnerloge sah Marie sehr seltsam an.

Vor dem Ausgang des Polizeipräsidiums blieb Tim stehen und holte tief Luft. Was hatte er dieser undankbaren Zicke getan? Was glaubte die, wer er war? Als ob er es nötig hätte, einer Frau hinterherzulaufen.

Er blinzelte hoch zum dritten Stock, hinter dessen spiegelnden Fenstern sich die Mordkommission befand. Nein, entschied er, das war die beste Nacht nicht wert.

Mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Blick auf die Füße gerichtet, stapfte er die Zufahrt hinunter. Abzublitzen war die eine Sache, aber derartig von der Platte geputzt zu werden, war mies.

An der Einfahrt hob er den Kopf und blickte geradewegs in den Scheinwerfer eines Kamerateams. Auch das noch. Der Reporter deutete auf das Polizeipräsidium und sagte irgendwas von »hoch qualifizierten Spezialisten, die jedem Hinweis aus der Bevölkerung sorgfältig nachgehen«. Tim schnaubte unwirsch und drehte zum Fußgängerausgang ab, der Reporter eilte ihm hinterher.

Draußen auf der Straße sprach er Tim an. »Sie haben kein Vertrauen in das Ermittlerteam, wie es scheint«, stellte er fest.

Tim blickte rasch zum Kameramann, aber der hatte die Kamera von der Schulter genommen. »Na ja«, sagte er, »sagen wir mal so: nicht in jedes Mitglied.«

»Sind Sie selbst dabei?«

Tim lachte. »Gott bewahre, nein!«

»Aber Sie sind mit der Sache befasst.«

Eine Idee keimte in Tim auf. »Ich war bei den Einsatzkräften, die gestern Morgen am Flughafen waren.« Was ja nicht gelogen war.

»Großartig.« Der Reporter winkte seinen Kameramann heran. »Ich würde Ihnen gerne für unsere Zuschauer ein paar Fragen stellen.«

»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas erzählen kann, das Sie noch nicht wissen.«

»Schauen wir mal. Was haben wir zu verlieren außer fünf Minuten für das Interview?«

Tim kratzte sich am Kopf. »Also, ich weiß nicht.«

»Meinen Sie nicht, dass Sie mir das schulden, nachdem Sie mir die letzte Aufnahme versaut haben?«

»Habe ich? Oh, das tut mir leid.«

»Das ist Ihre Chance, es wiedergutzumachen.« Er gab dem Kameramann ein Zeichen, ohne auf eine Antwort von Tim zu warten. Der Mann hatte Biss.

Er hob das Mikro und schaute in die Kamera. »Ich befinde mich hier vor dem Polizeipräsidium, nur wenige Kilometer vom Hamburger Flughafen entfernt, wo gestern Morgen ein schreckliches Attentat Deutschland erschütterte. Neben mir steht Herr …«, er hielt Tim das Mikrofon hin.

»Ähm … Tim Roth.«

»Herr Roth war unter den ersten Einsatzkräften, die den Ort der Tragödie erreicht haben. Was können Sie uns zum Hergang des Anschlags sagen?«

»Es gab eine Explosion in Terminal 1, in der Nähe des Check-in von Turkish Airlines.«

Er versuchte, die letzten Worte besonders bedeutsam klingen zu lassen. Wenn Marie schon nicht auf ihn hörte, dann vielleicht die Presse. »Wir stellen uns die Frage, ob das von Bedeutung ist«, ergänzte er.

Aber der Reporter überging den Satz. »Gibt es Erkenntnisse, wo die Bombe untergebracht war? Handelt es sich um einen Selbstmordattentäter?«

»Das … Also, das entzieht sich meiner Kenntnis.«

»Es soll angeblich ein Überwachungsvideo geben, auf dem zu sehen ist, dass zwei Männer um einen Koffer kämpfen. Können Sie uns dazu etwas sagen?«

Das war Tim neu. Aber ihm fiel ein, was Lars über seinen Patienten, diesen Boskop, gesagt hatte: »Der war genau da, wo’s geknallt hat.« Und Boskop hatte etwas von einem Koffer und einem Streit gefaselt. Die Puzzleteile passten.

»Möglich wäre das«, sagte er langsam.

»Können Sie uns Genaueres zum Ablauf sagen? Hat eventuell einer der Männer versucht, den Anschlag zu verhindern? Sind die beiden Männer unter den Toten?«

»Wir vermuten stark, dass einer der Männer zwar schwer verletzt ist, aber überlebt hat.«

»Obwohl er so nahe bei der Explosion war?«

»Also … Ja.«

»Wie können Sie sich das erklären?«

»Er … er hätte tot sein müssen.«

»Aber er lebt.«

Tim schüttelte nachdenklich den Kopf. »Er hätte tot sein müssen«, murmelte er mehr für sich.

Der Reporter drehte sich zur Kamera. »Was für eine spektakuläre Wendung. Es scheint, dass ein unmittelbarer Zeuge der Tat überlebt hat. War er der Attentäter? Oder hat er versucht, den Anschlag zu verhindern?«

Die nächste Frage richtete er wieder an Tim. »Schwebt er noch in Lebensgefahr? Glauben Sie, dass er bald vernommen werden kann?«

Tim hob die Hände. »Da bin ich überfragt.«

»Vielen Dank, Herr Roth.« Der Reporter gab dem Kameramann einen Wink und beendete das Interview.

»Und Sie meinten, Sie können mir nichts Neues erzählen.« Er zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Hemds und reichte sie Tim. »Falls Sie noch mal nichts zu erzählen haben.«

Tim las die Karte. Martin Kolditz, freier Journalist. Er steckte sie ein. »Beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte er. »Von dem Video wusste ich noch nichts.«

»Nicht? Bei welchem Dezernat arbeiten Sie denn?«

»Feuerwehr.« Tim grinste.

»Feuer…« Kolditz schüttelte den Kopf, dann lachte er. »Sie haben mich ganz schön verladen.«

»Habe ich das? Ich habe nicht gelogen!«

»Nein, das haben Sie nicht. Mal sehen, vielleicht kann ich die Informationen trotzdem gebrauchen.«

»Machen Sie damit, was Sie wollen.«

Das hätte Tim nicht sagen sollen.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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9783839266984
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