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Altes Testament

Im Alten bzw. Ersten Testament erzählen Menschen ihre Geschichte mit Gott. Das könnte eine Steilvorlage sein, auch die eigene Lebensgeschichte nach Gott zu befragen. Dennoch wird das Alte Testament wenig gelesen und in der Liturgie kaum kommentiert. Noch weniger wird es in der Theologie befragt, da es zwar große Erzählungen, aber nur wenig Dogmatik enthält. Dabei ist es eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, denn der Bund mit seinem Volk gilt bis heute (Jer 31,31–33); es bedarf also keines neuen Bundes, worauf schon Paulus eindringlich hinweist (Röm 11,18). Die Feier eines »neuen Bundes« in manchen Gebeten und Liedern drückt meines Erachtens sogar einen latenten Antisemitismus aus. Um die historischen Schriften des Alten Testaments einordnen zu können, genügt ein kurzer Blick in die Epochen der Geschichte Israels: von der Patriarchenzeit über die Flucht der Mose-Schar aus Ägypten, die Rettung durch den Gott der Freiheit, die zugleich die eigentliche Gründung Israels bedeutet; von der allmählichen Landnahme und der Entwicklung vom Stämmeverbund bis zum Staat, der bald zerfällt. Die Zeit der Propheten, die gegen soziale Ungerechtigkeit angehen, die politische Abhängigkeit von Assur, Ägypten und Babylon, das babylonische Exil, die Rückkehr unter Esra und Nehemia und der Aufstand der Makkabäer: Das sind die wenigen historischen Daten, die das Verständnis alttestamentlicher Texte erheblich erleichtern.

Hilfreich ist die Erkenntnis, dass nicht Geschichtsschreibung, sondern Geschichtstheologie betrieben wird: Die Geschichte des Volks Israel wird auf Gott hin gedeutet, sie wird nicht einfachhin chronologisch erzählt. Von daher ist vieles tatsächlich erfunden; es ist wahr, ohne wirklich gewesen zu sein. Propheten sind dabei keine Wahrsager, sondern sie sagen die Wahrheit; sie schauen nicht in die Zukunft, sondern mit einem kritischen Blick in die Gegenwart. Dass Psalmen Gebete sind und damit Poesie und Lyrik, die einzig und allein der Beziehungspflege mit Gott dienen, dürfte dabei eine Binsenweisheit sein. Bereits Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, begeht den Fehler, aus den vermeintlich auf David zurückgehenden Psalmen eine Christologie herauszulesen (Apg 2,25–28; 13,33). Gott ist ein Gott der Menschen, er hat Interesse an den Menschen und ist besonders dort anzutreffen, wo diese Menschen leiden: Das ist für mich die Mitte des Alten Testaments und besonders des Gottesnamens JHWH, des »Ich-bin-da«.

Neues Testament

Das Neue Testament ist das Zeugnis von Jesus, dem Christus. Es muss von Ostern her gelesen werden, da es aus eben dieser Perspektive geschrieben worden ist. Der auferstandene Christus ist sozusagen das hermeneutische Prinzip des gesamten Neuen Testaments. Es geht um das Evangelium von Jesus, also um seinen Tod und seine Auferstehung, geschrieben aus der Sicht der vier Evangelisten, aus der Sicht des Apostels Paulus und einiger anderer Autoren. Darin zentral ist der Ruf zu Nachfolge und Entscheidung, aber zuallererst eine Person: Jesus von Nazareth, der Messias, der Gesalbte Gottes.

Zunächst gibt es verschiedene Überlieferungen, die mündlich weitergegeben werden. Die frühen Christen erwarten die baldige Wiederkunft Jesu und schreiben deshalb nichts über ihn auf. Paulus, ebenfalls von drängender Naherwartung erfüllt, möchte die Welt für Jesus Christus gewinnen; es geht ihm um die Erlösung allein aus Gnade, ohne die Werke des Gesetzes. Für ihn ist Glaube Geschenk, Frömmigkeit und gute Taten sind nicht Bedingung für die Liebe Gottes, sondern deren Konsequenz. Von den Worten Jesu überliefert Paulus nichts, allein sein Tod und seine Auferstehung sind ihm wichtig.

Erst nachdem die Wiederkunft Jesu ausbleibt, werden seine Worte und Taten schriftlich überliefert, allen voran die Passionsgeschichte und verschiedene Sammlungen von Jesusworten. Aus diesen Überlieferungen erstellen die vier Evangelisten, die selbst keine Augenzeugen sind, ihre Texte. Dabei haben sie eigene Schwerpunkte: Typisch für Markus sind der Ruf zur Umkehr und das Messiasgeheimnis, typisch für Matthäus sind die Schriftbeweise und das Thema Kirche, typisch für Lukas die schön erzählten Geschichten, typisch für Johannes die andauernde, manchmal ermüdende meditierende Reflexion Jesu über seine Beziehung zum Vater. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Evangelisten keine Historiker sind, sondern Verkündiger – sie erzählen alles aus der Perspektive von Ostern. So sind beispielsweise die Kindheitsgeschichten fromme Legenden, die Jesus von Anfang an als den Messias Gottes ausweisen sollen. Weihnachten kann man deshalb erst feiern, wenn man Ostern verstanden hat. Kinder können die biblischen Geschichten lernen, nacherzählen, basteln und spielen, aber nicht interpretieren. Dies ist Sache der Erwachsenen, denn die Bibel ist ein Buch für Erwachsene. Jesus hat den Kindern nicht gepredigt, sondern sie in seine Arme genommen und gesegnet. Paulus hat keine Kindergärten gebaut, sondern Gemeinden gegründet und auf deren Fragen geantwortet.

Negative Theologie: die analoge Rede von Gott

Das Denken und die Bibel können sich Gott nicht direkt nähern, denn Gott ist der ganz Andere. Unser Sprechen von ihm ist analog, bildhaft: Ich kann nicht sagen, wer Gott ist, sondern nur, wo er mir aufgegangen ist. Das ist wie bei einem Sonnenaufgang. Jeder weiß, dass die Erde sich dreht und dass deshalb die Sonne nicht aufgeht. Aber dennoch empfindet man es so, als ginge die Sonne auf, man spricht davon, ist fasziniert und berührt. Ich kann auch sagen, dass mein Name in Gottes Hand geschrieben ist. Das ist wieder nur ein Bild, denn Gott ist kein menschliches Wesen und hat deshalb auch keine Hand. Gott ist Geist. Und dennoch tut mir diese Vorstellung gut, weil sie mir sagt, dass Gott mich kennt und mich niemals vergisst. Der Inhalt meiner Aussage (»in Gottes Hand geschrieben«) ist also richtig, wenn auch das Bild (»Hand«) schief ist, es trifft nur analog. Selbst Jesus hat von Gott in Bildern, also analog, gesprochen. Er hat ihn Abba, lieber Vater, genannt. Damit wollte er sagen: Meine Beziehung zu Gott ist wie die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Er wollte damit nicht sagen, dass Gott ein Mann ist und irgendwann Vater geworden sei. Der Inhalt ist wieder richtig, aber das Bild bleibt, was es ist: nur ein Bild.

Negative Theologie heißt nun: Alles, was wir von Gott sagen, ist ihm eher unähnlich als ähnlich, denn außer unseren Bildern haben wir nichts im Hirn und in der Hand. Letzten Endes geht es um das Gottsein Gottes: Denn wenn man Gott beweisen könnte wie die Existenz eines Stuhles oder eines Tisches, dann wäre er nicht mehr Gott. Deshalb kann man nicht über Gott reden, sondern nur von ihm, also von den Erfahrungen, die man mit ihm gemacht hat. Solche Erfahrungen sind zunächst subjektiv, jeder macht seine eigenen, ganz persönlichen Gotteserfahrungen. Wenn wir über diese Erfahrungen sprechen – und deshalb brauchen wir die Gemeinschaft der Kirche –, werden sie intersubjektiv. Wenn solche Erfahrungen eine lange Tradition hinter sich haben und dadurch für die ganze Gemeinschaft der ­Glaubenden von Bedeutung geworden sind, dann sind sie ein Maßstab für alle neuen, eigenen Gotteserfahrungen. Solche intersubjektiven, durch Tradition wichtig gewordenen Gotteserfahrungen finden wir in der Bibel. Nicht mehr und nicht weniger.

Dietrich Bonhoeffer hat das Ganze am einfachsten auf den Punkt gebracht: »Einen Gott, den es gibt, den gibt es nicht.« Also einen Gott, über den man hundertprozentig Bescheid wissen könnte. Einen Gott, der zum Gegenstand des Denkens geworden wäre, zum philosophischen oder theologischen Begriff oder gar zum Besitz einer Glaubensgemeinschaft. Gott bleibt das absolute Geheimnis, ein Geheimnis jedoch, das den Menschen in Jesus sehr nahegekommen ist. Deshalb können wir nicht an Gott glauben, ohne an Jesus zu glauben. Ohne Jesus bleibt Gott eine leere Chiffre, mit der man so ziemlich alles machen kann, was man will. Man sieht es an den Fundamentalisten jeder Prägung: Sie meinen immer, sie müssten (und könnten) Gott beschützen, weil sie ihn genau zu kennen vorgeben. Sie haben vergessen, dass wir nur in Bildern von ihm sprechen können, und deshalb halten sie die Bilder von Gott (natürlich nur ihre eigenen Bilder, nicht die ihrer Gegner, ohne die sie keinerlei eigene Identität hätten) bereits für das Wesen Gottes. Eine in diesem Sinne positive Theologie führt in den Fundamentalismus, die Negative Theologie jedoch zur Anbetung des großen Geheimnisses, das wir Gott nennen. Der Fundamentalist kennt nur seine eigene Sicht der Dinge, er verweigert jegliche Aufklärung und kann sich nicht in Frage stellen (lassen). Letzten Endes verteidigt er mit aller Gewalt seinen Kinderglauben. Er wehrt sich gegen jede Art der Glaubensinterpretation, denn alle Glaubensbilder hält er schon für Wahrheiten, alle Metaphern bereits für Tatsachen. Für ihn ist Religion eine emotionale, keine kognitive Angelegenheit. Deshalb halte ich den unaufgeklärten kindlich-naiven Kinderglauben bei Erwachsenen sogar für gefährlich. Fundamentalisten-Gruppen vom Nahen Osten bis zum Wilden Westen sind meistens bildungs- und entwicklungsresistent, haben dafür aber einen hohen missionarischen Anspruch.

Wie groß ist dein Gott?

Wenn dein Gott klein ist,

interessiert er sich auch nur

für Kleinigkeiten.

Er hält dich klein

und will dir was.

Wenn dein Gott groß ist,

interessiert er sich für dich.

Er will Entwicklung,

lässt dich wachsen,

will dir alles sein.

Fundamentalisten

haben kleine Götter,

die sie beschützen müssen.

Erwachsene Christen

haben einen großen Gott,

mit dem sie leben dürfen.

Wenn es das Christentum in seiner westeuropäisch aufgeklärten Form nicht gäbe, wenn ich mich nur an Traditionen zu orientieren und Autoritäten zu gehorchen hätte und mich nicht in Freiheit entwickeln dürfte, würde ich mich aus allem heraushalten, was mit Religion und Glauben zu tun hat. Ich wäre also zwar nicht Atheist, aber doch Agnostiker. Von unaufgeklärten Religionen, die die Hermeneutik ihrer Heiligen Schriften ablehnen, ist bisher nur Gewalt und Unfrieden ausgegangen; darauf könnte die Welt gut verzichten. Es bleibt die Herausforderung der Seelsorge, die oft unaufgeklärte Religion vieler Menschen zwar nicht gutzuheißen, aber doch zu ertragen und sensibel mitzutragen. So etwas kann einen Seelsorger regelrecht zerreißen, denn der Weg zur Freiheit ist weit und schwer. Unreife Menschen halten oft an ihren alten Ängsten fest; sie verwechseln sie mit dem, was sie selbst für ihren Glauben halten, und finden dabei weder zu sich noch zu Gott.

Entwicklung im Alten Testament

Unter diesen Voraussetzungen wähle ich einige Bibelstellen aus, um beispielhaft zu zeigen, wie die Entwicklung von der Magie zur Mystik auch die biblische Überlieferung durchzieht. Die Erzählung vom Sündenfall (Gen 3,1–24) ist ein Bild für die Entwicklung eines jeden Menschen. Den Garten Eden hat es nie gegeben, er ist vielmehr das Symbol einer großen Sehnsucht. Von Anfang an fühlten sich die Menschen wie aus einem Paradies vertrieben, sie waren ins Leben hineingeworfen und mussten irgendwie damit klarkommen. Adam und Eva sind wie alle Menschen vor der Pubertät (und wie die Tiere) geborgen, dafür aber unbewusst. Menschen nach der Pubertät sind bewusst, dafür aber ungeborgen. Insofern spiegelt die Erzählung vom Sündenfall die ganzheitliche Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen wider. Erwachsene nehmen das Leben selbst in die Hand; sie haben das Paradies ihrer Kindheit mit all seiner Geborgenheit verloren, sie sind jetzt für sich selbst verantwortlich.

Eine besonders archaische, ja, dunkle Entwicklungsgeschichte ist das Opfer Isaaks durch Abraham (Gen 22,1–19). Der Text gehört für heutige Menschen zu den fragwürdigsten und problematischsten der ganzen Bibel, denn er enthält mehr Fragen als Antworten: Wer ist eigentlich Gott? Hat Gott solche bitteren Glaubensproben nötig? Warum fordert er etwas, das er letztlich gar nicht will? Handelt es sich um eine Ätiologie (Entstehungsvermutung) des Verbots von Menschenopfern oder um eine Geschichte des Glaubensgehorsams? Ist Abraham nicht eher blind für Gottes Willen, weil er seinem Befehl so wenig kreativ und willenlos gehorcht?

In allen diesen Fragen schwingt das allgegenwärtige Thema der Theodizee unausweichlich mit. Als eine Geschichte der Bewährung im Glauben sowie des rettenden Eingreifens Gottes bekommt die Erzählung eine erträgliche Wendung. Abraham wird beim Namen gerufen und antwortet mit gläubigem Gehorsam. Gott fordert nicht nur etwas, sondern Isaak, den Sohn, den Hoffnungsträger. Eine einzige Hoffnung bleibt: Den Ort des Brandopfers wird Gott selbst bestimmen. Die Handlung wirkt so, als warte Abraham bei jeder Bewegung darauf, mit dem schrecklichen Vorhaben aufhören zu dürfen. Ein dringlicher Ruf seines Namens hält Abraham im letzten Augenblick zurück. Erst nachdem er von seinem grausamen Auftrag entbunden ist, erblickt er den Widder, den er nun stellvertretend als Brandopfer darbringt.

Auf einer eher sachlichen Deutungsebene mag die Erzählung eine Ätiologie für die Ablösung des Kinderopfers durch ein Tieropfer sein bzw. die Auslösung des Erstgeborenen durch ein Tier. Auf theologischer Ebene mag Abraham als Vorbild von Treue und Glaubensgehorsam gelten. Auf persönlich-existenzieller Ebene lädt die Geschichte ein, in Abraham und Isaak jenes Leiden an Gott zu sehen, das dieser Welt ins Gesicht geschrieben steht. Abraham, dem in seiner ganzen Ratlosigkeit nichts anderes übrig zu bleiben scheint, als dem grausamen Befehl Wort für Wort zu folgen, steht für alle Menschen, die eigenes und fremdes Leiden zwar nicht verstehen können, aber im Glauben bestehen wollen; für alle Menschen, die an der Unbegreiflichkeit Gottes leiden und dennoch an ihm festhalten. In kindlicher Naivität meinen auch heute manche Menschen, Gott genau zu kennen, selbst wenn sie in seinem Namen Böses tun und dies als seinen Willen ausgeben. Ob sie keine Augen für den »Widder«, also für eine andere Perspektive hatten? Vielleicht wollte Gott von Anfang an gar nicht den Sohn, sondern nur den Widder! Abraham, in dessen Umgebung das Menschenopfer noch üblich war, hatte möglicherweise nur das Althergebrachte mit Frömmigkeit verwechselt. Fundamentalisten und andere Aufklärungsverweigerer glauben auch heute oftmals an einen dunklen Gott, den sie nicht hinterfragen dürfen, der nicht mit sich reden lässt, ja, den sie wider alle Vernunft meinen beschützen zu müssen. Ihnen fehlt der »Widder«, die andere Sicht der Dinge, die Alternative.

Jakob, der Fersenfasser und Erbschleicher, läuft vor sich selbst davon (Gen 25–33). Er ist ein Schlitzohr, der sich in Lügen verfängt. Beim Schwiegervater Laban ist er in der Fremde, lebt von der eigenen Leistung und bleibt doch unversöhnt. Er hat Angst vor dem Leben und vor Gott; voller Zorn blickt er auf seine eigene Vergangenheit. Erst nach dem geheimnisvollen Kampf mit Gott wagt er den Weg zur Versöhnung, ohne zu wissen, ob sein Bruder Esau ihm vergeben wird. Er kommt wieder zu sich selbst, wird wahrhaftig und identisch, kann mit Dankbarkeit sein Leben annehmen. Segen wird eben nicht erschlichen, sondern erkämpft. Der Kindische wird erwachsen, er beendet die Flucht vor sich selbst und stellt sich der Realität: Aus Jakob wird Israel. Das ist sehr erwachsen, das ist ein gereifter Glaube!

Das Buch Exodus erzählt von der grundlegenden Freiheitserfahrung Israels. Diese Erfahrung greift für das Volk weitaus tiefer als die erst später entstehenden Schöpfungshymnen. Der beschwerliche Gang in die Freiheit ist das Ursprungsereignis Israels. Gott und Freiheit sind für das Volk im Grunde genommen ein und dasselbe. Noch bevor Israel über die Schöpfung und den Sinn des Lebens nachdenkt, wird der Auszug aus Ägypten erzählt und gefeiert. Dahinter steht die Erfahrung: Gott ist interessiert an den Menschen, er sieht das Elend seines Volkes, offenbart sich selbst, beruft einen Befreier – Mose – und führt sein Volk aus der Sklaverei heraus (Ex 3,1–15). Unterwegs wird der Sinai-Bund geschlossen: Die Zehn Gebote sollen die geschenkte Freiheit sichern, das Volk soll sich nicht in neue Zwänge begeben.

Doch immer wieder gibt es Rückschläge. Das Volk will zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens. Die Freiheit ist allzu anstrengend, vor allem für Hirn und Magen. Denn wer frei sein will, muss denken wollen und Durststrecken überstehen. Man muss Vertrauen haben, man braucht einen langen Atem. Mit anderen Worten: Das Volk bleibt auf dem Wüstenweg infantil, es will Betreuung statt Freiheit. Diese Art von Regression – zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, zurück in die kindliche Versorgungsmentalität – gibt es auch heute. Sie äußert sich in kindlichem Gehorsam oder ängstlicher Gesetzlichkeit. Oder man bleibt zeitlebens pubertär und kämpft sich an Autoritäten ab, über die man sich aufregt, wenn man sie weit weg wähnt, die man verbal bekämpft, wenn man unter Gleichgesinnten ist, vor denen man aber buckelt, sobald sie einem persönlich gegenüberstehen.

Woher kommt das infantile oder pubertäre Verhalten? Es hat mit mangelnder innerer Freiheit zu tun, aber auch mit autoritären Systemen, die sich allzu gern anbieten, einem die lästige Bürde der Freiheit wieder abzunehmen. Auf diese Weise entstehen regressive Verhaltensweisen: Nach außen wirkt man gehorsam, nach innen jedoch ist man in Wirklichkeit seiner vermeintlich heilen Kinderwelt nicht entwachsen. Dieses System funktioniert perfekt, auch heute noch: in den Führungsetagen großer Firmen, in Ordensleitungen, in der kirchlichen Hierarchie. Erwachsen zu glauben bedeutet deshalb, sich auf das Wagnis einzulassen, von Gott geführt zu werden; den alten Sicherheiten und Gewohnheiten zu widerstehen, den Fleischtöpfen Ägyptens, dem ängstlichen Verharren im Gestern. Gottes Pastoral ist das Leben in Freiheit. Die Kirchenpastoral muss deshalb den Freiheitsdrang des modernen Menschen ernst nehmen. Ohne ­innere und äußere Freiheit bleiben wir zeitlebens in Ägypten gefangen: an Fleischtöpfen, die uns abhängig, und an ­kindlichen Prägungen, die uns klein halten.

Wenige Kapitel später, kurz vor dem Sinai, blickt Gott selbst auf die Befreiung seines Volkes zurück. Einer der Autoren des Buches Exodus lässt ihn sagen: »Ihr habt gesehen, … wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und zu mir gebracht habe« (Ex 19,4). Die Metapher vom Adler ist fester Bestandteil des ­jüdisch-christlichen Glaubensguts geworden, besonders in Gestalt vieler Lieder: »Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet«, heißt es beispielsweise in »Lobe den Herren« von Joachim Neander. Beim ersten Hören und Mitsingen assoziiert man damit ein Geborgenheitsgefühl: Gott sorgt für mich. Gemeint ist aber etwas ganz anderes. Man kann am Sinai und anderswo beobachten, wie junge Adler fliegen lernen. Der Adlerhorst ist das Nest, das sich oft auf einer Felsklippe über einem tiefen Abgrund befindet. Wenn die Jungen flügge werden, packt sie der alte Adler trotz ihres Zitterns und Sträubens und lässt sie über dem Abgrund fallen. Das Junge zappelt und versucht zu fliegen, aber es gelingt nicht und es stürzt immer tiefer. Plötzlich aber schießt der alte Adler steil nach unten, fängt das Kleine im Fallen auf und trägt es wieder nach oben. Das Spiel beginnt von neuem, bis der junge Adler seine Flügel gebrauchen kann. Der Adler will, dass seine Jungen fliegen lernen. Gott will, dass wir erwachsen werden; darin besteht seine fürsorgende, aber auch konfrontative Liebe. Ein Kuschelgott für Nesthocker ist er jedenfalls nicht, kein Gott des kindlich-bergenden Status quo.

Auch die Jona-Geschichte sowie die Hiob-Lehrerzählung zeigen eine Entwicklung zum erwachsenen Glauben: Jona lernt, nicht mehr wegzulaufen, sondern seiner Berufung zu folgen und die Barmherzigkeit Gottes zu akzeptieren. Hiob beginnt, wider alle Hoffnung zu hoffen, ohne jedoch Gott auch nur ansatzweise zu verstehen – anstatt auf die falschen Freunde zu hören, die ihm mit den alten magisch-kausalen Vorstellungen von Tun und Ergehen ein schlechtes Gewissen machen und Schuld einreden wollen.

Der 22. Psalm zeigt wie kaum ein anderes biblisches Gebet die innere Entwicklung von der Magie zur Mystik, also von archaischen und angstmachenden Vorstellungen hin zum Gottvertrauen. Denn hier betet einer, dessen Schicksal auf der Kippe steht, und er betet sich schlussendlich in Gott hinein. Zunächst ruft er ihn aus seiner bedrohlichen Situation heraus an: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Dann erinnert er Gott an dessen große Taten innerhalb der Heilsgeschichte: »Aber du bist heilig, du thronst über dem Lobpreis Israels. Dir haben unsere Väter vertraut, und du hast sie gerettet.« Die bedrängende Gegenwart fasst der Beter in archaisch anmutende Metaphern. Er fühlt sich wie ein Wurm und wird von allen verspottet. Doch dann erinnert er sich erneut an Gottes Treue, die ihm eine Zukunftsperspektive eröffnet: »Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog. Von Mutterleib an bist du mein Gott.« Die Krise kommt zu ihrem Höhepunkt, als der Beter die anonymen Mächte in starken Bildern ausspricht und dadurch Distanz zu seinen eigenen Ängsten schafft. Das Unheil wird dabei nicht verdrängt, sondern ehrlich benannt. Der Beter sieht sich bedroht von Stieren, Büffeln, Löwen und Hunden. Er fühlt sich hingeschüttet wie Wasser, wie aufgelöst: mit einem Herzen aus Wachs und einer Kehle, so trocken wie eine Scherbe.

Doch dann kommt der Durchbruch. Die Feindbilder lösen sich auf, auf einmal werden seine Feinde zu Brüdern. Hier geschieht kein magisches Wunder von außen, sondern eine mystische Bewusstseinsänderung im Innern. Nicht der Beter verändert Gott, sondern Gott verwandelt den Beter! Gott ist kein Zauberer, der einen wunderbar aus der Grube zieht oder aus dem Schlamassel befreit, sondern ein freies Gegenüber, dem ich vertrauen kann. Er bewahrt nicht vor dem Unheil, sondern geht mit hindurch. Not lehrt nicht Beten, sondern das Gebet zeigt, dass Gott mitten in der Not gegenwärtig ist. Ob das Problem gelöst ist, das der Beter hier so wortgewaltig hinausschreit, muss offenbleiben. Von einer Lösung ist nicht die Rede, wohl aber von Erlösung: »Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen. Deine Treue preise ich in großer Gemeinde; ich erfülle meine Gelübde vor denen, die Gott fürchten. Vom Herrn wird man dem künftigen Geschlecht erzählen, seine Heilstat verkündet man dem kommenden Volk; denn er hat das Werk getan.« Das Vertrauen ist wiederher­gestellt, weil die Not in Gott schon gewendet ist – sie wird angesichts des Glaubens an den liebenden Gott nicht mehr als übermächtiges Unheil erfahren, sondern auf diesen Gott hin ­relativiert.

Wer den Psalm aufmerksam liest, entdeckt sofort, dass er bei der Abfassung der Passionsgeschichten der Evangelien Pate gestanden haben muss; sehr viele Parallelen – sprachlich und in der Abfolge der Geschehnisse – legen dies nahe. Wenn Jesus diesen Psalm am Kreuz gebetet hat (vgl. Mk 15,33–37), dann hat er sicherlich nicht nur das überlieferte »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« hinausgeschrien, sondern auch das vertrauende »Von Mutterleib an bist du mein Gott.« Für Jesus war das Psalmenbeten Vertrauensarbeit: Die Gebete, die er bereits kannte, entfalteten ihre verändernde Kraft, als er sie brauchte.

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9783843613156
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