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Die Prediger & die Träume

Das Merkwürdige ist, dass ich – nachdem ich meinen Rundgang fortsetze und die Treppe wieder hinunter gehe, um zu Ben zurückzukehren – durch das nachklingende atmosphärische Rauschen hindurch eine leise Stimme höre. Es ist – dem Inhalt und der predigenden Tonlage nach zu urteilen – die Stimme eines Geistlichen:

„Wie ihr wisst, Freunde, ist es schwer, rechtschaffen zu sein, aber leicht, sich von sogenannten Freunden einreden zu lassen, dass es in Ordnung ist, zu sündigen und eure Pflichten zu vernachlässigen, weil angeblich kein Gott euch zusieht und weil ihr auch weiterhin alles tun könnt, womit ihr glaubt davon kommen zu können. Sprecht mir nach: »Halleluja«.“

Als ich in diesem Augenblick im Gemeindesaal ankomme, höre ich eine vielstimmig gemurmelte Antwort der Schlafenden: „Halleluja.“

Es sind noch ungefähr zehn Leute im Fernsehbereich. Sie haben sich auf die wenigen bequemen Sessel und ein paar Flohmarktsofas, die vor dem Sturm schnell herbei geschafft worden waren, verteilt. Alle, außer dem Bürgermeister, schlafen. Auf dem Bildschirm, kaum sichtbar hinter den Störungen, ist der Geistliche mit den geschniegelten Haaren zu sehen, der einen so vertrauenswürdigen Eindruck macht wie der Immobilienhai Dr. Werner Wüst im Hof eines Stundenhotels.

Mit Verwunderung sehe ich, dass Jonas Cäsar mit dem Fernseher redet: „Halleluja, Bruder. Sprich weiter.“

Cäsar sitzt in einem Ohrensessel, ähnlich dem, in dem erst Martha Weis und danach Niko Lamor gesessen haben. Er sitzt ein bisschen abseits von den anderen und sieht sehr müde aus. Ich denke mir, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange wach sein wird. Im Moment scheint er sich auf die Worte des Geistlichen zu konzentrieren:

„Brüder, heute Nacht möchte ich vor allem über die Sünde der Verschwiegenheit mit euch sprechen. Heute Nacht möchte ich euch daran erinnern – sagt Halleluja –, dass die Sünde auf den Lippen süß, auf der Zunge jedoch bitter schmeckt und den Rechtschaffenen Bauchgrummeln verursacht. Gott segne euch, und nun sprecht mir nach: Amen.“

Jonas Cäsar spricht ihm nun allerdings nicht mehr nach. Das Kinn ist ihm auf die Brust gesunken, und ihm sind die Augen zugefallen.

Auf der Couch sitzt in halb liegender Schlafstellung die Erste Stadträtin der CDU, Ingrid Steegher. Ihr Gesichtsausdruck scheint misstrauisch, aber auch so, als würde sie gespannt dem Prediger zuhören.

Der Geistliche redet weiter zu seiner unsichtbaren Gemeinde: „Oh ja, die Sünde der Verschwiegenheit! Das selbstsüchtige Herz, das sagt: »Ich brauche mich nicht zu öffnen; ich kann alles für mich behalten, und niemand wird es je erfahren.« Denkt daran, Brüder und Schwestern! Es ist leicht zu sagen: »Oh, ich kann dieses schmutzige kleine Geheimnis bewahren, es geht niemanden etwas an, und mir tut es nicht weh«, und dann die Augen vor dem Krebsgeschwür der Verderbtheit zu verschließen, das drum herum zu wachsen beginnt … vor dieser Krankheit der Seele, die sich drum herum auszubreiten beginnt …“

Währenddessen gehe ich die Treppe hinunter, und hinter mir verklingt die Stimme des Predigers. Er spricht weiter über Geheimnisse, Verschwiegenheit, Sünde und Selbstsucht. Ich betrete den großen Schlafsaal und sehe unter anderem Martin Kurz, den jungen Rettungssanitäter, der im Feldbett neben Lilli schläft, die ihren Sohn Felix in ihren Armen hält. Die Wirtsleute Tom und Britta Kruse liegen mit aneinandergelegten Köpfen auf zwei zusammengerückten Feldbetten.

Ich komme an Udo Müller, dem RUWE-Chef, vorbei, der mit gerunzelter Stirn auf dem Rücken schläft. Ein Bett weiter schläft seine Frau Petra; sie trägt noch immer das gelbe Shirt der Deutschen Post und hat die Wolldecke bis zu den Augen hochgezogen. Hier im Schlafbereich höre ich Geräusche, die man in jedem Raum hört, in dem viele Menschen schlafen: Husten, pfeifendes Atmen, leises und lautes Schnarchen.

Ich sehe Anja Kühn, ihren vierjährigen Sohn Moritz und ihre Tante, Frau Fremdel – sie schlafen tief und fest. Nach Ninos Dahinscheiden durch eine Todesspritze liegen sie so nah beieinander, wie es nur geht. Der kleine Moritz schläft gewiss recht gut, denn noch weiß er nichts vom Tod seines Vaters. Sein gleichaltriger Freund Jan Köller schlummert in den Armen seiner träumenden Mutter.

Ich gehe hinüber in den Bereich, in dem die ersten Kinder zu Bett gebracht worden sind, und eine ganze Menge von ihnen sind nach wie vor dort – Tina Kruse, Petty Wecker, Lisa Wiese, Clara Cäsar, Charly Seifried, Nena Gründler, Marco Schmidt und Bernardos Sohn Jonas.

Die Einwohner von Lich schlafen. Ihr Schlaf ist unruhig, aber sie schlafen.

Jonas Cäsar schläft jetzt – ob tief und fest kann man nicht beurteilen. Im Moment murmelt er jedenfalls etwas Unzusammenhängendes. Seine Augäpfel bewegen sich schnell hinter den geschlossenen Lidern. Er träumt.

Er träumt von einem Fernsehreporter.

Auf der Straße – oder vielmehr über deren Asphaltdecke, da die Gießener Straße unter mindestens einem Meter Schnee begraben liegt – steht ein Fernsehreporter. Er ist jung und sieht auf konventionelle Weise gut aus. Er trägt einen leuchtend purpurroten Ski-Anzug von Bergson mit den dazu passenden purpurroten Handschuhen und hat Skier unter den Füßen … vermutlich die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, wo er jetzt steht.

Auf den Straßen liegt, wie erwähnt, über ein Meter Schnee, aber das ist nur der Anfang. Die Geschäfte sind geradezu begraben unter gewaltigen Schneewehen. Heruntergerissene Stromleitungen verschwinden wie abgerissene Spinnwebfäden im Schnee.

Der Fernsehreporter berichtet ziemlich unaufgeregt: „Die Landstriche nördlich Hessens haben die Ausläufer des sogenannten Jahrhundertsturms nun hinter sich. Von Hamburg bis Kassel graben sich die Leute durch Schneemengen ans Tageslicht, die die Bücher der Rekorde nicht nur um neue Einträge, sondern um ganze neue Seiten bereichern werden.“

Der Reporter setzt sich auf seinen Skiern in Bewegung und fährt langsam die Gießener Straße entlang, an Mehtaps Bäckerei Inbrunst entlang, biegt »Am Wall« um die Ecke, kommt an Sedelmayrs Hörgeräte- und Optik-Geschäft und dann am Restaurant Moustaki vorbei.

Er spricht weiter: „Das heißt, sie graben sich überall durch, nur hier in Lich nicht – einer Kleinstadt samt ihren dörflichen Stadtteilen, von einer Raumkapsel aus gesehen ein winziger Fleck –, auf dem der letzten Volkszählung zufolge ungefähr 15000 Seelen beheimatet sind. Nur dreihundert von ihnen haben im Rathaus Schutz gesucht, als sich herausstellte, dass dieser Sturm die Stadt wirklich treffen würde, und zwar hart. Dazu gehören einige Kinder der Stadt, vom Kindergarten- bis zum Teenageralter. Aber genau diese fast dreihundert Männer und Frauen samt der dazu gehörigen Kinder … sind verschwunden. Es gibt Ausnahmen, aber die sind noch rätselhafter und beunruhigender.“

Die Augen des schlafenden Bürgermeisters bewegen sich hinter den geschlossenen Lidern rasch hin und her.

Der Fernsehreporter berichtet: „Bisher hat man in Lich drei Leichen gefunden. In zwei Fällen handelt es sich möglicherweise um Selbstmord, wie aus Polizeikreisen verlautet. Doch im anderen Fall handelt es sich mit Sicherheit um eine Mordsache, denn das Opfer wurde mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen.“

Cäsar erkennt im Traum ziemlich bald den Mann in seinem purpurroten Ski-Anzug – es ist Lamor. Aber statt der purpurroten Handschuhe hat er jetzt leuchtend gelbe an.

Lamor – als Reporter – berichtet weiter: „Die Identität der Toten wird nicht bekannt gegeben, ehe man nicht die nächsten Verwandten benachrichtigt hat. Aber wie es heißt, sind die Opfer alle langjährige Bewohner von Lich. Und die verblüfften Polizisten stellen sich immer wieder eine Frage: »Wo sind die anderen Menschen hin, die im Rathaus Schutz suchten?« Wo ist Jonas Cäsar, der Bürgermeister? Wo ist Jens Köller, der Erste Stadtpolizist? Wo ist der neunzehnjährige Michel Mannschmidt, der seine Ausbildung als Koch unterbrach, um im Rathaus auszuhelfen? Wo sind die Ladenbesitzer, die Künstler und Ratsherrn? Niemand weiß es. In der gesamten hessischen Landesgeschichte hat es bisher nur einen einzigen solchen Fall gegeben.“

Ich gehe weiter durch den Schlafsaal und schaue mir fasziniert die dort Liegenden an, deren Gesichter sich keinesfalls in der entspannten Ruheposition von tief Schlafenden befinden. Irgendwie bewegen sich die Augen unter ihren Lidern. Das ist es, was mich zu diesem Zeitpunkt stutzig macht, auch als ich bei Maria Köller vorbei komme.

Maria sieht in ihrem mysteriösem Traum eine uralte Karte von Dorf Güll, einem südwestlich von Lich gelegenen Örtchen. Und sie hört und sieht eine Fernsehreporterin: „So sah Dorf Güll im Jahr 1527 während des Deutschen Bauernkrieges aus, bevor die gesamte Einwohnerschaft verschwand – jeder Mann, jede Frau, jedes Kind. Man hat nie herausgefunden, was mit ihnen geschehen ist. Man fand nur einen einzigen möglichen Hinweis, nämlich ein Wort, das in einen Baum geschnitzt war …“

Maria sieht im Traum einen Holzschnitt von einer Eiche. In die Rinde ist das Wort »ALMOR« geschnitzt. Und sie hört weiter die Reporterin sagen:

„… und zwar dieses Wort: ALMOR. Der Name eines Ortes oder eines Schuldigen? Ein Schreibfehler? Ein Wort einer ausgestorbenen Sprache? Auch das weiß niemand.“

Die Reporterin sieht sehr hübsch aus in ihrem purpurroten Ski-Anzug. Er passt gut zu ihren langen blonden Haaren, den geröteten Wangen … und ihren leuchtend gelben Handschuhen. – Ja, es ist wieder Lamor, der jetzt mit der Stimme einer Frau spricht und dabei sehr attraktiv ist. Das ist keine Transvestiten-Show, die den Zuschauer zum Lachen bringen soll. Wir haben es mit einem Kerl zu tun, der wirklich wie eine schöne junge Frau aussieht und mit der Stimme einer Frau spricht. Die Sache ist todernst.

Diese Reporterin macht genau dort weiter, wo der Reporter in der Version des Bürgermeisters aufgehört hat: Sie fährt auf Skiern die Straße »Am Wall« entlang, biegt das Bäckerei-Böhm-Sträßchen zum »Kirchenplatz« ab in Richtung Rathaus und spricht dabei in die Kamera:

„Die Polizei versichert den Journalisten weiterhin, dass man die Lösung finden wird, aber auch sie kann eine wichtige Tatsache nicht leugnen: Für die vermissten Einwohner von Lich besteht nur noch wenig Hoffnung.“

Die Reporterin fährt auf Skiern weiter zum Gebäude der Stadtverwaltung, das ebenfalls unter Schneewehen begraben ist.

Lamor – als Fernsehreporterin – berichtet weiter: „Indizien deuten darauf hin, dass rund dreihundert Stadtbewohner die erste und schlimmste Nacht des Sturms hier im Tiefgeschoss des Licher Rathauses verbracht haben. Danach … kein Mensch weiß es. Man fragt sich, ob sie etwas hätten tun können, um ihr seltsames Schicksal abzuwenden.“

Sie fährt weiter auf einer Fläche, die im Sommer der Parkplatz zwischen Kirche und Rathaus gewesen wäre, und gelangt zu dem kleinen Ehrenmal an der Südwand der Kirche. Es bildet eine Art Halle ab, allerdings mit einem Spitzdach, auf dem das dick durchgestrichene Emblem von MyClo prangt. Der Text auf diesem steinernen Monument lautet:

»ZUM EHRENDEN GEDÄCHTNIS

IHRER HELDEN IM KAMPF

GEGEN DAS LOGISTIKMONSTER

2018 – 2020«.

(Darunter sind drei Ehrenkränze in Stein gemeißelt.)

Ich sehe Eric Wiese neben dem Arzt schlafen. Gründler wie Wiese schlafen unruhig; ihre Augäpfel bewegen sich. Sie träumen, während draußen der Wind heult und die Figur im purpurroten Skianzug jetzt vor dem Mahnmal steht. In Erics und Thomas Gründlers Version ist die Person ein Mann. Er hat schütteres Haar, trägt eine Hornbrille und einen Schnurrbart … aber es ist wieder Lamor.

Der Fremde, den wir inzwischen zur Genüge kennen, spielt sich erneut als Fernsehreporter auf: „Man fragt sich, ob sie sich in ihrer bornierten Selbstsucht und in ihrer politischen Profilierungssucht geweigert haben, etwas herzugeben … etwas ganz Simples … was für sie alles geändert hätte. Aus meiner Sicht ist das mehr als möglich – es ist plausibel. Ob sie es jetzt wohl bereuen?“

Lamor legt eine bedeutungsvolle Sprechpause ein, bevor er sinnierend fortfährt: „Den Bürgermeister habe ich ebenso wie seinen Vorgänger auf meine Seite gezogen. Die Landrätin erfüllt mein Werk. Wüst und Clowalla haben mir meine Wertarbeit entlohnt. Von dieser Seite gibt es nichts zu bereuen.

Aber all die anderen? Die Zuschauer. Die Bürger. Jene Bürger, die sich als Opfer begreifen. Ist überhaupt noch jemand von ihnen am Leben, der es bereuen kann. Was ist 1527 in Dorf Güll wirklich geschehen? Und was ist hier geschehen, in Lich, im Jahre 2022? Vielleicht erfahren wir es nie.

Selbst Autoren, die sich einbilden, alles zu wissen, haben diese Tage im Januar 2022 vergessen – einfach vergessen. Auch wenn behauptet wird, man habe die Nerven der Leser schonen wollen – es ist einfach in Vergessenheit geraten. Aber eines weiß ich, Eric und Thomas, so sehr ihr auch Spritzen wie euer Freund Nino für euch selbst bereit halten wollt … ihr würdet im Falle eines Falles nicht einmal eure eigenen Venen treffen.“

In der Version der beiden DRK-Helfer macht der Reporter nun eine halbe Drehung und greift nach zwei der drei steinernen Kränzen am Sockel des Ehrenmals. Er pflückt sie ab und wirft sie den beiden um den Hals. Dabei teilen sich seine Lippen in einem Grinsen und geben den Blick auf Zähne frei, die in Wirklichkeit Reißzähne sind.

„Der Halsschmuck steht euch gut“, ruft Lamor ihnen zu, und die beiden stöhnen, drehen sich auf ihren schmalen Feldbetten auf die andere Seite. Ihre Hände zucken für einen Moment in die Luft, als wollten sie einen Frisbee abwehren.

„Nein … nein …“, stöhnt Eric.

Auch der Arzt bewegt die Lippen, aber ich kann kein Wort verstehen, als ich bei den beiden vorbei gehe und zu dem schlafenden Jens Köller komme. Er träumt, wie die anderen auch. Er hört allerdings den Prediger: „Vergesst nicht, eure Sünden werden auf euch zurückfallen, und eure Geheimnisse werden ans Licht kommen. Alle Geheimnisse werden ans Licht kommen …“

In der Nähe spricht der Fernsehpfarrer auf dem kleinen Bildschirm, neben dem Ben auf der Couch schläft. Und ich erkenne trotz des verschneit erscheinenden Bildschirms, dass es ebenfalls Lamor ist, der da spricht.

„… sprecht mir nach: »Halleluja.« Oh, Brüder, sprecht mir nach: »Amen.« Denn nun zeige ich euch, wie die Sünde gesühnt und die Verirrung bestraft wird. Seht das gerechte Ende derjenigen, die dem umherziehenden Fremden, der zu ihnen kommt und nur so wenig erbittet, die Tür versperren.“

Ich gehe näher an den Bildschirm heran, um besser sehen zu können. Aber der Prediger verschmilzt mit der Dunkelheit – einer verschneiten Dunkelheit, denn der Sturm hat die Satellitenschüssel des Rathauses heruntergeweht, entsprechend schlecht ist der Empfang. Doch nun formt sich trotzdem ein Bild. Der Schnee ist jetzt richtiger Schnee, jener Schnee, der zum Sturm des Jahrhunderts gehört. Und darin bewegen sich Menschen – eine dunkle Schlangenlinie von Menschen, die langsam und mühselig die Gießener Straße in Richtung des Schlossparks bergab stapfen.

Ich höre die Stimme des Geistlichen: „Denn der Lohn der Lust ist Staub, und der Lohn der Sünde ist Tod.“ Und zugleich sehe ich auf dem Bildschirm eine lange Albtraum-Prozession von benommenen, hypnotisierten Stadtbewohnern im Nachtzeug vorbeiziehen, ohne den heulenden Wind und den dicht fallenden Schnee wahrzunehmen.

Ich sehe Anja mit dem kleinen Moritz auf den Armen, gefolgt von Maria in ihrem Nachthemd, die Jan trägt, dann kommen Lilli mit Felix und Bernardo mit Jonas … und so weiter. Sie sind alle da. Und auf jede Stirn ist dieses seltsame und ominöse Wort tätowiert: ALMOR.

Die Stimme des Predigers ist weiter zu hören: „Denn wenn der Bittsteller abgewiesen und dem Suchenden keine Rast gewährt wird, sollen dann die Hartherzigen nicht fortgeschickt werden?“

Ganz in der Nähe höre ich Jens Köller murmeln: „Halleluja. Amen.“

Auf dem Bildschirm kann ich verfolgen, wie die Menschen wie die Lemminge in Richtung des Schlossparks zumarschieren – und auf ihren Tod im eiskalten Wasser. Ich glaube es nicht und glaube es doch, nicht wahr? Nach der Errichtung des Logistikmonsters und nach Heaven‘s Gate glaube ich es.

Bei Heaven’s Gate denke ich zuerst an die neue religiöse Bewegung aus den frühen 1980ern, die in den USA einen Ufo-Glauben vertrat. Und als zweites denke ich an jenen Spätwestern von Michael Cimino aus dem Jahr 1980, in dem amerikanische Großfarmer versuchen, osteuropäische Einwanderer erst mit Tricks und dann mit der Gewalt des Faktischen zu vertreiben. Warum kommt mir gerade der Moloch auf der Langsdorfer Höhe in den Sinn?, frage ich mich.

Im einst so idyllischen Schlosspark mit dem Teich, gespeist aus der friedlich sich dahinschlängelnden Wetter, hat sich ein wütender, sturmgepeitschter See gebildet. Am gegenüber liegenden Südwestufer steht der große Brauerei-Turm.

Ich sehe auf dem TV-Schirm den Nordeingang zum Park. Die Kamera scheint an der Kreuzung zur Volksbank platziert zu sein, und die Menschenschlange windet sich auf das Eingangsportal zu. An der Spitze der Schlange marschiert Jonas Cäsar und spricht mit der Würde seines Bürgermeisteramtes: „Tut mir leid, dass wir dir nicht gegeben haben, was du wolltest.“

Ab ins Wasser!

Ich kann es nicht fassen. Ich weiß, dass gerade er im Verbund mit seinen Parteigenossen ihm, Lamor, alles gegeben hat – er hat für Lamor der »Stadt im Herzen der Natur« das Herz herausgerissen. Er hat die Natur für Lamor verwüstet und geschändet. Ja, ja, ja, er will sich bessern, ja, ja, ja, er hat 2018 den Prozess des Verrats nicht direkt angeleiert. Aber es ist keine Heldentat, sich jetzt, bei allem was geschehen ist, die Hände in Unschuld zu waschen.

Ich sehe, wie Cäsar auf ein Floß steigt – ist es nicht das Floß, das wir vom Inheidener See kennen? Jonas Cäsar steigt auf das vom Sturm halb zerfetzte Gefährt und springt, ohne sich zu seiner treu-gefolgsamen Gemeinde umzusehen, vom gesplitterten Holz des Floßes in den eiskalten See, dessen von Wind gepeitschte Wellen ihn sofort verschlingen.

Ingrid Steegher, gottgläubig frömmelnd, aber ohne wirklichen Glauben, ist die zweite in der Reihe, und bevor sie springt, höre ich sie sagen: „Tut mir leid, dass wir’s Ihnen nicht gegeben haben, Herr Lamor.“

Welch eine Farce! Welch eine Heuchelei! Am liebsten würde ich den Fernseher abschalten, aber meine Wissbegier, nein, meine schäbige Neugier, hindert mich.

Frau Steegher folgt Cäsar in den todbringenden See. Als nächste kommen Anja Kühn und der kleine Moritz.

„Tut mir leid. Uns beiden tut’s leid, nicht wahr, Moritz?“

Mit dem Kind in den Armen macht Anja einen Schritt über den Rand des Floßes hinaus. Nun kommt Maria mit dem kleinen Jan an die Reihe.

Ich sehe in diesem Moment aus den Augenwinkeln, wie sich Jens Köller auf seinem Feldbett hin- und her bewegt. Er wird immer unruhiger … und ich denke: Wer würde das nicht werden, wenn er solch schreckliche Nachrichten im Fernsehen verfolgen müsste.

„Nein … nicht, Maria …“, stößt er stöhnend hervor.

Dann ist wieder die Stimme des Predigers zu hören: „Denn um so wenig wurdet ihr gebeten – sprecht mir nach: Halleluja … und dennoch, wenn ihr eure Herzen verhärtet, eure Ohren verschließt und euch mit den Gegebenheiten nicht abfindet, dann sollt ihr bezahlen. Ihr sollt als Undankbare gebrandmarkt und fortgeschickt werden.“

Auf dem Bildschirm sehe ich Maria auf dem Floß stehen. Sie ist genauso hypnotisiert wie die anderen, aber der kleine Jan ist wach und hat Angst.

„Wir haben unsere Herzen verhärtet. Wir haben unsere Ohren verschlossen. Wir haben gegen ein Monster demonstriert, das in Wahrheit ein Segen für uns ist – Halleluja. Und jetzt bezahlen wir dafür. Es tut mir leid, Herr Lamor.“

Ich sehe, dass Maria mit diesen abschließenden Worten zum Absprung bereit ist.

Aber Jan schreit: „Papa! Papa, Hilfe!“

„… wir hätten Ihnen geben sollen, was Sie wünschen“, sagt Maria zerknirscht. Sie springt mit dem schreienden Jansi auf den Armen über den Rand des Floßes ins schwarze, aufgewühlte Wasser.

Jens Köller wacht abrupt auf und schnappt nach Luft und sieht – wie ich – den Fernseher an. Wir sehen nichts als Schnee. Der Sender hat entweder den Sendeturm an den Sturm verloren oder den Sendebetrieb für die Nacht eingestellt.

Jens setzt sich aufrecht hin und versucht, wieder zu Atem zu kommen.

„Jens?“ Hubert Seifried kommt mit schweren Schritten herüber. Er sieht völlig zerknittert aus. Sein Gesicht ist verschwollen vom Schlaf, die Haare in seinem Nacken stehen hoch.

„Mann, oh Mann“, sagt er an mich und Jens gewandt. „Ich hatte gerade einen absolut schrecklichen Traum … dieser Reporter …“

Jetzt gesellt sich Udo Müller zu uns und sagt: „Auf der Gießener Straße … hat erzählt, alle seien verschwunden …“ Er hält inne. Seifried und er sehen einander in wechselseitigem Erstaunen an.

„Wie in Dorf Güll, vor langer Zeit“, sagt Seifried.

Vor uns bewegt sich ein Vorhang, der die Frauenabteilung vom Gemeinschaftsschlafraum abtrennt. Petra Müller, die Frau des RUWE-Chefs, kommt hervor. Sie steht dort in ihrem Nachthemd und sagt: „Sie träumen es alle. Versteht ihr? Sie träumen alle, was wir geträumt haben!“

Sie schaut nach hinten und wir schauen mit ihr dorthin. Die Schlafenden bewegen sich langsam in ihren Betten. Sie winden sich, stöhnen und protestieren, wachen aber nicht auf.

„Aber wohin könnten dreihundert Menschen verschwinden?“ Petra schaut uns fragend an.

Ihr Mann und Hubert Seifried schütteln den Kopf. Michaela Wiese kommt halb die Treppe herunter. Ihr Haar ist zerwühlt; sie sieht völlig schlaftrunken aus.

„Besonders in einer Kleinstadt!“, sagt sie. „Wo wir doch durch einen starken Sturm völlig abgeschnitten sind.“

Jens steht auf und schaltet den Fernseher aus und sagt beiläufig: „In den Badesee.“

Michaela reagiert schockiert: „Was?“

„In den See. Massenselbstmord. Wenn wir ihm nicht geben, was er will.“

„Wie könnte er …?“ Hubert bleibt die Frage im Hals stecken.

Sein Vorgesetzter schaut ihn an und sagt: „Keine Ahnung … aber ich glaube, er kann.“

Maria kommt zwischen den Vorhängen hervor. Sie trägt Jan auf den Armen. Der Vierjährige schläft tief und fest, aber sie bringt es nicht fertig, ihn loszulassen und auf die Couch zu legen.

„Aber was will er denn? Jens, was will er?“, fragt sie.

„Ich bin sicher, wir werden es erfahren. Wenn es soweit ist.“

Wenn Sie, verehrte Leser, jetzt über den Schlossparksee hinweg- und in den schwach erleuchteten Brauerei-Turm auf der anderen Seeseite hinein schweben könnten, würden Sie in einem der zerbrochenen Fenster im obersten Geschoss eine Gestalt stehen sehen. Dort steht Lamor, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er schaut auf die Stadt hinab. Er hat etwas von einem Herrscher, der den Blick über sein Königreich schweifen lässt. Schließlich wendet er sich ab.

Im Inneren des Brauerei-Turms blinken die Kontrolllämpchen am Computerbildschirm in rotem Licht. Bevor Lamor den kreisrunden Raum durchquert und die Tür zur Treppe öffnet, schaut er noch einmal zufrieden den Desktop an. Die Warnung wegen des sturmbedingten Stromausfalls und des Temperaturabsturzes in den Braukesseln ist durch eine Botschaft ersetzt worden, die sich in vielfacher Variation über den ganzen Bildschirm zieht: „Macht mir ein Geschenk – Lasst mich nehmen, was ich will – Findet euch damit ab.“

Lamor sieht vor sich die schwindelerregende Treppenspirale und steigt schnell hinab. Er kommt heraus, den Merkurstab mit den Engelsflügeln am Knauf in der Hand; und am Schaft des Stabes winden sich die beiden Schlangen umeinander. Er geht in den Schnee hinein. Kein Mensch weiß, wohin er unterwegs ist und welches Unheil er wieder anrichten wird.

*

Der Schnee fällt so schnell und so dicht wie zuvor. Die Gebäude sind halb begraben. Stromleitungen verschwinden im Schnee. Es sieht genauso aus wie in der Nachrichtensendung in den Träumen, nur dass der Sturm nicht im mindesten nachgelassen hat. Das Gedenkmonument an der evangelischen Stadtkirche neben dem Rathaus ist fast schon im Schnee verschwunden, und der historische Altbau des Rathauses selbst sieht gespenstisch aus. Der Wind heult ungemildert weiter.

Ungefähr die Hälfte der Leute, die im Rathaus Schutz gesucht haben, sitzen auf den Bierbänken mit Tellern vor sich, essen Pfannkuchen und trinken Kakao, Kaffee oder Tee. Im hinteren Teil der Halle haben die Wirtsleute Tom und Britta Kruse sowie das Ehepaar Müller eine Art Buffet aufgebaut und organisieren das Ganze. Außer Pfannkuchen gibt es noch Müsli mit wahlweise kalter oder warmer Milch.

Die Frühstückenden sind sehr still … nicht griesgrämig, aber in sich gekehrt und ein bisschen furchtsam. Sämtliche Familien mit kleinen Kindern sind auf den Beinen – kein Wunder, kleine Leute wollen früh raus aus den Federn. Unter ihnen sehe ich die Seifrieds und die Schmidts in einer sechsköpfigen Frühstücksrunde und setze mich neben Stella zu ihnen. Ich habe nur vier Stunden geschlafen und fühle mich entsprechend unausgeschlafen. Nach einem Guten-Morgen-Kuss von Stella und zwei Kaffee kehre ich langsam wieder in das bewusste Leben zurück und schüttele alles Erlebte als irrsinnige Traumwelt von mir ab.

Jens füttert Jansi mit Pfannkuchen-Stückchen, obwohl Jan lieber selbst essen würde und es natürlich auch blendend könnte. Hubert macht so ziemlich dasselbe bei Charly. Die Frauen trinken Kaffee und unterhalten sich leise. Die Seitentür geht auf und lässt das Heulen des Windes, wirbelnde Schneeflocken und einen aufgeregten Rettungssanitäter, den jungen Martin Kurz, ein.

„Herr Köller! Heh!“, ruft er laut. „So einen Sturm hab‘ ich im Leben noch nicht gesehen! Ich glaube, der Bier-Turm der Brauerei verabschiedet sich! Ehrlich!“

Eine Bewegung geht durch die Reihen und leises Gemurmel ertönt. Jens setzt den kleinen Jan seiner Frau auf den Schoß und steht auf. Seifried ebenfalls, und die meisten anderen auch.

„Wenn ihr rausgeht, Leute, dann bleibt in der Nähe des Gebäudes! Denkt dran, da draußen herrscht dichtes Schneetreiben!“ ruft Köller in den Saal hinein. Die vor vierundzwanzig Stunden erst geräumte Unterstadt, die an der Hof-Apotheke vorbei zum Schlosspark führt, ist mit einem halben Meter Schnee bedeckt, durch den sich nun die Menge mühsam fortbewegt. Man will den einstürzenden Turm der Brauerei sehen.

Die aus dem Rathaus strömenden, schwatzenden Menschen haben es eilig. Sie knöpfen sich während des Laufens die Mäntel zu, andere schlingen sich Schals um den Hals, wieder andere setzen Kapuzen auf und ziehen sich als Schutz gegen den eisigen Wind Skimasken über. Wo sie nicht zur Hand sind, nimmt man Corona-Masken. Ansonsten ist Corona seit Aufkommen des Sturms kein Thema mehr.

Die letzten, die hinausgehen, schlüpfen gerade durch das nachlassende Gedränge an der Seitentür. Nun sind nur noch ein paar Leute in der Halle, die ihr Frühstück nicht abbrechen wollen, wie Stella und ich – wir müssen nicht unbedingt dem Zusammenbruch eines Licher Wahrzeichens zusehen. Außer uns sind sieben Mütter und ein Vater – Tim Cäsar – hiergeblieben. Sie müssen sich mit kleinen Kindern herumschlagen, denen es ganz und gar nicht passt, dass sie nichts von dem spannenden Geschehen mitkriegen sollen.

„Mama, bitte, kann ich nicht auch raus?“, fragt Jansi seine Mutter.

Maria wechselt einen Blick mit Dunja Wecker – er ist gleichzeitig genervt und belustigt, ein Blick, den nur die Eltern von Kindern im Vorschulalter kennen.

Die fünfjährige Petty Wecker schlägt sofort in Jans Kerbe: „Bitte, Mama, darf ich?“

Die gleichaltrige Clara wiederum versucht es bei ihrem Vater Tim auf eine etwas despotische Tour: „Zieh mir die Jacke an! Ich will raus! Mach schon, ich will es sehen!“

Jonas und Tim sehen sich hilflos an. Sie können und wollen hier vor all den Bürgern keinen Eklat und schweigen zu den unerzogenen Worten ihrer Adoptivtochter.

Maria antwortet Jan: „Oh …, nun, na gut.“ Und an Dunja gewandt: „Ich will es eigentlich auch sehen.“ Und wieder zu Jan redend: „Komm, Jansi, gehen wir deine Jacke holen.“

Die meisten anderen Eltern – Britta und Tom Kruse, Eric Wiese und seine Frau Michaela, Eva Gründler, Hubert und Jenny Seifried, Bernardo und Ewa Wagner, Lilli Schön – tun das Gleiche. Anja Kühn jedoch widersteht den inständigen Bitten ihres Sohnes Moritz, der noch immer nichts vom Tod seines Vaters weiß.

„Mama kann nicht, Schatz – sie ist zu müde. Tut mir leid.“

„Paps nimmt mich mit … wo ist Papa?“

Anja weiß nicht, was sie darauf antworten soll. Sie ist kurz davor in Tränen auszubrechen. Eigentlich hatte sie ihm schon vor dem Frühstück sagen wollen, dass Papa sich in einem Rettungseinsatz befindet. Sie hatte die offensichtliche Lüge aber nicht übers Herz gebracht. Die anderen Frauen, die eben zugehört haben, zerfließen vor Mitgefühl, und Lilli sagt: „Ich nehm‘ dich mit raus, kleiner Mann. Wenn deine Mama einverstanden ist.“

Stella und ich sehen, wie Anja dankbar nickt.

Vor dem überschwemmten Schlosspark, der zu einem großen schwarzen See geworden ist, stehen ungefähr siebzig Stadtbewohner in einer lockeren Reihe beisammen und schauen hinaus auf das vom Sturm wild aufgepeitschte Wasser. Die Eltern, die zur Seitentür herauskommen, um sich den anderen anzuschließen, tragen ihre kleinen, dick eingepackten Kinder entweder auf den Armen oder führen sie an der Hand. Ab und zu versinken sie bis zur Taille im Neuschnee und müssen einander aus den Schneewehen heraushelfen. Es gibt einiges Gelächter; die Aufregung hat dazu beigetragen, sie aus ihrem traumbedingten, nach innen gekehrten Zustand aufzurütteln.

Als unsichtbar dahin schwebende Geister, würden wir jetzt Lamors haselnussfarbenen Schaft seines Stocks in den Schnee herabsinken sehen. Lamor steht hier und beobachtet die Stadtbewohner durch den dichten Schnee. Sie sehen ihn nicht, weil sie ihm den Rücken zukehren.

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