Читать книгу: «Küss mich, Libussa», страница 4

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11

Immer wieder strich ich mit dem Daumen über die Handytastatur. Jetzt waren es für einen Abend endgültig zu viele Frauen, an die ich denken musste. Wenn ich nicht bereits betrunken gewesen wäre, hätte ich Miloš wahrscheinlich zurückgerufen. Aber zu meiner Betrunkenheit kam noch, dass mein Herz, an Libuše erinnert, raste, meine Hände zittrig waren, und vor allem, dass ich mich für alles schämte. Ich schämte mich dafür, dass ich hier in dieser Bar war, dass ich mir Hoffnungen auf die Tänzerin gemacht hatte, dass ich wegen meiner umbenannten Mitbewohnerin auf Tereza eifersüchtig war.

Die Barkeeperin lehnte am Flaschenregal und kaute voller Tatendrang an ihrem Kaugummi. Hinter ihr war ein alter Kalender mit nackten Frauen aufgeschlagen, wie man sie normalerweise in Autowerkstätten oder in Büros der Stadtverwaltung findet. Das Model für den Monat September hatte den einen Zeigefinder im Mund, den anderen in der Muschi versenkt. Ihre riesigen Brüste öffneten die Jeansjacke.

Alles egal. Hauptsache, die Schneekönigin hatte nach mir gefragt. Irgendwann war mein Bild in ihren Gedanken gewesen. Sie hatte mindestens einmal an mich gedacht. Das war viel für mich. Es genügte mir vorläufig. Es war mir nun völlig gleichgültig, was für eine Figur ich in Li bušes Erinnerung oder Vorstellung machte, ob ich mir die Schuhbänder band und dabei stotterte, ob ich hübsch oder intelligent erschien oder was auch immer. Was zählte war, dass ich für sie existierte. Ich fühlte mich sehr lebendig und fast schon unbesiegbar.

Das asiatische Mädchen weit hinten am Mischpult hielt sich die Kopfhörer an die Ohren und tanzte einsam zu ihrer eigenen Musik.

»Darf es noch was sein?«, fragte mich die Alte.

»Schnaps«, seufzte ich.

Es wurde Sliwowitz. Ich leerte das Glas und es fiel mir auf den Boden. Ich bildete mir ein, es absichtlich hingeworfen zu haben, um hart zu wirken. Ich öffnete den Mund, um zu sagen, dass ich zahlen wollte. Aber ich brachte keinen Laut heraus, also legte ich 250 Kronen auf den Tisch, warf mir meinen Mantel um und stellte mich zwischen Daphne und Tereza. »Komm jetzt, Daphne«, sagte ich laut. »Du kommst jetzt mit mir mit.«

Tereza legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter, um mich beiseite zu schieben. Ich blieb stehen. Daphnes Augen waren feucht, sie waren ganz sanft und lieb geworden.

»Komm, Daphne«, wiederholte ich und küsste ihre weiche Wange.

Sie roch wie gewohnt nach Daphne, obwohl sie sich verkleidet und in Laser umbenannt hatte.

»Du gehörst mir, das weißt du«, flüsterte ich ihr ins Ohr.

Einen Moment lang glaubte ich, den Ring doch noch als Siegerin zu verlassen. Aber da packte mich Tereza am Kragen und stieß mich fort. Diese Tereza hätte sich sicher nicht mit Haare raufen und Kratzen begnügt, ich sah ihr an, wie bereit sie war, ihre Faust in meinem Gesicht zu versenken. Ich überlegte, was auf Daphne besser wirken würde, ob ich mich lieber schlagen lassen oder lieber weggehen sollte, oder ob ich all meine Konzentration darauf richten sollte, meinerseits Tereza zu verprügeln, was schwer werden würde, da sie ungefähr doppelt so viel wog wie ich.

Milošs Nachricht hatte mich nahezu unantastbar gemacht. Ich wandte mich breitbeinig dem Koloss Tereza zu. Sie drückte mit ihren rot lackierten Fingernägeln meine Brust, ich griff ihr nach dem Hals. Sie drückte fester zu, ich ließ wieder los.

»Lass sie gehen,« sagte Daphne zu ihrer neuen Freundin.

Ein schlankes Mädchen mit einer markanten Hornbrille eilte mir zu Hilfe. »Ich nehm sie mit«, sagte sie und führte mich die Stufen hinauf zum Ausgang. Da ich einigermaßen besoffen war, ließ ich es einfach geschehen, ohne mich noch einmal Daphne oder ihrer fetten Schnecke zuzuwenden, der ich gerade noch einmal entronnen war.

12

Draußen schneite es jetzt nicht mehr, es fror. Die frische Luft nüchterte mich ein wenig aus.

»Welche Straßenbahn brauchst du, Kleines?«, fragte die junge Frau und setzte sich eine rosa Mütze auf ihr dunkelblondes Haar. Ihre Lippen blieben dabei leicht geöffnet.

»Du bist die Tänzerin«, stellte ich verwundert fest.

»Ja, wie hast du denn das erkannt?«, fragte sie zurück.

»Ich würde am liebsten mit dem Taxi nach Hause fahren«, sagte ich. »Mein Studentenheim ist in Jižní město, dort kommt man so schlecht hin, in der Nacht. Wo fährst du hin?«

»In die andere Richtung«, sagte sie.

Wir schwiegen beide und standen in der Kälte herum. Meine Wut auf Daphne und Tereza hatte sich gelegt. Immerhin stand mir eine wahre Aphrodite gegenüber.

»Das Mädchen da unten war deine Ex-Freundin?«, fragte sie.

»Nein! Das war nur meine Mitbewohnerin«, rief ich.

»Na, dann brauchst du ja nicht so böse zu sein.«

»Ich bin gar nicht böse, ich mache mir nur Sorgen. Mit dieser Tereza stimmt doch irgendwas nicht.«

»Naja, angeblich dealt sie mit Drogen, wenn du das meinst.«

Das hatte ich nicht gemeint. Aber irgendwie wunderte es mich auch nicht besonders. »Sag, wollen wir nicht irgendwo noch eine Limonade trinken?«, fragte ich möglichst unschuldig.

»Gern«, sagte die Tänzerin. »Ich heiße Anna, du kannst mich Andulka nennen.«

»Mit Vergnügen, Andulka, freut mich, ich bin Marie.«

Sie führte mich in ein Lokal, das schon vollkommen leer war. Andulka war dort mit dem Kellner per du. Wir setzten uns auf ein riesiges Sofa zu einem kleinen Tischchen, und Andulka bestellte für sich ein Bier und für mich eine Himbeerlimonade.

»Ich bin eigentlich gar nicht lesbisch«, sagte ich.

»Und ich bin eigentlich keine Nackttänzerin.«

»Tanzt du nur dort? Oder auch woanders?«

»Würdest du mich gern öfters angaffen kommen?«

»Ich wollte nur wissen, wie deine Arbeit so ist«, sagte ich so unschuldig wie möglich. Natürlich machte mich Andulkas berufliche Tätigkeit scharf und natürlich musste ich mehr darüber erfahren.

»Früher habe ich in einem Casino für Männer getanzt, aber es ist mir unangenehm geworden. Außerdem hat mein Freund gedroht, mit mir Schluss zu machen, wenn ich mir nicht eine andere Arbeit suche. Also habe ich aufgehört. Dann habe ich ihn verlassen, um ihm zuvorzukommen. Fünf Jahre waren wir zusammen. Weil ich ihn dann eben nicht mehr hatte, habe ich mit dem Tanzen gleich wieder begonnen, nur jetzt für Frauen, weil ich dachte, dass die weniger aufdringlich sein würden.«

»Sind sie weniger aufdringlich?«, fragte ich.

»Nein, aber ich fürchte mich weniger vor ihnen«, sagte sie.

Ich erzählte ein bisschen über mich, dass ich Tschechisch studierte, aus Wien war und noch nie einen fixen Freund gehabt hatte. Ich wollte mehr über sie erfahren und hoffte, sie ins Reden zu bringen, wenn ich selbst etwas preisgab.

»Ich bin eigentlich Lackiererin«, sagte sie, »ich habe in den Škoda-Werken in Pilsen Eisenbahnwaggons lackiert. Wenn ich einmal ein bisschen Farbe abbekam, machte sich mein Freund gleich Sorgen und fragte, ob die Arbeit nicht zu gefährlich für mich sei. Das brachte mich immer zum Lachen und ich musste ihm erklären, dass sich die meisten Frauen die Fingernägel freiwillig lackieren.«

»Er hatte dich wohl sehr gern«, sagte ich.

Sie nickte und schwieg.

Ich küsste sie schnell und ohne Vorwarnung. Sie sah erstaunt aus. Ihre heißen Lippen waren wieder leicht geöffnet.

»Du kannst mit mir machen, was du willst«, sagte ich und ließ mich ins Sofa fallen.

Andulka sah sich um. Das Lokal war immer noch so leer wie zuvor. Dann legte sie mir die Hand zwischen die Beine und rieb mich damit, bis ich losstöhnte. Ich knöpfte meine Hose auf. Sie fuhr mir unter das Höschen und lächelte, als sie meine dichten Schamhaare spürte.

Knapp bevor ich gekommen wäre, hörte das böse Mädchen auf und setzte sich im Reitersitz auf mein Becken. Sie rieb sich an meinem Beckenknochen, während ich aus den Augenwinkeln den Kellner wahrnahm, der uns beobachtete, sich dann aber abwandte. Andulka gab ein quietschendes Geräusch von sich. Dann stand sie auf, gab mir von der Seite einen lässigen Klaps auf den Hintern und fragte, ob ich noch etwas trinken wollte. Ich schüttelte den Kopf. Sie holte sich einen Schnaps. Das gab mir Zeit, meine Hose zu schließen und aus spontaner Freude über meine zweite sexuelle Erfahrung mit einem Mädchen in mich hineinzugrinsen.

Na, geht doch, Marie, dachte ich. Vor einer halben Stunde wollte mir noch ein weiblicher Hulk den Kiefer brechen, und stattdessen hatte sich gerade eine Nackttänzerin auf mir zum Orgasmus geritten. Wer konnte das wohl sonst noch von sich behaupten?

Überhaupt staunte ich nicht schlecht über mich und meine neue sexuelle Freizügigkeit. Ich war dabei, mich in kürzester Zeit vom unsicheren Mauerblümchen zum Vamp zu entwickeln. Ich dankte der Schneekönigin innerlich dafür, dass sie mir diese Wandlung ermöglicht hatte. Ihr Erscheinen hatte mir die Augen dafür geöffnet, dass ich Frauen liebte. Wer konnte schon wissen, ob ich ohne Libuše nicht mein Leben lang auf den richtigen Mann gewartet hätte und sexuell frustriert gestorben wäre? Ich nahm mir vor, es der Schneekönigin eines Tages so intensiv wie möglich zu danken.

Während ich noch sinnierte, klingelte in Andulkas Handtasche ihr Handy. Als sie zurückkam, klingelte es noch einmal, also musste ich nichts sagen. Sie kramte es hervor und hob ab. »So spät rufst du mich noch an?«, hörte ich sie sagen. »Natürlich können wir uns morgen treffen. Nein, du störst mich überhaupt nicht. Ja, ich habe dich auch vermisst. Also bis morgen.«

»War das dein Freund?«, fragte ich.

Sie nickte und strahlte über das ganze Gesicht. Vielleicht hatte der Kellner Andulkas Ex-Freund angerufen, nachdem er uns beobachtet hatte, dachte ich. Vielleicht war ihr Ex-Freund eifersüchtig geworden, hatte beschlossen, sie sich zurückholen zu müssen, und unsere kleine Episode war der Grund, aus dem Andulka wieder zu ihrem Glück fand?

Vielleicht war ich auch einfach nur ein bisschen high, weil ich plötzlich so verdammt gut mit Frauen umgehen konnte.

13

Als ich frühmorgens nach Hause kam, war Daphne schon im Bett. Ich weckte sie mit meinem Geraschel unabsichtlich auf.

»Hallo, Marie«, sagte sie verschlafen.

»Schlaf weiter, Daphne, pschsch«, flüsterte ich und machte dazu ein beruhigendes Geräusch. Aber sie ließ sich von mir nicht beruhigen. »Komm zu mir ins Bett. Bitte«, sagte sie.

»Im Ernst?«

»Ja, im Ernst, ich habe dich so vermisst, und es tut mir so leid«, sagte sie.

»Heute habe ich keine Lust, vielleicht morgen.«

Ich zog mir das Nachthemd an und kletterte unter meine eigene Decke. Daphne stand auf und wollte in mein Bett übersiedeln. Ich musste meine Überlegenheit ausspielen, also drückte ich sie von mir weg. »Ich ficke dich, wann ich will, du kleine Schlampe«, zischte ich.

Sie weinte. Ich war rundum befriedigt und schlief ein wie ein Baby. Ihr Weinen war mein Wiegenlied.

Ich träumte von Fingern, die in Muschis drangen. Ein Finger, zwei Finger, ganze Mädchenhände. So ging es die ganze Zeit. Dazu rezitierte die Königin den »Wassermann« von Karel Jaromír Erben.

Erwacht am frühen, frühen Morgen

Muss ein Mädchen viel besorgen:

»Ich geh zum See, Mütterchen, fort,

Ich wasche meine Tüchlein dort.«

»Ach geh nicht, geh nicht zum Gestade,

Ich hatte einen Traum gerade,

Bleib heute lieber doch zuhaus:

Geh nicht, Tochter, zum See hinaus.

Mit Perlen musst dein Kleid ich säumen,

Das weiß war, wie die Wasser schäumen,

Der Perlen Glanz am Grund des Blaus:

Geh nicht, Tochter, zum See hinaus.«

Dann sah ich, wie der kleine Wassermann am Ufer auf einer Pappel sitzend in die Hände klatschte. Das Klatschen hallte von den Felswänden wider, und ich lag von Muschis und Fingern umgeben auf einem Steg, der unter mir durchbrach. Eine Ewigkeit lang fiel ich ins Wasser, und ich spürte immer noch diese glitschige Feuchtigkeit auf meinem Mittel- und Zeigefinger, und meine andere Hand lag immer noch auf einem gewölbten Bauch. Währenddessen stand die Königin auf einem Hügel in der Ferne und formte mit ihren schmalen Lippen weitere Verse.

Als sie dann auf den Steg sich setzte,

Das erste Tuch mit Wasser netzte,

Da brach der Steg, und sie entglitt,

Ein Wirbel zog sie mit sich mit.

Die Wellen, die dem Nass entquollen,

Sind breit zu Kreisen angeschwollen –

Des grünen Mannes Klatschen klang

Vom Pappelast am Fels entlang.

Schweißgebadet wachte ich auf, weil die Sonne durchs Fenster knallte. Es musste schon Mittag sein. Ich hatte nur einen Gedanken. Ich musste mir einen Pornofilm anschauen, um den Druck von meinem Herzen abzulassen. Zu erotisch und zu bedrohlich war mein Traum gewesen. Ich griff nach meiner Schreibtischplatte, um den Computer zu holen und malte mir bereits aus, auf welcher Seite ich etwas Passendes für diesen Tag finden würde.

Grundsätzlich bevorzugte ich brutale Zeichentrickpornos. Bei denen musste ich zumindest nie das Gefühl haben, dass jemand zu Schaden kam, auch wenn ich trotzdem immer ein schlechtes Gewissen danach hatte und mich schmutzig fühlte, die gezeichnete Brutalität erregend zu finden. Nur in den seltensten Fällen waren diese Filmchen lesbisch, aber das hatte mich nie gestört und tat es seltsamerweise auch jetzt nicht. Manchmal suchte ich mir auch alte Filme aus den Achtziger- oder Neunzigerjahren, die mich mit ihrer Fremdheit betörten. Die altmodischen Frisuren der Frauen und die bunte, schrill wirkende Kleidung zogen mich in eine andere Welt. Das taten die Zeichentrickfilme auf ihre Weise allerdings auch.

Schon sah ich vor meinem inneren Auge, wie sich eine Gruppe von Wasserungeheuern an einer blonden Jungfrau verging, der Computer war schon eingeschaltet, aber da merkte ich, dass Daphne ihrerseits mit sich selbst beschäftigt war. Sie lag auf dem Bauch und zwickte mit ihren Oberschenkeln an ihrer Hand herum.

Ich kletterte zu ihr ins Bett, drehte sie auf den Rücken und gab ihr zur Begrüßung eine schallende Ohrfeige. Sie sah mich perplex an, als wollte sie mich anschreien. Ich kam ihr zuvor, indem ich unter ihre Decke kroch und sie so lange leckte, bis sie kam. Dann küsste ich sie auf den Mund, nahm ihre Hand und klemmte sie mir zwischen die Schenkel, überkreuzte die Beine und presste an ihrer Hand herum, bis ich selbst zum Höhepunkt gelangte. Dabei machte ich ihr zum Spaß einen dunkelvioletten Knutschfleck.

»Danke«, flüsterte Daphne.

»Gern geschehen«, sagte ich, als ich fertig war, »und viel Spaß mit deiner Biologievorlesung.«

»Biochemie«, sagte Daphne, »ich werde Substanzen entdecken, die auf der Stelle einen Orgasmus auslösen.«

»Was auch immer«, antwortete ich. »Ich muss los, neue Abenteuer warten auf mich.«

14

Ich war etwas zu spät dran, um Miloš in Vinohrady zu treffen. Am Telefon hatte er mir nicht verraten wollen, was die Schneekönigin eigentlich von mir wollte.

Aus dem Fenster der roten U-Bahn-Linie C sah ich zu, wie sich die Gestaltung der Stationen zum Zentrum hin änderte. Zuerst durchfuhr ich die hässlichen neuen Stationen, die von komischen, grellblauen und leuchtend gelben Röhren verziert waren. Später kamen die alten, typischen Stationen der C-Linie, mit braunen Keramikplatten verkleidet. Zu Hause fühlte ich mich erst, als ich in die grüne A-Linie umgestiegen war, die noch von den älteren Zügen befahren wurde und die wie die Linie B als ein großer Atomschutzbunker konzipiert war. Daher die unendlich langen Rolltreppen. Die Wände waren auf der Bahnsteigseite immer mit Marmor und auf der Schienenseite mit bunten, abwechselnd konkaven und konvexen Tellern verkleidet, die glänzten und schimmerten, wenn die Züge einfuhren. Bei jeder Haltestelle lauschte ich der angenehmen weiblichen Stimme, die die Ansagen machte. Am meisten gefiel mir wie immer das vollkommen ruhige und angenehm klingende »Ukončete prosím výstup a nástup, dveře se zavírají.« Das war der Satz, den wahrscheinlich jeder Ausländer, der in Prag U-Bahn fuhr, als erstes lernte. Kein »Zurückbleiben bitte« oder »Zug fährt ab«. Die angenehme Stimme sagte höflich: »Beenden Sie bitte das Ein- und Aussteigen, die Türen schließen sich.« Ich stellte mir zu der Stimme meine Professorin vor und hatte bei jeder Lautsprecheransage eine Hitzewallung und einen Fröstelanfall gleichzeitig.

Miloš wartete am Bahnsteig auf mich. Mein Herz schlug doppelt so schnell wie sonst. »Was hat sie gesagt?«, fragte ich anstatt einer Begrüßung.

Miloš lachte und gab mir einen dicken Kuss auf die Wange. »Es geht um einen Lesekreis«, sagte er. »Sie hat uns beide zu ihrem Lyrik-Lesekreis eingeladen.«

»Uns beide? Oder hat sie mich auch extra erwähnt?«

»Das hat sie, und zwar so: ›Deine hübsche kleine ausländische Freundin, die manchmal zerstreut am Gang herumsteht, hätte die vielleicht Interesse?‹«

»Hübsch? Hat sie das wirklich gesagt?«

»Nein, hat sie nicht. Aber es klingt gut, oder?«

Ich biss mir auf die Unterlippe und spürte, dass mein Gesicht rot anlief. Ich drehte mich zur Seite. »Mach dich nicht über mich lustig, Miloš.«

»Aber nein. Sie hat tatsächlich ziemlich genau das gesagt, ich habe es nur ein wenig ausgeschmückt.«

Ich kicherte. Die Königin wollte mich in ihrer Nähe haben! Ich jubelte in meinem Innern wie ein Eishockeystadion nach einem Ausgleichstreffer, wie eine Straßenbahn, die nicht aufhört zu läuten, weil ihr liebster Fahrgast zugestiegen ist, die läutet, bis alle Möwen der Moldau in ihren Gesang mit einstimmen. »Wann findet der erste Lesekreis statt?«, fragte ich.

»Er hat schon angefangen, du bist spät dran.«

Wir beeilten uns, bogen vom Náměstí míru in eine Seitengasse. Ich hopste neben Miloš her wie ein Küken. Der Schnee schmolz, Wasser rann in Strömen von den Dächern. Auf jedem dritten Dach standen Arbeiter, die über den abgesperrten Gehsteigpassagen Dachlawinen auslösten. Ich dachte an freudig plätscherndes Gletscherwasser, an verliebte Blauwale, an sich tummelnde weiße Robben auf dahintreibenden Eisschollen, die in der Sonne eines arktischen Sommers glänzen.

»Warum hast du mir das nicht schon am Telefon gesagt, dass die erste Stunde schon heute stattfindet? Ich hätte mich vielleicht vorbereitet.«

»Weil ich geheimnisvoll bin.«

»Sehr witzig. Ist es bei der Königin zu Hause?«, fragte ich weiter.

»Nein, in einem Lokal.«

»Warst du schon einmal bei ihr zu Hause?«

Miloš war etwas eingeschnappt. »Einmal, kurz«, antwortete er. »Aber ich muss dich enttäuschen, ich war nur im Vorzimmer.«

Der Gedanke daran, dass die Schneekönigin wie fast jeder andere Mensch eine Wohnung hatte, war zunächst etwas ernüchternd. Ich hatte mir die Professorin nie wie einen Menschen mit einem echten Leben vorgestellt, sondern immer eher wie ein höheres Wesen, das vor allem göttliche Strahlen verbreitet, das eisig kalt und zugleich unendlich schön ist. Aber nachdem die Ernüchterung über Libušes Menschlichkeit verflogen war, wurde ich nur noch geiler auf sie. Echte Frauen mit einem echten Leben hatten auch echte Körper mit echten Brüsten, echten Muschis – mit echten Fotzen, präzisierte ich in Gedanken. Man konnte sie angreifen, sie zum Stöhnen und Jammern bringen, man konnte ihren Atem fühlen, man konnte gemeinsam mit ihnen feucht werden.

Seitdem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, waren mein Leben, mein Fühlen, mein Atem völlig anders geworden. Ich war gefühlvoller, aber auch brutaler und zielstrebiger geworden. Jetzt zählte nur mehr eins für mich. Ich musste wissen, wer Libuše war, und wie ich sie für mich gewinnen konnte. Als wir das Lokal betraten, musste ich innehalten, um mich zu sammeln. Gleich würde ich meiner Angebeteten so nah sein wie noch nie.

15

Der Lesekreis im Hinterzimmer des Kaffeehauses begann allerdings nicht gerade vielversprechend für mich. Miloš und ich mussten uns an das hinterste Ende des langen Tisches setzen, weil in der Nähe der Königin kein Platz mehr frei war. Noch dazu saß ich an derselben Tischseite wie sie und konnte das Gesicht der Königin daher nur über sechs Köpfe hinweg erspähen. Das auch nur, wenn sie sich gerade vorbeugte.

Von einer liebevollen Sonderbehandlung, die ich mir erhofft hatte, war nichts, rein gar nichts zu spüren, im Gegenteil. Die Königin beachtete mich die ganzen langen zwei Stunden lang überhaupt nicht. Sie sah mich weder an, noch fragte sie mich nach meiner Meinung zu den depressiven Gedichten, die sie durchnahm. Außerdem verstand ich von den Gedichten so gut wie nichts, weil ich ja unvorbereitet war und mein Tschechisch für anspruchsvolle Lyrik bei weitem nicht ausreichte.

Alle tranken Bier, obwohl erst früher Nachmittag war. Nur ich trank Kaffee, um geistesgegenwärtig zu bleiben. Aber statt der Geistesgegenwart stellte sich eine unangenehme Kälte in meinem Herzen ein, obwohl ich als einzige ein warmes, dampfendes Getränk vor mir stehen hatte.

Das einzige, was ich tun konnte, war, dem Tonfall der Königin zu lauschen. Ich hatte den Eindruck, dass sie hin und wieder den Tränen nahe war. Ihre Stimme verschlug sich bei bestimmten Versen, und manchmal griff sie zum Taschentuch und lachte dabei auf, wie um die drückenden Tränen zu überspielen.

Warum tat sie sich das an, fragte ich mich. Warum verbrachte sie ihre Freizeit nicht lieber mit ihrem Mann und ihrer Familie oder mit ihren Freundinnen, anstatt sich wie ein Tier im Zoo vor Unikollegen auszustellen und sich selbst mit schwermütiger und trauriger, wenn auch zweifellos schöner Lyrik zu quälen?

Weine nicht, dachte ich. Weine nicht um mich, dachte ich weiter und musste darüber lächeln, dass ich mich selbst in meinen Gedanken wieder ins Zentrum ihres Interesses schob. Weine nicht um mich, Libuše, große Fürstin Libussa, allwissende Seherin, Tochter des Krok, Enkelin des Čech. Der Name deines mythischen Vaters Krok bedeutet doch »Schritt«. Schreite also voran durch das traurige Leben, es werden bessere Zeiten kommen. Und weine nicht um mich, du hast mich noch nicht gefunden auf deinem Weg, aber wir werden noch zusammenkommen, ich werde alles dafür tun. Wir werden unsere Liebe finden, sie wartet auf uns.

Ich hätte gern mehr von ihren Ausführungen verstanden. Aber ich fühlte höchstens einzelne Worte. Einsamkeit. Alter. Herbst. Garten. Meer.

Ich musste mehr über sie erfahren! Anstatt als hehres Wesen begann ich, sie als Beute zu betrachten. Sicher, sie war eine edlere, größere, schönere Beute, als man sie sich je erträumen konnte. Trotzdem war sie ein Tier und ich ihr Jäger. Ein guter Jäger muss das Tier, das er erlegen will, in- und auswendig kennen. Tränen heilen, dachte ich. Dann weine also lieber weiter, weine mehr, weine dich aus, Libuše. Aber von welchem Leiden wollte sie geheilt werden? Ich musste es herausfinden. Genau das war die Information, die ich benötigte, um meine Pfeile zu spitzen und die Jagd auf das heilige Tier beginnen zu lassen.

Als die Lyrikbesprechung vorbei war und sich die ersten Zuhörer erhoben, um zu den Toiletten oder zur Bar in den Hauptraum des Cafés zu gehen, stand auch die Professorin auf, stellte sich hinter mich und legte mir die Hände auf die Schultern. Ich wollte mich umwenden und aufstehen, aber sie hielt mich fest.

Ich war also die Beute. Nicht sie.

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