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Langsdorf hat jener Höhe unmittelbar vor den Toren der Kernstadt lediglich den Namen geliehen. Am Mittwoch, dem 28. August, befanden sich ungewöhnlich viele Licher auf dem Weg dorthin. Das Langsdorfer Bürgerhaus war gerammelt voll, es fasst bis zu 700 Menschen. Schon in vier Wochen würde das Stadtparlament in Lich endgültig über das Mammutprojekt entscheiden. Jetzt aber waren die Bürger an der Reihe. Die Zeit drängte.

Eine berufliche Verpflichtung hatte mich in mein geliebtes Berlin entführt. Ich blieb dort eine ganze Woche und besuchte in meiner Freizeit meine alten Wohn-, Studien- und Arbeitsorte. Sie wissen schon – manchmal, wenn der aktuelle Alltag erdrückend wird, schwelgt man gerne in alten Jugenderinnerungen. Deshalb also konnte ich an der Versammlung nicht teilnehmen.

So berichteten mir später bei einem BfL-Meeting Ben und weitere Mitstreiter über den Verlauf. Für sie war die Veranstaltung „einfach nur peinlich gewesen“, wie Heiner Koschka sagte. „Es hat gezeigt, mit welcher bürokratischen Stumpfheit und Empathielosigkeit über solch eine für unsere Stadt gravierende Baumaßnahme entschieden wird. Es war sehr ernüchternd, Stefan!“

Ich schätzte Heiners Urteil, weil er in den letzten Wochen, seitdem ich ihn kennen lernen durfte, mit großer Sachbezogenheit diskutiert hatte. „Wie lief denn die Versammlung ab? Gab es einen neutralen Moderator?“, fragte ich.

„Natürlich nicht“, antwortete Marietta. Sie war Heiners Gattin und engagierte sich seit Anfang des Jahres gegen »das Monster«. Sie nahm die Begriffe »Logistikzentrum« oder »Langsdorfer Höhe« schon seit langem nicht mehr in den Mund und sprach nur noch vom »Monster«. „Weißt du, Stefan, anfangs langweilte der Bürgermeister mit einer dreißigminütigen Vorlesung über die Geschichte des Baugebietes, was niemanden interessierte. Dann ermüdete er uns mit einem langen Vortrag über Baubestimmungen und über all die vielen Paragraphen und dann mit einem ellenlangen Bericht über Verkehrslenkung. Solche Ermüdungsstrategien hat er wohl in seiner Partei erlernt.“

„Aber es sollte eigentlich doch darum gehen, ob es überhaupt zumutbar ist, den Bürgern ein solches Mammutprojekt mit seinen monströsen Auswirkungen generell vor die Stadttore zu setzen, oder?“, sagte ich mehr erzürnt als erstaunt.

„Genau deshalb wurde das Publikum auch langsam ungeduldig und teilweise aufgebracht“, sagte Heiner. „Jemand aus dem Publikum rief: ‚Was Sie da anpreisen, Herr Groß, klingt wie ein unvermeidbares Naturereignis, dem man sich zu fügen hat.‘ Darauf ging Groß freilich nicht ein. Nachdem der nicht enden wollende Podiumsmonolog seinen Abschluss gefunden hatte, eröffnete der Parteigenosse des Bürgermeisters, der Stadtverordnetenvorsteher Herr Lügge, den Rest des Abends mit den Worten, man solle sich kurz fassen, weil ja alle nach Hause wollten und es sei ja zu warm und zu voll.“

Es schien mir unfassbar, wie hier offensichtlich versucht worden war, die Energie der Leute verpuffen zu lassen und sie systematisch zu ermüden. Man konnte ganz sicher auch von »zermürben« sprechen. „Hattet ihr keine Gelegenheit, die Stellungnahmen von BfL, NABU und LICHerleben darzulegen?“

„Es waren Fragen an die Fachleute erlaubt, wirklich nur Fragen“, sagte Marietta. „Eigene Meinungen, Informationen und Interpretationen hat das Podium des Bürgermeisters immer wieder abzuwürgen versucht, aber nicht immer verhindern können. Jedenfalls stellten wir uns so keine Bürgerversammlung vor.“

„Genau“, ergänzte ihr Mann. „Wir leben zwar in einer repräsentativen Demokratie, das heißt aber nicht, dass unsere Repräsentanten, wenn sie einmal gewählt sind, sich nach ihrem Gusto völlig undemokratisch austoben können.“

An dieser Stelle muss ich vorab etwas einwenden. Um diese Dinge später in unserer neuen Republik sinnvoll und gerecht zu regeln, mussten auch wir lange und intensiv diskutieren. Aber damals, im Frühjahr 2023, hatten wir im Gegensatz zu 2019 eine prima Lösung gefunden.

„Und weiter? Wie ging es weiter?“, fragte ich und wandte mich Ben zu, der uns in seinem Samowar gerade einen Tee zubereitet hatte.

„Den etwa 700 Bürgern in der Volkshalle den Mund verbieten zu wollen, war schlichtweg eine Frechheit“, erklärte Ben. „Dabei ging es den meisten Anwesenden überhaupt nicht darum, Fragen zu den bewusst undurchsichtig gehaltenen Paragrafen, verwirrend dargestellten Bestimmungen und völlig deplatzierten historischen Abhandlungen zu stellen. Dann folgte ein undurchsichtiges Zahlengewirr. Es war aber völlig für die Katz. Denn das eloquent vorgetragene Zahlenspiel lässt sich letztlich nur auf dem Papier vollumfänglich beurteilen und nicht, wenn einem die Zahlen ohne Visualisierung um die Ohren fliegen.“

Heiner Koschka nickte zustimmend. „Aber auch die Stadtverordneten, die doch besten Zugang zu den Daten haben sollten, konnten dem im Schnelldurchgang präsentierten Zahlenwerk nicht folgen“, ergänzte er. „Selbst ihre Prognosen haben sich ja in den letzten Monaten permanent verändert. Den meisten Bürgern in und vor dem Saal ging es darum, ihre Meinung und alternativen Vorschläge vorzubringen und die Stadtverordneten zum Umdenken zu bewegen. Aber dem Stadtchef ging es nur um eines: Verwirrung.“

Ich war fassungslos, weil man die gutgläubigen Menschen wieder einmal so hingehalten hatte. Aber noch fassungsloser war ich, als Ben mir über ein Schmankerl am Rande berichtete: „Ich traute meinen Augen nicht, als ich Birgit Karstadt, die Reporterin von der Mittelhessischen Allgemeinen, das Podium besteigen sah. Was hat die jetzt da oben zu suchen, fragte ich mich, und dann sah ich, was sie suchte. Den engen Kontakt! Sie ging völlig ohne Scham auf den Bürgermeister zu, umarmte ihn herzlich, ein Bussi links, ein Bussi rechts, alles auf offener Bühne. Neutrale Presse, dachte ich. Träum‘ ich oder seh‘ ich nicht recht: Die Frau Karstadt, die in ihren redaktionellen Beiträgen immer darauf achtet, dass die Bürgereinwände nicht zu Wort kommen. Dafür der verehrte Herr Bürgermeister umso mehr. Daher wehte also der Wind.“

Puh, das war selbst mir nicht geheuer und ich dachte, wie blöd muss solch eine eitle Dorfreporterin sein, wenn sie denkt, ihre persönlichen Beziehungen nicht verstecken zu müssen. Und ich sagte laut: „Eine sehr ehrliche Haut, diese Vierte Gewalt!“ Dann nippte ich an Bens Tee aus dem Samowar. Er schmeckte hervorragend, Darjeeling, first flush, wie ich ihn mochte. Nun war ich gut informiert und wieder auf dem Laufenden. Gegen Ende der Besprechung wurde ein Leserbrief für die immer noch tobende Presseschlacht entworfen. Zwei Tage später war er tatsächlich in der Mittelhessischen Allgemeinen abgedruckt:

„Die Versammlung in der Langsdorfer Volkshalle war ernüchternd. Was fast allen der dort anwesenden Bürgern klar ist, jedoch in die städtische Entscheidungsfindung nicht gebührend eingeflossen ist: In den letzten 20 bis 30 Jahren ist einiges in der Welt passiert. Vor allem hat die Klimakatastrophe konkrete Formen angenommen. Mehr als 70 Prozent der Insekten sind verschwunden, Wasser wird knapp und der Wald stirbt.

Das erfordert ein verantwortungsvolles Umdenken von allen und auf allen Ebenen. Das mochten die Herren auf dem Podium emotional und unsachlich finden. Es sind allerdings unwiderlegbare Fakten, Sachfakten, nichts Fiktives! Und wir versiegeln weiter kräftig die Naturflächen – ohne Not! Bebauungs-Entscheidungen sollten das berücksichtigen. Die Stadtväter sollten sich die Fakten zu Herzen nehmen. Emotionale Kälte ist in diesem Punkt nicht angesagt.

Aber auch jenseits dieser ökologischen Gedanken wollen die meisten Licher nicht in Beton, Kunststoff, LKW-Lärm und architektonischer Hässlichkeit ersticken, sondern Lich so erhalten, wie sie es lieben. Warum hat die Stadt ihre Bürger nicht vorher ehrlich, voll umfänglich und vertrauensvoll einbezogen? Weil gemauschelt wurde? Wir fordern die Stadtverordneten auf, dem Bebauungsplan am 25. September nicht zuzustimmen. Tretet mit den Menschen in einen echten Dialog! Ermöglicht einen Bürgerentscheid!“

Als Dr. Wüst von der Absicht eines Bürgerentscheides erfuhr, wurde er ungehalten. So war das nicht abgemacht. Er rief abends Groß an, auf der privaten Leitung, man wusste ja nie. Man musste schnell handeln. Überrumpeln oder Bürger etwas entscheiden lassen – das eine schloss das andere aus.

„Was soll das?“, fauchte er ins Telefon. Wüste Drohungen waren angesagt. Aber das Fauchen aus seinem kleinen Klangkörper klang lächerlich, wenn er an seine Fistelstimme dachte. Er schaltete einen Gang runter, schaltete auf eine tiefere Stimmlage, und seine Stimme deutete damit wie von selbst auf eine äußerst ernste Situation hin.

„Es ist nicht meine Idee“, entschuldigte sich Arturo Groß. „Der Stadtverordnetenvorsteher konnte es nicht verhindern. Es bestand trotz seines Amtsbonus keine Chance, die Versammlung in eine andere Richtung zu lenken.“

„Schlecht. Sehr schlecht. Sehr unprofessionell. Wir müssen die Presse einschalten. Am besten nimmst du gleich morgen früh Kontakt zu deiner Pressefavoritin auf. Sag ihr, du hättest eine Nachricht von mir erhalten, dass das Projekt auf der Kippe steht. Wenn ein Bürgerentscheid erwogen würde, würde ich abspringen. Dann soll Lich sehen, wie es mit den entstandenen Kosten klarkommt.“

„Die Leute sind derart rüpelhaft und uneinsichtig!“, ereiferte sich Groß. „Vielleicht haben wir aber auch Glück. Wollen wir nicht abwarten, wie ein Entscheid dieser Wichtigtuer ausgeht? Es ist doch gar nicht sicher, dass diese Rüpel die Mehrheit kriegen.“

„Wie naiv bist du denn?“ Werner Wüst war gewohnt Klartext zu reden. „Wenn wir die erst abstimmen lassen, ist der Karren so gut wie an die Wand gefahren. Die typisch deutschen ewigen Bedenkenträger werden ihre Schafsherde schon zusammentreiben. Stimmvieh!“

„Also gut, ich rufe Birgit an.“

Zwei Tage später erschien ein groß aufgemachter Artikel in der »Mittelhessischen Allgemeinen«:

Logistikzentrum Ja oder Nein – alles steht auf der Kippe! Von Birgit Karstadt

Eine Bürgerbefragung soll den Stadtverordneten, die eigentlich unabhängig und nur ihrem Gewissen verpflichtet sein sollten, den Weg weisen. Für Investor Dr. Werner Wüst ist das keine Option: „So viel Zeit haben wir nicht!“ Ein Ja für ein Bürgervotum bedeute ein Nein zum Logistikzentrum. Dann würden alle Zelte sofort abgebrochen. Und damit keine Zweifel aufkommen: „Wenn die Stadtverordneten einer Bürgerbefragung zustimmen, dann wäre das der Todesstoß für das Projekt“, sagt Dr. Wüst, der Vorstandsvor­sitzende der Wüst AG. Ohne ein eindeutiges Bekenntnis zur Logistikhalle werde man in zwei Wochen den Stecker ziehen müssen, denn: „Der Schaden wird täglich größer.“

Der Investor hat bereits einen Mietvertrag über fünfzehn Jahre mit einem interessierten Nutzer abgeschlossen. Scheitere das Logistikzentrum, so betonte der Manager, müssten Investor und Kommune mit wirtschaftlichen Schäden in Millionenhöhe rechnen. Die Wüst AG habe sich nicht nur dem künftigen Mieter gegenüber vertraglich verpflichtet, sondern auch bauliche Vorleistungen beauftragt und müsse sich von diesen beiden Seiten auf Schadensersatzforderungen einstellen. Und was die Stadt betrifft, so sagt der Investor, wäre das Grundstück beim Scheitern der Bebauung für immer »verbrannt«. Die Wüst AG sei eines der führenden Unternehmen im Bereich Bau und Immobilien. „Wenn wir hier scheitern, traut sich keiner mehr.“

„Die reinste Erpressung, was der Wüst da veranstaltet“, sagte Stella, als wir den Artikel gelesen hatten. „Ist doch sein unternehmerisches Risiko, wenn er ohne endgültiges Votum unserer gewählten Vertreter schon Mietverträge abschließt. Einfach unglaublich, diese freche Unternehmer-Unart. Ein derart abgekartetes Schauspiel erlebt man selten.“

„Da bin ich anderer Meinung. Es ist in unserem Land inzwischen lange schon Usus.“

Ich kochte innerlich, wusste aber, dass meine Erregung nichts nutzte. Man musste klaren Kopf behalten. Ich trat auf den Balkon hinaus.

Und dann plötzlich war er wieder da, dieser Kinder Riegel. Genau vier Tage vor meinem Geburtstag, am 8. September, einem Sonntag, zog sich der Himmel schlagartig zu. Von Stellas Balkon aus konnte ich die ungewöhnliche Formation und ihre übergangslose Erscheinung genau beobachten.

Erst erschien der dunkle Schokoladenstreifen am Horizont, um sich sodann gelassen auf uns zuzuschieben – wie siegessicher. Die Front kam näher auf unsere Stadt zu, und dann stoppte sie abrupt, und es floss diese Milchcreme aus der Schokolade und ergoss sich wie ein dicker zäher Nebelschleier auf das Wüst-Gelände. Jedenfalls schien es so. Genau sehen konnte ich es von hier aus freilich nicht. In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, dass dieses aufziehende Unwetter durchaus in der Lage sein könnte, uns oder einen Teil von uns – oder eben das Wüst-Gelände – zu verwüsten. Ich sah unsere Heimat zu einer einzigen Öde werden.

Ich rief Stella, die in der Küche das Mittagessen zubereitete, damit sie das komische Wetterphänomen beurteilen möge. Aber Stella überschrie den Lärm des laufenden Kochfeldabzugs: „Ich kann nicht rauskommen. Die Sachen verbrutzeln sonst. Nachher gucke ich es mir an, jetzt geht’s nicht, sonst kann ich alles in die Biotonne kloppen!“

Als Stella zehn Minuten später das Essen im Wohnzimmer auftischte und ich beim Tischdecken behilflich war, sahen wir beide durch die breite Fensterfront, mit der Stellas Wohnung gesegnet war. Der zweischichtige Kinder Riegel oder die Milchschnitte – oder was immer sich da oben am Himmel herumtrieb – war verschwunden. Als hätte jemand den Stecker gezogen.

„Gut so“, sagte Stella. „In einer Stunde beginnt der Schweigemarsch, den deine Freunde von der BfL organisiert haben. Da bleiben wir wenigstens trocken.“

Dabei hätte zumindest mir eine Erfrischung gut getan. Kein Wasserfall natürlich! Kein Sturm, kein peitschender Regen oder Hagel und auch kein undurchdringlicher Nebel – nein, eine einfache Dusche. Denn ich war nassgeschwitzt.

Wir waren 1.500 demonstrierende Licher Bürger. Wir kamen von der Langsdorfer Höhe und marschierten still durch die Straßen der Stadt. Es gab zu Beginn und zum Abschluss die üblichen Ansprachen, kurz aber eindringlich und sachlich gehalten. Schweigend zogen wir durch unser liebliches Städtchen. Wenn doch jemand meinte, etwas sagen zu müssen, flüsterte er.

1.500 von 14.000 Bürgern, ein enormer Prozentsatz, wenn man bedachte, dass sich das Bürgertum sehr schwer aus seinen weichen Sesseln erhebt. Jedenfalls wussten wir die schweigende Mehrheit auf unserer Seite. Aber später behaupteten die »Wüstlinge«, wie jemand das Management des Betreibers bezeichnet hatte, die schweigende Mehrheit sei schon immer für sie gewesen. Doch das stimmte zu keiner Zeit. Es ließ sich auch daran abmessen, dass es keine einzige Demo für das Monster gab.

Wenn überhaupt, dann hatte das Monster jene Clique von Befürwortern, die direkt oder indirekt mit der Wüst AG verbandelt war. Leute, die sich Vorteile erhofften, wenn sie ihnen nicht gar handfest versprochen worden waren. Ausgenommen vielleicht der beflissene Leserbriefschreiber, Herr Alt. Sagen wir: möglicherweise ausgenommen! Er war vermutlich einer derjenigen, die sich freiwillig vor den Karren spannen ließen. Sehr wahrscheinlich aber gab es damals schon ein paar andere Denunzianten und Handlanger, wie wir später, zur Zeit der Freien Republik, feststellen mussten.

„Solche Menschen gibt es immer“, meinte Ben. „Selbst unter den geknechtetsten Sklaven gab es zu jeder Zeit welche, die den Sklavenhalter hochleben ließen und auf ihresgleichen eindroschen.“

Ich möchten Ihnen, liebe Leser, nicht verschweigen, dass mich an diesem Schweigemarsch eine besondere Begegnung faszinierte. Stella musste am Ende der Veran­staltung dringend aufs Örtchen und war vorausgegangen, während ich mir Zeit ließ und mich nach Ben umschaute. Aber auch er war wohl schon gegangen. So schlenderte ich gegen Ende der Demonstration am Rathaus vorbei, und dort machte ich unvorhergesehener Weise die Bekanntschaft mit einem jungen Mann. Er war damals noch sehr jung, strahlte jedoch etwas aus, was ich heute nur mit der Persönlichkeit unseres lebenserfahrenen 84-jährigen Stammesältesten, Ludwig Henrich, vergleichen kann.

Arnold Aurora, so war sein Name, wie ich sehr viel später erfuhr, war von schlanker, großer Statur, trug ein Stirnband in königsblau und seine brünetten Haare schulterlang. Seine offenen und großen bernsteinfarbenen Augen strahlten Zuversicht und Zielstrebigkeit aus. Aber eine irgendwie andere Zielstrebigkeit, als die von Bürgermeister Groß oder die des hinterlistigen Dr. Wüst. Arnold Auroras Aura wurde nicht von jener Verbissenheit geschmälert, wie sie politischen Eiferern, geldgierigen Casinokapitalisten oder bestechlichen Politbonzen eigen ist.

Ich wurde auf diesen jungen Mann – ich schätzte ihn auf 26 oder 27 Jahre – aufmerksam, als ich nach Hause gehen wollte und gerade an einer Gruppe von vielleicht dreißig jungen Leuten vorüberkam. Es herrschte eine auffallende Stille, nur eine einzige Stimme war zu hören. Ich sah zwei Schilder mit der Aufschrift »Fridays for Future«. Natürlich war mir diese globale soziale Bewegung bekannt. Sie ging von Schülern und Studierenden aus, die sich für möglichst umfassende, schnelle und effiziente Klimaschutz-Maßnahmen einsetzten.

Ich trat näher an die Gruppe heran. Im Schweigekreis dieser jungen Leute stand damals Arnold und redete. Er redete in unaufdringlichem Ton und doch äußerst einprägsam. Es waren nur ein paar Wortfetzen, die ich anfangs aufgeschnappt hatte, aber sie animierten mich endgültig zum Innehalten und Zuhören. Ich nahm instinktiv mein Handy heraus, um seine Worte aufzufangen.

»Es tut mir leid, aber ich möchte nun mal kein Besserwisser sein, denn das liegt mir nicht. Wir Jungen haben dennoch eine Generationen übergreifende Aufgabe, eine Pflichtaufgabe, keine Kür, weil wir wissen, dass etwas besser gemacht werden muss. Wir wissen es. Wir können unser Wissen nicht zurückhalten. Wir können und dürfen nicht schweigen. Unser Schweigemarsch bringt unsere Trauer zum Ausdruck. Aber jetzt ist es vorbei. Jetzt reden wir. Es geht um unsere Zukunft auf diesem Planeten.

Ich denke, wir möchten weder andere beherrschen, noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo immer wir können.

Den Menschen im Nahen Osten, in Afrika und den politisch Gefangenen, wo immer man sie hinter Gittern schmachten lässt. Den Flüchtlingen, den Armen, den Gläubigen und den Atheisten, den Farbigen, den Weißen. Aber wir wollen jetzt und hier vor Ort den Bewohnern zur Seite stehen und damit uns selbst helfen. Lich ist unsere Heimat. Die übergroße Mehrheit von uns lebt nicht in fernab gelegenen Villengegenden.

Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt. Wir sollten das Glück teilen und dem Goldenen Kalb abschwören. Wir brauchen eine andere Politik, ohne Mammon als Herrscher.

Ohne Unterdrückung und Sklaverei, ohne prekäre Arbeit und demütigende Tafeln, ohne Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Wir brauchen Mitmenschlichkeit und eine Welt, an der alle teilhaben und nicht einander verabscheuen.

Wir brauchen das Recht auf Eigentum, aber es muss verpflichten und die Pflichten müssen kontrollierbar sein.

Wir brauchen Liebe. Mehr Liebe für einander. Mehr Toleranz! Aber alles braucht auch seine Grenzen.

Hass und Verachtung bringen uns niemals näher.

Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden, und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen. Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein. Wir müssen nur wieder zu leben lernen. Die Langsdorfer Höhe – vom Raumschiff aus betrachtet – mag nur ein äußerst kleiner Fleck auf dieser unserer Erde sein. Aber dieser Fleck gehört uns und nicht dem Mammon. Es ist unsere Natur, die keiner dieser Politiker – ob hinter unserem Rücken oder vor unseren Augen! – versilbern darf.

Die Habgier hat das Gute in unseren Machthabern verschüttet, und Korruption hat die Seelen vergiftet. Hinterlist und Bankkonten regieren und man ist bereit, die Natur zu erwürgen. Um der kurzfristigen Vorteile willen! Alleine der kurzzeitigen Vorteile willen!

Die Licher Stadtfürsten haben die Geschwindigkeit zu ihrem Politikstil gemacht, aber innerlich sind sie stehen geblieben. Die politischen Entscheidungsträger drängen uns und wollen mit Schnellschüssen unseren Lebenstraum zerstören. Sie versprechen viel, aber sie sagen nichts. Sie sind hochmütig und im Inneren kalt und hart. Sie reden von Kompromissen, aber denken nicht im Entferntesten an eine Umkehr. Noch nicht einmal, wenn der Weg in eine Sackgasse führt. Stoppschilder übersehen sie.

Geld regiert die Welt. Es ist, wie es scheint, eine Welt der Maschinen und Computer. Eine Welt der Maschinenmenschen. Gekünstelte Intelligenz. Wo aber bleibt der Humanismus? Wo bleiben intelligente Visionen? Geld macht erfinderisch, die heutigen Herrscher sind erfindungsreich. Sie erfinden Lügen, um uns hinzuhalten. Sie lügen ohne sich zu schämen, um die Öffentlichkeit in die Irre zu führen. Um ihre hinterrücks mit Gold bezahlte Agenda durchzupeitschen. Sie bezirzen die Redakteure. Aber wir Jungen werden das Ruder herumreißen.

Wir wollen andere Wege gehen. Zuerst kommt die Menschlichkeit und dann erst kommen Computer und Maschinen. Toleranz und Güte und Liebe zur Natur sind unsere Prämissen. Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert. Da helfen weder Digitalisierung noch Automatisierung.

Euch, die ihr mir so geduldig zuhört, rufe ich zu: Ihr dürft nicht verzagen!

Die politisch Agierenden, die heute die Menschlichkeit und die Schöpfung mit Füßen treten, werden nicht immer da sein.

Ihre grausame Rücksichtslosigkeit stirbt mit ihnen – und auch ihr Hass und ihre Verachtung uns gegenüber.

Die Freiheit, die sie uns vielleicht in nächster Zeit nehmen werden, wird uns dann zurückgegeben.

Aber wir werden kämpfen müssen gegen die Korruption dieser kaltblütigen Maschinenmenschen mit ihren Maschinenköpfen und Maschinenherzen.

Wir sind keine Roboter, wir sind Menschen! Für die Freiheit ist uns kein Opfer zu groß. Bewahrt euch die Menschlichkeit in euren Herzen und hasst nicht! Nur wer nicht geliebt wird, hasst! Nur wer nicht geliebt wird!

Wir, als die junge Bevölkerung unserer Stadt, haben es in der Hand, unser Kulturgut zu erhalten. Es liegt an uns, dieses Leben einmalig kostbar zu machen, es mit wunderbarem Freiheitsgeist zu durchdringen und dem Goldenen Kalb die kalte Schulter zu zeigen.

Daher im Namen der Demokratie: Lasst uns diese Macht nutzen! Lasst uns zusammenstehen! Lasst uns kämpfen für eine neue Politik, für eine anständige Politik! Die jedermann gleiche Chancen gibt, die der Jugend eine Zukunft und den Alten Sicherheit gewährt. Die unsere Heimat bewahrt und schützt.

Versprochen haben die Heuchler das auch, deshalb konnten sie im Stadtparlament ihr Unwesen treiben. Das war Lüge, wie überhaupt alles, was sie euch versprachen, diese Verbrecher. Diktaturen, ob verdeckte oder offene, ob demokratisch verbrämte oder nur vorübergehende Diktaturen – sie alle beginnen immer mit Lügen und Tricksereien. Die kleinen oder die großen Führer wollen die Freiheit nur für sich, das Volk soll in Unwissenheit versklavt bleiben. Und alles dem Mammon zuliebe! Nur ihm zuliebe!

Lasst uns diese Ketten sprengen! Lasst uns kämpfen für eine bessere Welt! Lasst uns kämpfen für die Rettung der Natur auf der Langsdorfer Höhe, das ist ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Wir wollen für unsere Gesundheit kämpfen, für eine intakte Umwelt, für unsere Selbstbestimmung, für ein lebenswertes Lich.

Lasst uns kämpfen für eine Welt der Sauberkeit. In der die Vernunft siegt, in der Fortschritt und Wissenschaft allen zum Segen gereichen.

Freunde, im Namen der Demokratie: Dafür lasst uns streiten!«

Ich glaube, dass ich am Abend jenes Tages seit Ewigkeiten das erste Mal wieder das Gefühl hatte, es sei noch nicht alles verloren. Stella schaute sich mein Video mit der Rede des jungen Mannes an und musste heulen. Er war ihr gelegentlich schon aufgrund seiner außergewöhnlichen Erscheinung aufgefallen, aber sie kannte ihn nicht. Ich wischte Stellas Tränen ab und sagte, sie sei eine Heulsuse. Aber dann kullerten selbst mir einige Tränen über die Wange.

Jetzt musste Stella lachen und sagte: „Selber Heulsuse!“ Sie gab mir einen Kuss.

Der Tag war anstrengend gewesen. Wir redeten nicht mehr groß darüber. Irgendwann fielen wir erschöpft ins Bett und liebten uns.

Mitte September beklagte der Lokalteil-Chef des Mittelhessischen Anzeigers mangelnden Respekt und ein mangelndes Demokratie-Verständnis. Doch nicht bei den offiziellen politischen Akteuren vermisste er diese Eigenschaften, sondern bei der Bürgerbewegung. Tatsächlich mangelte es dem Redakteur, wie Ben später befand, an der Fähigkeit, das politische Geschehen angemessen und ausgewogen einzuordnen.

„Vielleicht hatte er keine liebevolle Nacht hinter sich“, meinte Stella, als sie mir den Meinungskommentar des Lokalteilchefs beim Morgenkaffee vorlas.

Die führenden Stadtköpfe hatten mit einem äußerst trickreichen Verfahren die von allen Parteien und Bürgermeisterkandidaten versprochene Bürgerbefragung abgebügelt. Dabei hatte Cäsar eine unrühmliche Doppelrolle gespielt. Und ebenso der Stadtverordnetenvorsteher. Er hatte abgewartet, bis sich die Stimmverhältnisse abzeichneten, dann, als es Halbe-Halbe stand, entschied sich der sozialdemokratische Gefolgsmann des noch amtierenden alten Bürgermeisters für eine Stimmenthaltung.

„Das kam einer Ablehnung gleich. Er selbst hatte auf der Langsdorfer Bürgerversammlung so getan, als befürworte er die Befragungsaktion unter Einbeziehung unserer gesamten Bürgerschaft, dieser Heuchler! Diese Stimmenthaltung war mit Cäsar, seinem Fraktionsvorsitzenden abgesprochen; anders ist so ein Vorgehen nicht denkbar!“, hatte Ben am Ende der Sitzung gemeint. „An diesem Tag hat die Stadt Lich durch diese treulosen »Stadtväter« ihre Unschuld verloren. Sie sind schlimmer als Stiefväter, sie sind Verräter!“

Natürlich hatte der Vorgang zu großem Unmut geführt. Vor dem Rathaus hatten eine Menge Bürger, die man nicht herein gelassen hatte, lautstark protestiert. Im Meinungsartikel hierzu hatte der Kommentator allerdings einiges durcheinander gebracht. Da wurde behauptet, Bürger hätten keinen Respekt gezeigt vor dem Recht und den gewählten Volksvertretern. Und als Journalist im Parlament traue man sich nicht mehr, vor die Rathaustür zu gehen, weil dort der Mob tobe.

Es mangele an Demokratieverständnis bei den Gegnern des Großprojektes. Man störe sogar eine Totenehrung – das Gedenken an einen vor einigen Monaten verstorbenen Ex-Bürgermeister.

„Aber woher sollten die protestierenden Bürger von dieser Ehrung etwas wissen? Sie wussten nichts davon, nichts! Schließlich waren sie wegen der Abstimmung zur beabsichtigten Bürgerbefragung gekommen. Wegen nichts anderem. Nun hat man sie sogar darum betrogen“, sagte Ben entrüstet.

Überhaupt, wer gedacht hatte, die Bevölkerung beruhige sich und lasse alles mit sich widerstandslos geschehen, wurde eines Besseren belehrt. Die Leserbriefflut gegen das Monster flaute nicht ab. Am Morgen meines Geburtstags goss Stella uns beiden ein Gläschen Mumm ein und gratulierte mir mit einem dicken Kuss. „Ich glaube, dass dir einige Ärzte eine Art Leserbriefständchen gehalten haben.“

Ich sah Stella fragend an.

Sie deutete auf das Wochenblatt und drückte es mir in die Hand. Ich überflog die Überschrift.

„Na und? Das ist ein Offener Brief an die Mitglieder des Stadtparlaments“, sagte ich.

„Ja, und die unterzeichneten Ärzte bestätigen haargenau deine Ansicht. Mit der enormen Verkehrsbelastung wird es zu gravierenden gesundheitlichen Folgen kommen. Lies‘ doch mal.“

Ich las: Staus und Lärmbelästigung sind bei diesem Bauprojekt und der vorgesehenen Größenordnung vorprogrammiert. Umwelt- und gesundheitliche Schäden sind jedoch vor allem indirekt wahrnehmbar, beispielsweise Luftverschmutzung durch Feinstaub und Stickoxide. Es ist davon auszugehen, dass das Kleinklima der Stadt Lich massiv gestört wird. Wir warnen aus medizinischer Sicht vor einem langfristigen Anstieg von chronischen Bronchitiden, Asthma bronchiale, Lungenentzündungen und sogar Lungenkarzinomen. Mögliche Langzeitfolgen von chronischer Lärmbelästigung sind unter anderem Änderungen bei biologischen Risikofaktoren, zum Beispiel Blutfette oder Blutzucker, und Auslösung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wir sind überzeugt, dass Sie unsere Sorgen verstehen.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Prof. Dr. Dr. Franz Imminger, Medizinischer Direktor der Universitätsklinik Gießen; Prof. Dr. Gerd Göbel, Chefarzt a. D. des Klinikums Lich; Dr. Alfred Mannlow, Arzt für Allgemeinmedizin, Lich, Prof. Dr.med. Ralf Naumann, Villingen

Ich gab die Zeitung an Stella zurück und sagte: „Ich glaube allerdings nicht, dass die Betonköpfe unter den Stadtverordneten die gravierenden Sorgen der Mediziner verstehen.“

Der Chef des RUWE-Marktes, Udo Müller, hatte eine Woche später andere gravierende Sorgen. Er fühlte sich bedrängt von den zunehmenden Boykottaufrufen gegen sein Geschäft. Als ihn Edith Neuer-Süß darauf ansprach, um auch ihr Missfallen zu diesen Facebook-Aufrufen zu bekunden, schüttete er ihr sein Herz aus.

„Wissen Sie, die Meinungsfreiheit steht bei mir ganz oben auf der Einkaufsliste, aber das provozierende Verhalten mancher Bürger, die sich auf diese Freiheit berufen, schockiert und entsetzt mich.“

„Was meinen Sie konkret?“

„Die letzte Sitzung des Stadtparlaments, dessen Mitglied ich als gewählter Vertreter der Freien Wähler bin, hat mich wahrhaftig erschüttert und persönlich getroffen. Die Sitzung wurde bewusst gestört, die anwesenden Vertreter der Stadt, inklusive des Bürgermeisters wurden beschimpft und auch durch Zwischenrufe beleidigt. Die Bürgerinitiative hat sich damit selbst geschadet.“

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