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XI

Catania

Lilly hatte sich eine Stadt vor 2.500 Jahren ganz anders vorgestellt. Sie kannte Hongkong aus dem Jahr 1921 und London im 21. Jahrhundert. Beides waren riesige Städte, die eigentlich nie schliefen und auch nachts an den meisten Stellen so hell waren, das man sich schnell und sicher bewegen konnte.

Catania unterschied sich davon deutlich. Die Straßen verliefen ungeordnet, nur wichtige waren gepflastert und eine Straßenbeleuchtung fehlte völlig. Kaum ein Mensch lief ihnen über den Weg und in den meisten Häusern, die sie passierten, herrschte völlige Stille. Das wenige Licht, das die Straßen erhellte, kam von Häusern deren Bewohner sich noch nicht zur Ruhe begeben hatten, obwohl es noch gar nicht lange dunkel war. Am Hafen herrschte etwas mehr Betriebsamkeit und hier und da erleuchten Feuerkörbe und Fackeln die Kais. Dort fanden sie ein Haus, aus dem erstaunlich viel Lärm drang: eine Taverne.

Nestor betrat als erster den Schankraum, der nicht durch eine Tür verschlossen wurde, und Lilly folgte ihm so dicht wie möglich, denn dieser Ort war alles andere als beruhigend.

Er ging auf die Theke zu, die erheblich niedriger als heutige war, und an der auch keine Menschen saßen. Die Gäste drängten sich an Tischen und Bänken, die eng gestellt die Taverne füllten. Der Wirt sah zu ihm auf, als er gerade viele Tonbecher mit rotem Wein füllte.

»Seid gegrüßt, Herr! Was hat euch in mein ehrenwertes Haus geführt?«, fragte der Mann hinter der Theke gespielt freundlich.

»Der Wunsch nach einem Nachtmahl und Unterkunft für mich und meine Dienerin, Wirt!«

»Ihr habt Glück, Herr, dass die Götter eure Füße zu mir geführt haben. Wie es der Zufall will, habe ich noch ein letztes Zimmer frei – und es ist sogar das Beste in meiner Herberge. Habt ihr noch mehr Gesinde, so bringt sie nur herein. Im Hof ist Platz genug.«

»Ich schlafe unter keinen Umständen im Hof!«, protestierte das Mädchen aus China.

»Habt ihr eurer Dienerin zu viel Wein gegeben, Herr?«, stutze der Wirt.

»Wie ist dein Name, Wirt?«, wollte Nestor wissen.

»Lakis, stets euer Diener!«

»Hör zu Lakis! Diese Dienerin stammt direkt von den fernen Völkern am östlichen Meer. Kannst du dir vorstellen, wie wertvoll und selten sie ist?«

»Nein, gewiss nicht, Herr, verzeiht Herr!«, entschuldigte sich Lakis ölig.

»Ich wünsche für sie ein Extrazimmer, und zwar direkt neben meinem. Verstanden?«

»Oh, ich fürchte, das wird nicht ganz so einfach werden. Da müsste ich ein oder zwei Gäste umquartieren. Eine sehr unangenehme Geschichte, versteht ihr, Herr?«, wand sich der Wirt und es war sonnenklar, dass Lakis einfach nur mehr Geld herausschinden wollte.

»Egal! Bring’ uns vorher etwas zu Essen und zu trinken. Danach kümmere dich um die Zimmer!«, befahl Nestor.

»Selbstverständlich, Herr! Nehmt Platz, dort bei den Matrosen ist noch etwas frei.« Lakis zeigte auf einen nicht ganz besetzten Tisch.

Lilly und Nestor schauten sich an und gingen dann zum Tisch. Die Matrosen schauten verwundert auf, als sie den Mann und das Mädchen neben sich sahen und rückten nur widerwillig zusammen und ihr Gespräch wurde auffällig leiser. Scheinbar waren sie so feine Gesellschaft nicht gewohnt.

»Seid gegrüßt, Männer!«, sagte Nestor knapp, nahm Platz und bedeutete Lilly sich ebenfalls zu setzen.

Das Mädchen setzte sich wortlos hin und betrachtete das Gasthaus und seine Gäste. Die Seemänner an ihrem Tisch nahmen nur kurz Notiz von den beiden und erreichten bald wieder ihre ursprüngliche Lautstärke. Überhaupt war es sehr laut. Niemand schien auf die anderen zu achten. Hier wurde über einen schlechten Herrn gelästert, dort über einen schlechten Sklaven. Die Einen beschwerten sich der Wein wäre zu teuer, die Anderen klagten das Getreide wäre zu billig. Niemand war zufrieden und durch die immer wieder gefüllten Weinbecher beharrte jeder immer deutlicher auf seinem Standpunkt. Es wurde laut gestritten, aber auch laut gelacht.

Nur die Männer, die mit jungen Damen in irgendwelchen Ecken schmusten, waren eher leise. Der Schankraum war erstaunlich groß, ungefähr zwanzig mal zwanzig Schritt, und neben dem Schanktresen führte eine hölzerne Treppe in das obere Stockwerk. Auf jedem Tisch standen einige Öllampen und in der Nähe des Eingangs flackerte eine Fackel, wohl damit der Wirt besser sehen konnte, wer die Kneipe betrat.

»Hätte es bessere Zeitalter gegeben, in die wir hätten reisen können?«, fragte Lilly ihr Gegenüber so leise wie möglich.

»Oh, ja!« Nestor schob die Unterlippe vor und nickte.

»Du warst bestimmt schon oft in dieser Epoche, oder?«

»Wie hätte ich denn sonst an die Münzen herankommen sollen, Lilly?«

Eine junge Frau brachte einen Krug Wein, der mit Wasser gemischt war, zwei Becher, Fladenbrot, Oliven und kaltes Fleisch an ihren Tisch, sagte dabei aber keinen Ton.

Nestor bediente sich reichlich und auch Lilly hatte großen Hunger. Beim Trinken hielt sie sich allerdings zurück. Ihr Wissen um die Kung-Fu-Lehren gestatteten es ihr nicht, Wein zu trinken. Das Fladenbrot war erstaunlich lecker und auch die Oliven waren von einer Qualität, die das Mädchen nicht erwartet hatte. Das kalte Fleisch war fad, aber immerhin nicht zäh.

»Hier trachtet auch jeder nur nach seinem Vorteil, oder?«, wollte Lilly wissen.

»Allerdimf!« Nestor hatte den Mund voll und brauchte eine Weile, bis er richtig antworten konnte: »Das ist zu fast allen Zeiten so. Darum habe ich auch kein Problem damit, auf meinen Vorteil zu achten.« Er warf sich genüsslich eine Olive in den Mund und spülte mit reichlich Wein nach.

Die Matrosen stimmten plötzlich ein Lied an und sangen so laut, dass eine weitere Unterhaltung völlig unmöglich war. Mehr und mehr Gäste stimmten in den Refrain ein, der mehrmals wiederholt wurde, dann lachten alle und beschäftigten sich wieder mit ihren Gesprächspartnern.

»Aber ihren Spaß scheinen sie zu haben«, stellte die Chinesin erfreut fest.

»Auch das war zu fast allen Zeiten so!«

Plötzlich stand der Wirt an ihrem Tisch und sagte, dass die Zimmer bereit wären und sobald sie wollten, bezogen werden könnten. Die beiden einigten sich darauf, erst aufzuessen und dann zu Bett zu gehen.

Sie folgten dem Wirt die Treppe hinauf, der in ihren Zimmern Öllampen entzündete und eine Gute Nacht wünschte. Lilly und Nestor einigten sich darauf, dass wer als erstes wach würde, den anderen wecken solle. Daraufhin wünschten auch sie sich eine Gute Nacht und verriegelten von innen ihre Zimmertüren mit einfachen Holzbalken, die aber einen sicheren Schutz vor Eindringlingen boten.

Das Mädchen war viel zu müde, um sich lange über den Lärm, das harte Lager und die Decke zu ärgern, die nach altem, staubigen Schweiß roch. Auch Nestor Nigglepot legte sich sofort hin, allerdings hatte er an dem Atalandor vorsichtshalber noch die Alarmanlagenfunktion aktiviert und löschte das Licht.

»Heyhoo!«, brüllte ein Mann in aller Frühe direkt vor der Herberge und brachte mit lautem Gerappel ein Pferdefuhrwerk zum stehen, was Lilly und Nestor aus ihrem Schlaf hochschrecken ließ. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass die Sonne gerade erst aufgegangen war.

Sie wusch sich, zog sich an, nahm ihr Gepäck und wollte Nestor wecken, der zur gleichen Zeit aus seinem Zimmer trat.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so früh aufstehen kannst, Nestor von Korfu!«

»Keine Frechheiten um diese Zeit. Ich bin das Paradebeispiel für einen Morgenmuffel!«

»Schlecht geschlafen?«, grinste Lilly ihn an.

»Zu kurz!«

Während das Mädchen voller Energie war, schien Nestor wenig belebt zu sein.

»Was ist los? Du musst doch genauso lang geschlafen haben wie ich«, stellte Lilly fest.

»Ja, aber du hast auch erheblich weniger billigen Wein getrunken als ich«, grunzte er.

»Und jetzt weißt du auch warum«, kam es altklug zurück.

»Ich werde es beherzigen«, raunzte Nestor zurück und schob noch ein »Pffff!« hinterher.

Lilly ging munter die Treppenstufen herab und Nestor folgte ihr mit vorsichtigen Schritten. Im Gastraum saßen der Wirt und zwei Gäste. Viel musste er nicht umquartieren.

»Ich hoffe, ihr habt wohl geruht, Herr!«, rief ihm Lakis schroff entgegen.

»Mhmm«, nickte der Herr.

»Du solltest mal die Decken waschen, Lakis! Die müffeln nämlich nach alten Socken!«, stellte Lilly fest.

»Socken?«, der Wirt sah das Mädchen ratlos an.

»Ja, Socken. Kennst du keine Socken?«

Nestor stupste Lilly unauffällig an und flüsterte: »Er kennt keine Socken.«

»Na ... wasch sie halt. Die Dinger stinken!«

»Wenn die edle Sklavin es wünscht ...« Der Wirt war beleidigt, denn er war es nicht gewöhnt, dass sich Sklaven, insbesondere so junge, bei ihm beschwerten.

»Sie hat recht! Und wenn du sie waschen lässt, bleiben wir noch eine Nacht länger in deiner Herberge«, sagte Nestor.

»Natürlich, Herr, sehr gerne Herr!«, biederte Lakis sich an. »Das Frühstück findet ihr dort.« Er zeigte auf einen Tisch, auf dem Früchte, Fladenbrot und Erbsenbrei standen.

Lilly wunderte sich: »Du willst noch eine Nacht hier bleiben? Muss das sein?«

»Selbstverständlich, Lilly! Oder glaubst du, wir könnten heute alles erledigen, was wir zu tun haben?«

Das Mädchen schnupperte an dem Tonkrug und runzelte die Nase: »Da ist ja schon wieder Wein drin!«

»Aber viel zu wenig!«, brüllte einer der beiden anderen Gäste, schüttelte sich vor lachen und trank einen großen Schluck aus seinem Becher.

»Gibt’s auch normales Wasser?«, wollte Nestor wissen.

»Wasser? Ja, natürlich, aber wer will denn schon normales Wasser zum Frühstück trinken?«

»Wir!«, sagte Lilly fest.

»Sehr wohl!« Der Wirt und das Mädchen würden keine guten Freunde werden, soviel stand fest.

Die Zeitreisenden nahmen sich ihr Frühstück und setzten sich, ein Stück weit von allen anderen weg, an einen Tisch und beratschlagten den kommenden Tag.

»Wir müssen einen guten und ehrlichen Sklavenhändler finden«, sagte Nestor.

»Wieso ehrlich? Was kann denn daran ehrlich sein, Sklaven zu verkaufen? Das scheint mir das Unwürdigste zu sein, was ein Mensch überhaupt machen kann.

»Ja, aber auch da gibt es Unterschiede. Das ist wie bei den Autohändlern in unserer Heimatzeit.«

»Aha! Und was schwebt dir vor? Etwas Praktisches oder eher etwas Sportliches ... Nestor von Korfu, du bist widerlich!«

»Das kommt natürlich auf die Angebote an.« Er ging gar nicht weiter auf Lilly ein. »Vielleicht bekommen wir ja sogar Rabatt, wenn wir alle vier bei einem Händler kaufen.«

Lilly schüttelte den Kopf und begann mit ihrem Frühstück. Obwohl sie erst eine Nacht von Seldom House weg war, fehlte ihr das typische Frühstück schon jetzt. Sie vermisste ihre Nudelsuppe und Rául. Den Gedanken, was der Butler wohl jetzt gerade machte, verwarf sie wieder, denn der stand ja neben der Zeitmaschine.

Nestor aß nur wenig, ihm stand der Sinn mehr nach Wasser, das er becherweise zu sich nahm.

»Sag, Lakis, wo finden wir den größten Sklavenhändler der Stadt?«, wollte er vom Wirt wissen.

»Wollt ihr euer Prinzesschen veräußern?«

»Mal sehen ... wenn er mir einen guten Preis macht?«

Lilly sah Nestor entrüstet an.

»Versucht euer Glück bei Metros, der kauft und verkauft alles was zwei Beine hat. Ihr findet ihn direkt neben dem Apollon-Tempel am Hafen. Wenn ihr dort seid, bestellt einen Gruß von mir: Die Matrone für die Küche kann er wieder haben. Die taugt nichts.«

»Wir werden für dich keine Botengänge machen!«, giftete Lilly den Wirt an, denn es störte sie zutiefst, wie er über Menschen sprach.

»An eurer Stelle würde ich jedes Angebot für die Kleine akzeptieren. Wenn man die hier erstmal kennt, fällt ihr Preis ins Bodenlose!«

»Danke für den Hinweis, Lakis. Und wo finde ich den billigsten Sklavenhändler der Stadt?«, sprang Nestor in die sich anbahnende Diskussion zwischen Lilly und dem Wirt.

»Ihr wollt euer Glück doch nicht etwa bei Lefteris versuchen? Der kauft seine Ware auch immer bei Metros. Er nimmt alle seine Ladenhüter. Den Weg könnt ihr euch sparen, Herr.«

»Wo finden wir diesen Lefteris?«, wollte Lilly wissen.

»Gar nicht weit von hier, die zweite Gasse links und dann einmal rechts«, antwortete Lakis kopfschüttelnd und wandte sich dann wieder Nestor zu: »Herr, ich kann euch verstehen!«

»Ich werde mich überraschen lassen. Danke, Lakis«, sagte Nigglepot, stand auf und sagte zu Lilly: »Komm, wir gehen bummeln!«

Der Wirt sah den beiden zu, wie sie die Gaststube verließen und sagte dann zu einem anderen Gast: »Die Kleine erinnert mich an meine Schwägerin oben im Dorf am Ätna.«

Währenddessen baute sich das Mädchen auf der Straße vor Nigglepot auf und stemmte die Fäuste in die Hüften: »Wenn du mich verkaufst, kannst du was erleben, Nestor von Korfu! Dann kannst du was erleben!«

»Beruhig dich! Lakis hat doch recht, für dich bekomme ich sowieso keinen guten Preis.«

Lilly trat Nestor wuchtig gegen sein linkes Schienbein, aber weil Nestor so lachen musste, tat ihm das viel weniger weh, als sie gehofft hatte.

XII

Chief Inspector Fazzoletti

Miranda Simmons hatte, wie jeden Morgen die Aufgabe, wichtige von unwichtigen E-Mails zu trennen und ihrem Vorgesetzten vorzulegen. Eine undankbare Aufgabe, denn der Chief Inspector hatte eine höchst eigene Auffassung davon, was wichtig war und was nicht.

Wenn es um Werbung für Fußballwetten ging, so war die Kategorie wichtig problemlos zu erkennen. Lautete der Inhalt aber eher so: »Meine Kühe sind schon wieder von Außerirdischen entführt worden«, war es zwar der Fachbereich des Chief Inspectors, aber eigentlich unwichtig.

Sie machte Tee, während der Tintenstrahldrucker am Ende doch alle E-Mails zu Papier bringen musste. Chief Inspector Fazzoletti war vermutlich der einzige Beamte in ganz England, der sich mit Computern nur dann beschäftigen konnte, wenn sie ausschließlich seiner Unterhaltung dienten, also Wetten, Spiele und Fotos hübscher Damen.

»Ihr Krawatte hat einen Fleck, Chief«, sagte sie, als Fazzoletti das Büro betrat. »Genau wie gestern.«

»Aber im Gegensatz zu Ihnen, stehen mir auch ungewöhnliche Muster«, war die ranzige Antwort ihres Vorgesetzten. Er fuhr fort: »Irgendetwas Wichtiges heute Morgen?«

»Der Drucker ist noch nicht fertig!«

»Herrgott nochmal, wann werden diese Dinger endlich mal schneller«, freute er sich. Waren die Computer langsam, konnte er sich aufspielen.

»Ich bringe ihnen die E-Mails, wenn der Tee fertig ist.«

»In Ordnung, Miranda!«, er ging in sein Büro, hängte seinen Schal an den oberen und seinen Mantel an den unteren Haken neben der Glastür, die er lustlos zuschnappen ließ.

Dann drehte er die Tür-Jalousie ein Stück zu und ging zum Fenster. Mit den Händen hinter dem Rücken dachte er: »London! Die größte Stadt des Landes ... nirgendwo leben mehr Menschen in Europa auf einem Haufen als hier. Und alle sind Idioten!«

Er fläzte sich in seinen Sessel und wackelte an seiner Maus, aber der Computer regte sich nicht.

»Miranda!«, brüllte er durch die geschlossene Tür ins Vorzimmer. »Das Drecksding tut’s schon wieder nicht!«

Miss Simmons drückte eine Taste auf der Sprechanlage und die Antwort summte aus dem Lautsprecher auf Fazzolettis Schreibtisch: »Sie müssen den PC an dem großen runden Knopf auf dem Gehäuse einschalten ... wie immer. Sie vergessen ihn abends auszumachen, was ich dann für sie mache, und morgens vergessen sie ihn anzumachen.«

»Ist der Tee endlich fertig?«, antwortete Fazzoletti, diesmal ebenfalls in die Sprechanlage, jedoch drückte er die Taste für allgemeine Durchsagen.

»In einer Minute, Chief!«

Chief Inspector Fazzoletti liebte es, wenn seine Untergebene Chief zu ihm sagte. Es war der glasklare Beweis, dass er es zu etwas gebracht hatte: Karriere bei der London Metropolitan Police. Sein Onkel wäre stolz auf ihn gewesen, denn die Fazzolettis waren eine Familie, die seit Jahrhunderten ihre Besten in den Staatsdienst schickte, und so die Fackel der Gerechtigkeit von Generation zu Generation weiter gaben.

»Mit einem Fazzoletti bei der Polizei wird dieses Land immer die einzige Großmacht des Planeten bleiben«, hatte Onkel Fuzzy ihm in ein Sherlock-Holmes-Taschenbuch zu seinem achten Geburtstag gewidmet.

»Schöner Blödsinn, Onkel Fuzzy!«, sagte Fazzoletti zu sich selbst und betrachtete das Foto seines Verwandten, das rechts neben der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch stand. Seine Kollegen hatten Fotos von Frau und Kindern, Hunde oder anderen rührseligen Quatsch eingerahmt um sich aufgebaut. Ein Chief Inspector wie er hatte nur seine Karriere im Blick, und das bedeutete möglichst wenig Aufwand bei bestmöglicher Bezahlung. Und seine Spezialeinheit war ein sicherer Hafen für alle, die ihn auf diesem Weg begleiten wollten.

Miranda öffnete unbeholfen mit dem Ellenbogen die Bürotür, in der einen Hand ein kleines Tablett mit Tee, Zucker und Sahne, in der anderen Hand alle ausgedruckten E-Mails, die ihrer gestapelten Ordnung bald zu entweichen schienen. Sie schloss die Tür mit dem linken Fuß und beeilte sich den Schreibtisch ihres Chefs zu erreichen, bevor es ein Malheur gab. In letzter Sekunde schaffte sie es, das Tablett sicher abzustellen. Der Stapel E-Mail-Ausdrucke verlor jedoch seinen Halt und fächerte sich fallend über Tisch und Boden aus, wobei er Onkel Fuzzy mit in die Tiefe riss. Der billige Glasrahmen aus dem Baumarkt wehrte sich kaum und zersprang in unzählige, kleine Splitter.

»Oh ... das tut mir jetzt wirklich Leid, Chief!«

»Das will ich ja wohl hoffen!«

»Aber, wenn sie mir geholfen hätten, wäre das bestimmt nicht passiert«, versuchte Miranda sich zu rechtfertigen.

»Geben sie mir jetzt die Schuld für dieses Desaster?«

Konnte es etwas Schöneres für Chief Inspector Fazzoletti geben? Wer am frühen Morgen aus heiterem Himmel auf anderen Menschen herumhacken durfte und auch noch dafür bezahlt wurde, hatte seiner Meinung nach das ganz große Los gezogen.

Er ging um den Tisch herum, aber nicht um Miranda zu helfen, sondern hob vorsichtig das von Scherben bedeckte Foto seines Onkels auf und schüttelte den Glasbruch darauf achtlos auf den Teppichboden.

»Dieser Mann, Miranda, hat sein ganzes Leben lang dafür gesorgt, dass unbescholtenen Bürgern – wie ihnen – Tag für Tag zu ihrem Recht verholfen wurde. Und sie zerstören mit ihrer trampeligen Art dieses Andenken an viele Jahrzehnte britischer Polizeigeschichte?«

Der Frau wurde übel. Ihr wurde immer übel, wenn der Chief Geschichten seiner sagenumwobenen Polizistenfamilie zum Besten gab. Erstens, weil sie vermutlich alle kannte, und zweitens, weil sie immer gleich endeten. Sie wäre ein dummes Ding und er das leuchtende Beispiel für Tapferkeit, Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Spürsinn und Ermittlungserfolg.

»Mein Onkel begann seinen Dienst in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in unserer Kolonie Hongkong, um viele Jahre lang erfolgreich die britische Kultur in Ostasien aufrecht zu erhalten. Nach dem 2. Weltkrieg wurde er hier im Mutterland gebraucht und hat entscheidend mitgeholfen England zu dem zu machen, was es heute ist. Ich folgte seinem Beispiel 1979, habe ebenfalls den Ruf der Gerechtigkeit nicht überhört und das tu ich noch heute!« Fazzoletti holte Luft. »Und sie, frage ich, was machen Sie?«

»Ich hol’ mal einen Staubsauger. Oder soll ich erst der Spurensicherung Bescheid geben?«

»Holen sie schon das verdammte Ding, zum Henker!«

Er nahm wieder Platz und sah sich Onkel Fuzzy genauer an. Die meisten Fazzolettis hatten seit vielen Generationen den Spitznamen Fuzzy getragen. Der Chief Inspector war da keine Ausnahme. Schon am ersten Tag an der Polizeischule wussten alle, dass er einfach nur Fuzzy war.

Die Nachforschungen irgendeines Fazzolettis hatten ergeben, dass seine Familie erst vor ungefähr 400 Jahren nach England gekommen war. Die Wurzeln seiner Ahnen lagen irgendwo in Italien. Dort war der Winter mild und die Mafia allgegenwärtig. Hier war es genau umgekehrt. Aber mit der Mafia hatte er sowieso nichts am Hut – zu viel Arbeit für seinen Geschmack. Er hatte das unverschämte Glück, dasselbe Ressort übernehmen zu können wie sein Onkel: das Kommissariat für übernatürliche Phänomene.

Und er hatte es genau wie sein Vorfahr mit Taugenichtsen zu tun, die anderen nur die Zeit stahlen und auch sonst nur Brei im Kopf hatten. Aber Fazzoletti war die Instanz, die diesen Menschen zeigte, wie die Realität wirklich war: hart und unbarmherzig.

Miranda kam herein und saugte die kleinen Scherben auf, die sich geweigert hatten, aufgehoben zu werden. Das Geräusch schien Fazzoletti empfindlich zu stören. Als sie fertig war, fragte sie ihren Chef: »Sagen sie mal, hatte ihr Onkel eigentlich keine Kinder an die er die Tradition hätte weitergeben können?«

»Für einsame Wölfe ist das Rudel nur Ballast, der durchgefüttert werden muss!« Dann musste Fazzoletti dreimal schrecklich niesen und rotze sich die Nase in ein gebrauchtes Taschentuch, das er zusammengeknüllt in seiner Hosentasche fand.

Miranda nickte. Welche Frau hätte es auch mit solchen Männern ausgehalten.

»Und sie brauchen sich bei mir da auch keine Hoffnungen zu machen, Miranda!«

Sie antwortete nicht, weil ihr eine wirklich passende Antwort darauf sowieso erst morgen eingefallen wäre. Und Männer auf dem Weg durch ihr persönliches Universum soll man nicht vom Kurs abbringen.

»Chief, sie müssen endlich auf die E-Mails von diesem Grafula antworten. Seit Montag werde ich mit Nachrichten von ihm bombardiert und er droht schon, sich an ihren Vorgesetzten zu wenden.«

»Ups! Und da ist ihnen keine gescheite Ausrede eingefallen? Miranda, wofür machen sie eigentlich die ganzen Kreuzworträtsel?«, sagte Fazzoletti.

»Sudoku. Ich mache Zahlenrätsel und mir ist egal wem ich morgens den Tee mache, Chief Inspector!«

»Was schreibt denn dieser nervige Grafula?«

»Sie haben ihre E-Mails also mal wieder nicht gelesen?«, fragte Miranda zurück.

»Nur kurz überflogen«, log ihr Vorgesetzter.

»Er schreibt, dass sich vermutlich eine Art Zeitreisender hier in England aufhält, der wiederholt Schätze von unwiederbringlichem Wert an sich gebracht haben soll.«

»Wie kommt er denn da drauf?«

»Er hat, laut seiner E-Mails, wohl ein asiatisches Mädchen in London gesehen.«

»Das ist ja sensationell, Miranda!« Der Chief Inspector verdrehte die Augen. »Jedes Jahr besuchen 27 Millionen Touristen die Stadt. Die meisten sind Amerikaner, Japaner und Chinesen. Und von den Amerikaner sehen auch nochmal zwanzig Prozent aus wie Asiaten. Der Kerl kann mir gestohlen bleiben! Sagen sie ihm das! Und jetzt besorgen sie mir bitte einen neuen Bilderrahmen. Haben wir uns verstanden?«

»Wie sie meinen, Chief«, sagte Miranda und zockelte mit dem Staubsauger aus Fazzolettis Büro.

Im Vorzimmer begrüßte sie Superintendent Philander mit warmen Worten: »Guten Morgen, meine Liebe! Alles in bester Ordnung bei ihnen? Bestimmt. Sagen sie, machen sie immer noch diesen wunderbaren Tee? Ich vermisse ihn jeden Morgen.«

»Aber Sir, das sagen sie doch bestimmt zu allen ihren ehemaligen Sekretärinnen, oder?« Miranda lächelte ihn an.

»Aber Amanda, wo denken sie hin ...«, antwortete der Vorgesetzte von Fazzoletti und fuhr fort: »Sagen sie, was macht Fuzzy? Arbeitet er heute oder ist er nur da? Ich würde mich gerne kurz mit ihm unterhalten, zusammen mit unserem erstaunlichen Gast hier!«

Miss Miranda hatte den anderen Herrn noch gar nicht wahrgenommen, aber scheinbar stand dieser Mann schon genauso lang in ihrem Büro wie Philander. Er war klein, schlank und blass, geradezu leichenblass.

»Verzeihung, Sir! Guten Morgen, Sir!«, wandte sie sich an Grafula und dann wieder zu dem Superintendent: »Oh, der Chief Inspector ist in seinem Büro und ich denke, er ist auch zu sprechen.«

»Na, dann kommen sie nur, Grafula! Wir beißen nicht!«, sagte Philander und freute sich über seine witzige Bemerkung.

»Ausgesprochen beruhigend ...«, entgegnete der Halbvampir gelangweilt.

Die beiden betraten ohne anzuklopfen das Büro des Chief Inspectors, der völlig in aktuelle Fußballwettquoten im Internet versunken war.

»Morgen, Fazzoletti!«, dröhnte Philander ohne Vorankündigung. Er hätte dem Chief auch in den Rücken schießen können, der Schock wäre der gleiche gewesen.

»Superintendent ...«, jappste der Untergebene.

»Was recherchieren sie denn da Hübsches?«

»Ähm, äh ... Kornkreise, Sir!«

»Kornkreise?«, hakte sein Chef nach.

»Ja, ähm, diese mysteriösen Dinger, diese runden Dinger ... in Kornfeldern ... Kornkreise, Sir.«

»Und?«

»Was und?« Fazzoletti bekam noch immer schlecht Luft und war noch nicht komplett in den Dem-Erzähl-Ich-Was-IchWill-Modus gewechselt.

»Irgendwelche Fortschritte?«

»Fortschritte? Ähm, ja ... nein. Nein, eigentlich nein. Sie sind nach wie vor rund.« Er hatte seine Fassung wiedererlangt. »Bisher haben wir noch keine eckigen Kornkreise entdeckt, Superintendent!«

»Sehr schön! Aber ich fürchte, diesen Fall müssen sie eine Weile zu den Akten legen.« Philander sah zu Grafula hinüber und tätschelte dessen rechte Schulter: »Dieser Mann hier möchte uns helfen, dem vermutlich gewieftesten Verbrecher aller Zeiten auf die Spur zu kommen.«

Der Halbvampir ging auf den Chief Inspector zu und reichte ihm die Hand. »Grafula ... einfach nur Grafula!«

»Fazzoletti. Chief Inspector Fazzoletti«, stammelte der Chief zurück.

Grafula sah das Bild von Onkel Fuzzy, nahm es ungefragt in die Hand und betrachtete es sorgsam. »Ihr Vater?«

»Nein, Sir ... mein Onkel.«

»Er scheint ihnen ähnlich zu sein, Fazzoletti«, sagte der Halbvampir.

»Vielen Dank! Er war ein fleißiger Polizist, der seine Aufgaben stets gewissenhaft erledigt hat«, antwortete Fazzoletti.

»Davon bin ich überzeugt.«

Der Superintendent nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und ergriff das Wort: »Fazzoletti, unser Freund hier hat sich direkt an mich gewandt, weil sie scheinbar andere Aufgaben für wichtiger hielten, als mit ihm in Kontakt zu treten.«

»Nun ja, diese Kornkreise ...«

»Schon gut, wir machen ja alle nur unsere Arbeit. Ich denke aber, nein besser noch: ich spüre, wir haben hier einen Fall, der keinen weiteren Aufschub duldet.«

»Sicher, Sir, wenn sie meinen ...« Der Chief Inspector hasste es, wenn sein Vorgesetzter irgendetwas spürte.

»Grafula, ich denke sie sollten ihre Ausführungen, die sie mir vorhin mitteilten, für den Chief wiederholen.«

»Gerne.« Grafula ging zum Fenster und schaute hinaus. »Irgendwo in diesem Land befindet sich ein Mann, der es seit Jahrhunderten, ja sogar seit Tausenden von Jahren verstanden hat, die gesamte menschliche Gesellschaft zu betrügen, zu bestehlen und für seinen eigenen Vorteil zu hintergehen.«

»Abgesehen von ihrer Zeitangabe trifft das hier in London ja wohl auf jeden normalen Banker zu«, warf Fazzoletti ein.

»Sie verstehen nicht.« Der Halbvampir sah den Chief Inspector mitleidig an. »Nestor Nigglepot hat sie vermutlich um eine wesentlich glücklichere Vergangenheit betrogen!«

Fazzoletti dachte an die Jahre in diesem Büro. »Das wage ich aber zu bezweifeln.«

»Unfug! Sie können das überhaupt nicht beurteilen! Ich habe seit ebenso vielen Jahren versucht, diesen Mann zu finden und ihn der Justiz zu überstellen!«

»Wie wollen sie denn das bewerkstelligt haben?«

»Ich bin unsterblich!«

»Sie müssen ihn mal ihren Puls fühlen lassen«, warf der Superintendent ein.

»Puls fühlen?«, fragte Fazzoletti.

Grafula reichte dem Chief seinen linken Unterarm und zog mit der rechten Hand die Manschette zurück. Fazzoletti suchte vergeblich den Pulsschlag, stand auf und wühlte in Grafulas Kragen nach den Halsschlagadern. Nichts! Kein Puls.

»Das ist unmöglich!« Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte es der Chief Inspector wirklich mit einem übernatürlichen Phänomen zu tun.

»Sagen wir lieber, ausgesprochen selten«, sagte Grafula und erläuterte seine Geschichte, während Fazzoletti mit offenem Mund da saß und sich wünschte irgendwer hätte seine Vergangenheit beeinflusst und er müsste jetzt nicht in diesem Büro sitzen.

»Sie können sich wirklich in eine Fledermaus verwandeln?«, gruselte es den Chief Inspector.

»Ja, Grafula, das müssen sie machen. Das ist einfach großartig, Fazzoletti. Schauen Sie!«, mischte sich der Superintendent wieder ein.

»Muss ich?« Der Halbvampir klang gequält.

»Aber ja doch! Das ist noch besser als das mit dem Puls. Na, los!« Philander ließ nicht locker.

Grafula holte tief und lang Luft, aber das hatte noch nichts mit der Verwandlung zu tun, sondern sollte nur seiner Unlust Ausdruck geben. Dann verkrümmte er sich, gab sehr merkwürdige Geräusche von sich, zuckte mehrfach und wurde dabei immer kleiner, bis er in seiner Kleidung verschwand. Ein paar Sekunden später krabbelte eine Albino-Fledermaus aus einem der Jackenärmel und machte ein paar verzweifelte Versuche, die eher an rhythmisches Hopsen als an Fliegen erinnerten.

»Und?«, fragte der Superintendent seinen Untergebenen begeistert. »Ist das nicht der Hammer?«

Fazzoletti hätte bestimmt etwas gesagt, aber er war schon seit dem Verschwinden von Grafula in der Kleidung ohnmächtig.

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