Читать книгу: «Der Sommer mit dem Krähenmann», страница 2

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Kapitel 1

Der frühe Abend brach heran und wäre Zeit für mich gewesen, den Weg nach Hause anzutreten. So lehnte ich das Angebot eines zweiten Glases Apfelsaft dankend und höflich ab und fragte, wann am folgenden Tag die beste Zeit sein würde, dass ich meine Arbeit fortsetzte. Der Mann wollte es mir überlassen, denn er sei in jeden Fall den ganzen Tag zu Hause, so konnte ich kommen, wann ich wollte. Er blickte in mein Gesicht, welches ganz sicher von der hinter mich gebrachten Anstrengung Zeichen trug, zumal ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte und sich ein flaues Gefühl in meinem Magen ankündigte. Ich konnte sehen, wie er seine Stirn in Runzeln warf. Mit einem kurzen Satz entschied er, dass ich mit ihm zu Abend essen sollte, denn er würde schnell ein paar belegte Brote zubereiten. Und hiernach würde er mich in seinem Auto nach Hause fahren, damit sich keiner Sorgen um mich machen bräuchte.

Da mein gesamter Bewegungsapparat sich nun bereits anfühlte, als wäre eine Dampfwalze jeweils einmal im Vorwärts-, dann auch gleich noch einmal im Rückwärtsgang über mich gerollt, klang sein Chauffier-Angebot mehr als verlockend und ich zog unmittelbar der gebührenden Höflichkeit die verlockende Bequemlichkeit vor. Vor allem aber war es die Aussicht auf eine Autofahrt, denn ich war bis dahin nur einige wenige Male in den Genuss gekommen, in einem Automobil mitfahren zu können. So nickte ich erleichtert, unterdrückte dabei mein schlechtes Gewissen, dem netten Mann und spendablen Auftraggeber ungebührlich auf den Pelz gerückt zu sein.

„Es ist sicher die Zeit, dass wir uns gegenseitig einmal vorstellen.“ lächelte der große Mann am Abendbrottisch, an den wir uns gesetzt hatten und der inmitten eines großen Esszimmers lag, welches vom Wohnbereich L-förmig abging. „Ich werde mit mir beginnen. Ich heiße Rolfs, Jochen Rolfs. Und ich lebe hier im Haus meiner alten Mutter, die seit langer Zeit schon behindert ist und die oberste Etage nur noch verlassen kann, wenn ich sie herunter trage. Aus diesem Grund müssen wir leider auf ihre Anwesenheit verzichten.“

Er schaute mich erwartungsvoll an, denn jetzt war ich an der Reihe. Doch ich war noch viel zu sehr damit beschäftigt, das eigentümliche Innere des Hauses zu beäugen. Heute weiß ich, dass der Bau in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgt sein musste. Hölzerne und leicht knarrende Dielenböden verrieten die für diese Zeit typische Handwerksarbeit. Auch die Treppe in die obere Etage, die ich bei Hereinkommen im Vorflur erspäht hatte, war aus Holz und verfügte über einen geschwungenen Handlauf, der von vielen kleinen gedrechselten Rundstäben getragen wurde. Die Decken im Wohn- und Essbereich waren zudem mit dunklem Eichenholz getäfelt, das mit kunstvollen Schnitzarbeiten anstelle von Stuck gesäumt war.

Schwere Möbel, ein Vertiko, ein ausladendes Bücherregal, ein mit Intarsien belegter Couchtisch sowie der große, runde Esstisch, um den acht dunkelgrün gepolsterte Stühle standen, gaben dem Bereich eine eher düstere Atmosphäre, die an die vorletzte Jahrhundertwende erinnern ließ. Auf einem kleinen Beistelltisch stand das Telefon, welches mit einem brokatbesetzten Stoffbezug verziert war. Doch das für mich Erstaunlichste waren die vielen Ölbilder, die sich überall an den Wänden verteilten. In unterschiedlichsten Formaten, von klein bis groß, von quadratisch bis länglich, waren Portraits neben Landschaften gehängt, bunte Stillleben platziert, Kornblumen, Rosensträucher und Obstschalen abgebildet und über dem schwarzen Klavier, auf dem sorgsam eine Samtdecke den Tastaturdeckel schützte, hing ein Gemälde, welches für mich eine hohe Anziehungskraft darbot.

Auffallend waren auf diesem die geometrischen Figuren und Linien, die das farbenfrohe Bild ausmachten, fast so, als hätte der Künstler mit Lineal und Geometriedreieck die Leinwand vor dem Farbauftrag in viele Teilstücke geordnet. Was aber auf den ersten Blick wie ein technisches Muster daherkam, erwies sich bei näherem Hinsehen als eine Ansammlung von wilden Pferden, die sich in einer Herde befanden. Sie waren allerdings eher eckig, statt mit natürlichen Rundungen dargestellt. Fast erschien es mir, als wäre das Bild als Vorlage für ein modernes Kirchenfenster oder Glasmosaik gedacht. Es faszinierte mich aber die eigene Art der Darstellung, die technische Charakteristik, die der Maler in ein letztlich äußerst harmonisches Werk verwandelt hatte.

Ich werde wohl mit großen Augen und vielleicht auch mit leicht geöffnetem Mund dagesessen und gestaunt haben. In jedem Fall aber hatte ich vergessen, dass ich meinem Gastgeber noch eine Antwort schuldig war. Dieser hatte meine Faszination natürlich bemerkt, und diese schien ihm zu gefallen.

„Gefallen Dir die Bilder?“ fragte er mit einem hörbar neugierigen Unterton. Und als ich still nickte, fuhr er fort: „Wenn wir uns vorgestellt haben, und es Dich wirklich interessiert, dann kann ich Dir gerne mehr zu den Gemälden erzählen.“ Er schaute mich lächelnd an.

Ich besann mich nun wieder auf die Höflichkeit: „Ich heiße Franz.“ Es war mir wie immer etwas peinlich, meinen Vornamen zu nennen, denn ich empfand diesen ebenso attraktiv, wie ein Glas Lebertran.

Jochen Rolfs lächelte sehr milde. „Schön, Franz! Das war ein Anfang. Aber sicher haben Deine Eltern Dir auch einen Nachnamen verliehen …“

Ich werde in diesem Augenblick rot angelaufen sein und ich ärgerte mich sofort, es unbeabsichtigt allein bei meinem blöden Vornamen belassen zu haben. „Urban.“ gab ich bekannt. „Ich heiße Franz Urban.“

„Soooo!“ dröhnte es aus dem großen Mann hervor. „Franz Urban! Was für ein wunderbarer Name, mein Junge. Da kannst Du aber mächtig stolz sein. Denn Könige hießen Franz. Und Urban war immerhin noch der Name eines Papstes. Kennst Du denn die Bedeutung Deines Nachnamens?“

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Und so schüttelte ich noch einmal beschämter den Kopf.

„Nun, lieber Franz,“ holte Jochen Rolfs aus, „Urban leitet sich aus dem Lateinischen ab. Urbanus von urbs. Und das bedeutet `Städter´, also der, der in der Stadt wohnt. Damals war natürlich Rom als Stadt gemeint. Allerdings gibt es auch noch eine zweite Bedeutung. Urbs steht sodann auch für den Höflichen, den Gebildeten. Du siehst, Dein Name bietet bei Weitem mehr, als nur einen schnöden Anhang abzugeben. Er sollte Dich zudem prägen und Dir sagen, was das Leben von Dir erwartet.“

„Wofür steht dann Rolfs?“ fragte ich unvermittelt zurück.

Der Riese am Tisch, der sich auch weiterhin nicht von seiner Kopfbedeckung getrennt hatte, begann herzlich und laut zu lachen. „Das ist eine berechtigte Frage. Gerade deswegen, weil ich mit Deinem Nachnamen in keiner Weise mithalten kann. Eine tiefere Bedeutung, einen Hinweis auf eine edle Herkunft, oder gar auf eine hohe Bildung, kann ich nämlich nicht bieten. Leider! Denn mein Nachname sagt beklagenswerter Weise lediglich aus, dass irgendjemand einmal den Vornamen `Rolf´ getragen haben wird und dessen Nachfahren sich so seiner Abstammung erklärten.“

Mir gefiel es durchaus, was ich über meine Namen gerade erfahren hatte, wenngleich es mir noch nicht einleuchten wollte, was mit diesem Wissen anzufangen war. Dennoch war offensichtlich etwas an diesem, was interessanter als `Müller´ oder `Meier´ war. Und dass Könige und Päpste mit der Namensbürde `Franz´ zurechtgekommen waren, ließ mich hoffen, dass ich es dann auch schaffen konnte.

„Die Bilder scheinen Dir zu gefallen.“ konstatierte mein Gastgeber. „Und das freut mich, denn all diese hat mein verstorbener Bruder gemalt.“ Er stand auf und stellte sich in die Mitte des großen Wohnzimmers. Dann wies er mit ausgestrecktem Arm der Reihe nach auf die Gemälde an den Wänden. „Hier zum Beispiel siehst Du, wie mein Bruder ein Gemälde von Emil Nolde nachgemalt hat. Oder hier, die Sonnenblumen von van Gogh. Und das Bild über dem Klavier – es scheint Dir ja besonders zu gefallen – ist die Kopie eines berühmten Bildes von Lyonel Feininger. Eine Arbeit meines Bruders, die auch mir in besonderem Maße am Herzen liegt.“

Der große Mann stand da, seine hellblauen Augen leuchteten wie Sterne am Firmament, und er beschrieb in wohlgeformten Sätzen die Bilder seines Bruders, die Kunststile, die dieser verwendete und die Geschichten der Künstler, die die Originale gemalt hatten. Es war eine kurze Stippvisite in die Welt der Kunstmalerei und ich verstand auf einmal, wie sehr doch ein Werk über das Leben des Schaffenden hinaus fortbestehen und dessen Geschichte weiterführen lassen konnte.

„Mein Bruder war seit früher Jugend an gelähmt und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im Rollstuhl.“ berichtete mir Jochen Rolfs. „Als Junge sprang er kopfüber von der Ostseebadbrücke ins Wasser. Doch es war nicht tief genug dafür. Er stieß mit dem Kopf auf den Grund und war fortan querschnittsgelähmt, von seinem Nacken abwärts. Malen konnte er nur noch mit dem Pinsel in seinem Mund. Und das tat er über dreißig Jahre lang. All diese Bilder, alle auf die gleiche Weise hergestellt. Und ich habe das ganze Haus mit ihnen geschmückt.“

Ich betrachtete jedes Bild mit einer neuen Ehrfurcht. Mit einem Pinsel im Mund zu malen stellte ich mir besonders beschwerlich vor, ja fast unmöglich. Wie konnte es jemand auf diese Weise zu solchen Kunstwerken bringen? Wie groß musste ein Antrieb sein, um allen körperlichen Defiziten entgegen derlei zu erschaffen? Wie stark war der Wille dieses Menschen gewesen? Und wie lebensfroh musste dieser geblieben sein, denn es fehlte den Bildern jedwede Trübsal und Düsternis.

Von der oberen Etage aus erklang die Stimme einer alten Frau. „Rolf, haben wir Besuch? Ist da jemand bei Dir?“

Er schritt ein paar Meter in Richtung des Vorflures. „Ja Mutter, es ist ein junger Mann hier, der mir heute bei der Gartenarbeit behilflich gewesen ist. Doch wir sind jetzt auch fertig. Ich werde ihn gleich nach Hause fahren, komme dann aber sofort wieder zurück.“

„Ich habe Hunger, Rolf!“ tönte es von oben.

„Das weiß ich, Mutter.“ bekundete mein Gastgeber freundlich. „Ich bringe Dir jetzt ein paar Brote und Deinen Tee.“

Er nickte kurz in meine Richtung, nahm von der noch reichlich bestückten Platte auf dem Tisch ein paar der zubereiteten Brote, legte sie auf einen Teller. Kurz darauf verschwand er und ging in die Küche, aus der nach kurzer Zeit das Pfeifen eines Wasserkessels zu vernehmen war. Ich hörte, wie er mit schweren Schritten die Holztreppe in das obere Stockwerk nahm, konnte ein sonores Murmeln vernehmen, dann stand er bereits wieder im Esszimmer vor mir. Ich sprang von meinem Stuhl und begann die Teller zusammen zu stellen. Jochen Rolfs half mir dabei und als wir alles in die Küche gebracht hatten, öffnete er die Haustüre und wir gingen gemeinsam zu seinem Auto, das auf einer sandigen Einfahrt vor der kleinen Garage stand.

Da stand ein silberblaues Fahrzeug, das ich sofort lustig fand. Denn es sah vorn wie hinten fast gleich aus, und es wäre niemandem aufgefallen, wenn es ausnahmslos rückwärts gefahren wäre. Es war ein Simca 1000, und als Jochen Rolfs sich mit seinen zwei Metern hineinzwängte, kam es mir fast so vor, als würde sich ein Erwachsener in ein Spielzeugmodell setzen. Innen stieß er mit seiner Mütze an die Unterseite des Wagendaches. Und er musste sich ein wenig zusammen beugen, damit er überhaupt nach vorn hinaus schauen konnte. Zwischen Handbremse und Schaltknüppel hatte er einen großen Aschenbecher platziert, der randvoll mit Zigarettenkippen gefüllt war. Unmittelbar nach seinem Einsteigen hatte er ein silbernes Etui hervorgezaubert, aus dem er eine seiner selbst gedrehten Zigaretten herausnahm und diese mit einem alten Benzinfeuerzeug anzündete. Dann kurbelte er die Scheibe herunter und blies den Rauch aus dem Fenster.

Das Gefährt, in dem ich Platz genommen hatte, roch nach kaltem Tabakrauch und vergasenden Benzin. Der Motor rüttelte erheblich und ratternd setzte sich der Wagen in Bewegung. Für mich war es ein besonders spannender Augenblick. Es war nicht allein die Tatsache, dass ich in einem Auto saß und kutschiert werden sollte. Es war etwas viel Eigentümlicheres, denn ich geriet immer mehr in eine Haltung der Erwartung, wie sich diese Begegnung wohl noch weiter entwickeln würde. Ich spürte, dass ich mit diesem großen Mann, der ganz sicher mindestens vierzig Jahre älter als ich war, öfter zusammen kommen sollte. Es hatte sich, ohne dass ich es hätte beschreiben können, ein unsichtbares Band geknüpft. Eine Verbindung war entstanden, deren Ursprung ebenso im Verborgenen ruhte, wie die Faszination, die mich umarmte.

Kapitel 2

Meiner Mutter hatte ich, wie eigentlich immer, nichts von meinen Plänen und neu erworbenen Künsten der Gartenpflege berichtet. Es wäre ihr zwar nicht egal gewesen, doch wusste ich nur zu gut, dass das Maß ihres Interesses eher gering gewesen wäre und sie sich wohl auch deswegen nicht von ihrem gewohnten Rhythmus hätte abbringen lassen. Dieser bestand in erster Linie darin, nahezu ganztägig im Morgenmantel auf dem Sofa zu liegen und zu lesen.

Sie las vornehmlich Bücher, dieses aber im Wechsel mit den Zeitschriften des Lesezirkels, der die Illustrierten im vierzehntägigen Austausch an die Haustüre lieferte. Wenn sie diese Betätigung ermüdet hatte, und auch das war täglich erneut der Fall, füllte sie Berge von Kreuzworträtselheftchen, die sie in einer Geschwindigkeit auszufüllen vermochte, die einem Respekt einverleiben konnte. Damit allerdings hatte sich das Potenzial an bemerkenswerten Befähigungen bei ihr auch schon erschöpft.

Meine Mutter war in diesem Sommer knapp fünfzig Jahre alt. Einst muss sie eine schöne Frau gewesen sein, denn die wenigen Bilder, die sie bei der Flucht aus Ostpreußen retten konnte, zeigten ein lebensfrohes und äußerst hübsches junges Mädchen. Sie war bis in diese Tage schlank und grazil geblieben, und trotz der Tatsache, dass sie die Wohnung nur noch zum sonntäglichen Kirchgang, zur städtischen Bücherei und zum notwendigen Einkauf verlies, legte sie gesteigerten Wert auf ein ordentliches Make-up, welches sie von Jahr zu Jahr immer grotesker überbetonte. Ihre Haare zweigten meist eine voluminöse Lockenpracht, was es erforderlich machte, dass sie sehr häufig mit Wicklern im Haar, die von einem durchsichtigen Perlontuch geschützt wurden, da saß und die Wirkung des Festigers abwartete.

Mein Bruder Andreas, er war vier Jahre älter als ich, wohnte seit Kurzem nicht mehr bei uns. Er hatte sein letztes Schulhalbjahr in einem Internat verbracht und war hiernach an die Polizeischule nach Eutin gegangen. Ich hoffte inständig, dass es dabei bleiben würde, und ich glaubte auch zu wissen, dass es meiner Mutter ebenso tat. Allein fehlte mir der Glaube, dass aus meinem Bruder tatsächlich so etwas wie ein guter Polizeibeamter werden konnte. Denn dazu fehlten ihm so gut wie alle Anlagen. Der Beruf passte alles in allem so gut zu ihm, wie sich ein Igel zum Türdrücker eignete.

Auch an diesem Tage Anfang Mai 1971 lag meine Mutter bereits auf ihrem Sofa und las in einem Buch. Ich hatte schon einige Zeit wach in meinem Bett gelegen und festgestellt, dass mir Muskeln wehtaten, deren Existenz mir bis dahin noch nicht einmal bekannt war. Mein Bett befand sich im Schlafzimmer meiner Mutter, einem der einzigen beiden Zimmer unserer Wohnung. Als mein Bruder noch daheim wohnte, schlief ich direkt neben meiner Mutter im großen Ehebett, welches sie auch nach dem Tode meines Vaters, vor nunmehr über dreizehn Jahren, behalten hatte. Als Andreas dann ins Internat kam, durfte ich in sein Bett wechseln. Wie gesagt, es befand sich im gleichen Raum, allerdings war dieses durch einen alten Wohnzimmerschrank, der wie ein Raumteiler vor dem Bett platziert war, ein klein wenig abgeschirmt. Zwischen meinem Bett und dem großen Kleiderschrank stand vor dem Fenster ein winziger ehemaliger Küchentisch, der meinen Schreibtisch darstellte. Insgesamt umfassten mein Reich somit ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein wenig Fläche im Kleiderschrank. Das Ganze belief sich auf zirka sechs Quadratmeter.

Wie immer, wenn ich wach wurde, prüfte ich zu allererst die Lage. Das Liebste war es für mich, sie noch schlafend zu sehen. Das war gottlob auch fast täglich der Fall, zumindest an den Tagen, an denen ich morgens zur Schule musste.

An diesem Tage war Samstag und damit schulfrei. Mein gestriger Nachmittag hing mir stark in den Knochen, doch ich wollte mich dennoch beeilen, um mich baldmöglichst auf den Weg zu meinem Auftraggeber zu machen. Schließlich hatte ich meine Arbeit noch nicht erledigt. Überdies verspürte ich ein unbändiges Verlangen, mich erneut in Richtung der `Westlichen Höhe´ zu bewegen und das so anheimelnde Haus der Familie Rolfs zu besuchen. War es doch etwas vollkommen anderes, was mich dort erwartete. Und ich war stolz darauf, bereits ganze zehn Mark verdient zu haben, einen Betrag, den ich allenfalls bisher dann zu sehen bekommen hatte, wenn ich für meine Mutter zum Einkaufen geschickt wurde.

Ich griff in meine Hosentasche, um mir meinen Erfolg noch einmal anzusehen. Doch die Tasche war leer. Ich fasste in die andere. Auch dort nichts. Ich bückte mich sodann, in der Vermutung, dass mir der Schein vielleicht beim Ausziehen der Hose herausgefallen war. Aber nein, nirgends war etwas von dem Geld zu sehen. Panik kam in mir auf. Hatte ich vielleicht den Geldschein unachtsam bereits am Vortage verloren? Doch konnte das dann allenfalls im dortigen Haus oder im Auto gewesen sein. Vielleicht aber auch nach dem Aussteigen auf dem Weg in mein Zuhause? Das alles erschien mir aber als sehr unwahrscheinlich, und mir kam ein anderer Verdacht auf.

So ging ich zu meiner Mutter ins Wohnzimmer. „Mama, hast Du etwas gefunden, was mir gehört?“ fragte ich, nichts Gutes ahnend.

Meine Mutter behielt ihre Blicke auf ihrem Buch. „Nein. Was sollte ich denn finden?“

Ich stand vor der Entscheidung, meiner Mutter nun zu berichten, dass ich mir etwas Geld verdient hatte. Doch diese Information konnte unliebsame Fragen nach sich ziehen. „Na, etwas eben, was mir gehört?“ erwiderte ich deshalb ausweichend.

„Mach die Augen zu.“ konterte sie, immer noch in ihr Buch schauend. „Was Du dann siehst, gehört Dir.“

Diese Aussage war zwar nicht eindeutig, doch mein Verdacht, dass es meine Mutter höchstpersönlich war, die meine Taschen durchsucht und den Geldschein an sich genommen hatte, erhärtete sich schmerzlich.

„Wo gehst Du jetzt hin?“ fragte sie, das Thema wechselnd. „Und spreche lauter mit mir, Du weißt doch, dass ich schlecht höre.“ Sie ließ nun ihre Lektüre heruntersinken, drehte ihren Kopf in meine Richtung und fragte, wie sie es im Übrigen immer wieder auf die gleiche Weise tat: „Du hast doch wieder ein schlechtes Gewissen. Ich sehe es Dir an. Deine Augen lügen.“

Wie ich diese Dialoge doch hasste. Alles in mir sträubte sich, ihr zu antworten. Und wie gern, so auch in diesem Moment, hätte ich ihr meine aufsteigende Wut ins Gesicht geschrien. Doch ich kannte das Ergebnis, das ich damit erzeugen würde, leider nur zu gut. „Ich besuche einen neuen Freund, den ich gestern kennen gelernt habe.“ gab ich lediglich zu wissen.

„Ein neuer Freund?“ sie klang spöttisch. „Wo wohnt dieser Jemand denn?“

„Im Westen.“ erwiderte ich, hoffend, dass dieses Gespräch damit ein Ende nahm.

„Ein neuer Freund, der im Westen der Stadt wohnt!“ krähte sie los. „Meinen Sohn zieht es offenbar in bessere Kreise, was? Zu Leuten, die nicht in einer Arbeiterwohnung hausen, wie? Er macht sich nun wohl auf, seine Nase dorthin zu stecken, wo es für unsereins sonst vor dem Zaun endet.“

Es schien wieder so weit zu sein. Ich kannte auch diesen Punkt. Und ich wusste, dass es Zeit für mich war, mich der ansonsten unausweichlichen Auseinandersetzung schnellstens zu entziehen. Ich drehte mich deshalb um und verließ wortlos die Wohnung, nicht mehr darauf hörend, was sie mir noch alles nachschrie. Und je mehr Meter ich hinter mich gebracht hatte, umso fröhlicher und beschwingter nahm ich meine Schritte.

Mein Weg führte mich unsere Straße herab in Richtung der Neustadt. Auf Höhe des Turnerberges bog ich in eine kleine Seitenstraße ein, Meisenstraße, die mich in Richtung Westen führen sollte. Dann ging es die lange und steile Eckener Straße in Richtung Duburg hinauf. Ich passierte auf halber Höhe das rechts von mir am Hang liegende Kinderheim. Es wurde von katholischen Nonnen geführt, und auch an diesem Tage krampfte sich mein Magen wieder zusammen, als ich mich diesem Gebäude näherte. Gottlob war keine dieser Kirchendienerinnen zu sehen, denn die meisten von ihnen kannten mich noch und verwickelten mich gerne in ein Gespräch, wenn sie mich trafen. Obwohl es schon lange her war, kreisten die Erinnerungen an die Erlebnisse, die ich als Vierjähriger dort einige Wochen sammeln durfte, mit unliebsamer Vehemenz in meinem Kopf, und ich war erleichtert, als ich nach der nächsten Kurve wieder aus der Sichtweite des Heimes geraten war.

Mein Weg führte mich sodann weiter in die Flurstraße, die in Richtung des Stadtwaldes führte. Am Ende angekommen bog ich in den Marienhölzungsweg, um gleich wieder nach links in den Hermann-Löns-Weg zu kommen, meiner Zielstraße. Den letzten Teil dieser Strecke hatte ich im Laufschritt genommen und so stand ich, leicht außer Atem, vor dem Haus und dem auf mich wartenden Rasen.

Es war gerade elf Uhr. Auch dieser Tag zeigte sich als ein besonders schöner Maitag und es fiel mir plötzlich auf, wie viele Vögel doch zu hören waren, die in den Bäumen und Büschen der vielen schönen Häuser um mich herum ihre Lieder pfiffen. Die Pforte war geschlossen, doch ich konnte erneut die offen stehende Haustüre sehen. Auch der blaue Simca stand vor der Garage, so nahm ich meinen Mut zusammen, öffnete die eiserne Pforte und ging in Richtung des Hauses. Und da kam auch schon Jochen Rolfs von hinten um die Ecke. Er strahlte mich mit seinem freundlichen Lächeln an und streckte mir seine große rechte Hand zum Gruß entgegen.

„Franz, da bist Du ja schon!“ rief er mir entgegen. „Ich hoffe, dass es Dein Muskelkater zulässt, den zweiten Teil Deiner Auftragsarbeit erledigen zu können.“

Ich nickte ein wenig müde, doch mein Wille war ungebrochen. Selbstverständlich wollte ich meine Zusage einhalten, und natürlich war ich sehr gerne gekommen. Der Zustand meiner Muskeln war für mich völlig unbedeutend, denn es hätte mich noch nicht einmal eine Amputation von diesem Vorhaben abhalten können.

„Nun, Franz. Vor Deiner Arbeitsaufnahme sollten wir aber noch kurz Jakob füttern, was meinst Du?“ lachte Jochen Rolfs anerkennend. Und wir gingen gemeinsam hinter das Haus und er rief auf die bekannte Weise den sicher schon wartenden Vogel. Dieser kam sodann auch nach wenigen Sekunden zu ihm geflogen und pickte den für ihn vorgesehenen Apfel.

Jochen Rolfs bewegte seinen Arm in meine Richtung und deutete mir zu, dass ich es doch einmal versuchen sollte, den Vogel zu übernehmen und selbst einmal zu halten. Und als die junge Krähe mit ihren Füßen auf meiner Hand saß, überkam mich ein enormes Gefühl der Freude. Ein eigentlich doch wilder Vogel, der so zutraulich und frei von Angst auf meiner Hand saß, ein so anschauliches Tier, mit schwarzem Gefieder, das in der Maisonne glänzte wie ein poliertes Schellackklavier, entzückte mein Herz auf eine bisher unbekannte Weise. Ich streichelte sanft das Köpfchen und die Krähe begann sodann an meinem Finger zu schnäbeln, als wollte auch sie mich liebkosen. Sie sah mich mit ihren schwarzen Knopfaugen dabei interessiert an, und ich begann mit ihr zu sprechen, als wäre sie bereits ein guter Freund.

Der große Mann beobachtete uns fröhlich. „Du scheinst ein guter Mensch zu sein, mein kleiner Freund!“ meinte er auf einmal. „Tiere spüren sofort, ob es jemand gut oder böse mit ihnen meint. Und schlechte Menschen strafen sie mit Ignoranz. Vögel kacken ihnen aufs Auto oder den Kopf, was dann ironischer Weise auch noch als Zeichen bevorstehenden Glück missdeutet wird.“

Jakob hatte genug menschliche Nähe getankt und flog zurück zu seinen hohen Bäumen. Und ich schickte mich an, den Handmäher seiner vorgesehenen Aufgabe zuzuführen und meine Arbeit vorerst zu vollenden. Auf dem Weg zu den wartenden Gerätschaften fragte ich meinen Auftraggeber allerdings noch etwas: „Haben Sie vielleicht etwas im Auto gefunden, was ich gestern verloren haben könnte?“

Jochen Rolfs runzelte seine Stirn. „Bisher nicht, aber ich habe auch nicht darauf geachtet. Was vermisst Du denn, mein Junge?“

Ich zuckte nur beiläufig die Schultern, denn ich wollte nicht zugeben, dass ich mein verdientes Geld nicht mehr besaß. Und wenn er den Schein nicht finden sollte, war ohnehin klar, wer ihn an sich genommen hatte. Dann hätte sich die Suche ja erledigt. Jochen Rolfs versprach, sofort im Wagen nachzuschauen, auch im Haus. Ich hatte mich nun aber bereits schon des Mähers angenommen und begonnen, den Rasen auf dem Vordergrundstück zu mähen. Allerdings nahm ich meine Arbeit nicht auf, ohne die bereitgelegten Arbeitshandschuhe anzuziehen, die der große Mann auf die Handgriffe des Mähers gelegt hatte. Sie halfen zwar nicht über meine schmerzenden Hände hinweg, doch verhinderten diese, dass neue Blasen hinzukommen würden.

Jochen Rolfs kam freudestrahlen um die Ecke gelaufen und wedelte mit etwas in der Hand in meine Richtung. „Hier, Franz!“ rief er glücklich. „Ich denke, den hier hast Du vermisst.“ Und er hielt einen Zehnmarkschein vor meine Nase. „Er lag unter dem Esstisch, direkt neben dem Stuhl, auf dem Du gestern Abend gesessen hast.“ Er übergab mir seinen Fund jedoch mit einer ernsten Miene. „Du solltest besser auf Dein Vermögen achten, mein junger Freund. Es wäre doch schade, wenn Dein hart verdienter Lohn auf unachtsame Weise abhandenkäme.“

Mir fiel ein Stein vom Herzen und mit großer Erleichterung streckte nun auch ich meine Hand aus und nahm den Schein an mich. Doch beschlich mich schnell das Gefühl, dass dieser Zehner deutlich neuer zu sein schien, als der von gestern. Denn jener war schon recht faltig und stark gebraucht, während der jetzige erheblich glatter und neuer anmutete. Doch vielleicht sollte ich mich ja auch irren, und die Hauptsache war es schließlich, dass ich mein erstes Geld am Ende dann doch nicht verloren hatte, es auch nicht anderweitig verschwunden war.

Die Arbeit ging mir, trotz meiner körperlichen Einschränkungen, gut von der Hand. Den Mäher verstand ich bereits gut zu bändigen, und meine Muskeln gaben wohl einfach ihren Widerstand mit der Zeit auf. Das Ergebnis war ein fast perfekt geschnittener Vorderrasen, und selbst die Grashaufen wichen mit deutlich angestiegener Leichtigkeit und wurden von mir auf dem am hinteren Grundstücksende befindlichen Komposthaufen verteilt. Die Krähe Jakob hatte mich dabei beobachtet. Sie kam sogar einmal zu mir geflogen, setzte sich auf einen nahen Ast und krähte neugierig in meine Richtung. Es schien, als hatte ich einen weiteren Freund gefunden und ich nahm mir vor, nicht eher aufzugeben, bis auch sie auf meinen Ruf zu mir kommen, sich vielleicht auf meine Schulter setzen und mit mir auf dem großen Rasen vor den hohen Bäumen einen kleinen Spaziergang machen würde.

Ich stellte alle Geräte wieder ordentlich an die Hauswand neben der schmalen Treppe, die hinter in den Keller führte. Jochen Rolfs hielt mir ein großes Glas Apfelsaft entgegen, und wir setzten uns wie am Vortag wieder auf die Holzbank und tranken gemeinsam unseren Saft.

„Du hast Dich heute noch besser geschlagen, als Du es schon gestern getan hast.“ lobte mich mein Auftraggeber und zündete sich eine seiner selbstgedrehten Zigaretten an.

Mich überkam sofort eine erste Traurigkeit. Denn meine zugewiesenen Arbeiten hatte ich ja nun erledigt und war somit bereits schon wieder am Ende meiner Beauftragung angekommen.

„Weißt Du, einen so fleißigen Burschen, wie Dich, werde ich nicht so einfach den Nachbarn hier überlassen.“ sagte er nachdenklich, aber bestimmt. „Du würdest sicher gleich links und rechts von mir bei den Anwohnern klingeln und Dich darauf berufen, welch vorzügliche Dienste Du hier erbracht hast. Man würde über die Zäune gucken, staunen und Dir sofort das Mähen der Rasen übertragen. Und den Tag darauf würdest Du dann bei deren Nachbarn arbeiten. Und so weiter, und so weiter.“ Er trank einen Schluck und zog an seiner Zigaretten. „Ich müsste schön blöd sein, wenn ich Dir nicht sofort eine andere Tätigkeit zuteile, damit Du erst gar nicht die Gelegenheit hast, Dich bei meinen Nachbarn anzudienen.“

Das war Musik in meinen Ohren. Oh, wie sprach dieser große Mann doch aus, was sich gerade als dunkelgraue Wolke über meinem Herzen einzutrüben anschickte. Natürlich war es mir mehr als Recht, nun auch den nächsten Abschnitt übertragen zu bekommen. Ja sofort wollte ich loslegen und jeden Tag, wenn er es wünschen sollte, wollte ich mich direkt nach der Schule auf den Weg hierher machen, und meine Aufgaben abarbeiten.

„Es gibt viel zu tun, wenn man ein so großes Grundstück sein Eigen nennt.“ erklärte er mir. „Schau selbst! Überall, wo Du hinblickst, schreit es förmlich nach Ordnung und Pflege. Und wenn Du die Fenster betrachtest, die Rahmen Dir genauer ansiehst, dann wirst Du feststellen, dass es an Farbe fehlt, die noch in diesem Sommer dringend aufgetragen werden muss, da ansonsten der nächste Winter zu größeren Schäden an diesen führen wird. Da ist es mir sehr hilfreich, wenn ich einen fleißigen Helfer an meiner Seite weiß, mit dem ich all diese Aufgaben erledigen kann.“

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9783748590439
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