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Maja: Der ewige Hunger

Maja schleppte die Tüten die Straße entlang und wünschte sich, sie hätte noch ihr Auto. Oder zumindest Geld für den Bus. Oder wenigstens ihren Stolz. Denn wenn man zur Bielefelder Tafel musste, um sich Lebensmittel zu holen, war davon nicht mehr viel übrig.

Wenigstens hätte Alex ja mitkommen und ihr Tragen helfen können. Aber der war selbst unterwegs, Pfandflaschen aus Mülleimern klauben und dann wahrscheinlich Bier kaufen, wenn das Geld reichte.

Maja und Alex lebten oder existierten vielmehr von Hartz-Vier. Maja hatte ihre Wohnung nach Olivers Auszug in eine betreute Wohngemeinschaft nicht mehr halten können, und war wegen ihrer Depressionen auch nicht mehr in der Lage gewesen, zu funktionieren. Nach längerer Krankheit verlor sie ihren Job und fand keinen neuen mehr.

Eine neue Wohnung hatte sie jedoch gefunden. Bei Alex. Den hatte sie - wie so viele heutzutage -, über das Internet kennengelernt, und war dann ziemlich schnell in eine eher verhängnisvolle Beziehung geschliddert.

Cecilia hatte es wie immer auf den Punkt gebracht: „Du bist dir selbst überhaupt nichts mehr wert, Maja. Du denkst, du hättest deine Ehe ruiniert und dass dich keiner mehr haben will. Und deswegen lässt du dich jetzt auf jemanden ein, der dich will. Auch wenn er gar nicht gut für dich ist.“

Lorena und Cecilia mochten Alex überhaupt nicht. Er war nicht unbedingt der typische Zahnlose, wie sie so gerne in Talkshows und dergleichen auftraten, aber etwas „in seinen Augen“ wie Cecilia es nannte, gefiel ihnen nicht. Und auch, dass er heftigst wegen Diebstahl, Hehlerei und Alkohol am Steuer vorbestraft war, weshalb er auch keinen Führerschein mehr besaß. Das kümmerte ihn aber herzlich wenig, und wenn ihm einer seiner Kumpel einen Wagen lieh, fuhr er trotzdem.

„Warum auch nicht? Mich hat noch nie wer kontrolliert. Dich etwa?“ Maja schüttelte den Kopf.

„Na siehste. Du bist viel zu vorsichtig, trau dich mal was!“ Aber Maja wäre es im Traum nicht eingefallen, ohne Führerschein Auto zu fahren. Ohne fahrbaren Untersatz stellte sich diese Frage allerdings sowieso nicht.

Schwitzend keuchte sie jetzt durch das schmutzige Treppenhaus ihres hässlichen Mietshauses. Putzen tat hier niemand, da mochte die Hausverwaltung drohen, soviel sie wollte. Die altmodischen Türen mit den Milchglasscheiben, die die meisten innen mit Vorhängen versahen, damit sie von außen ungesehen blieben, hatten meist keine Klingelschilder mehr, und dahinter ging es hoch her. Hellhörig war das Haus nämlich auch noch.

Maja kannte keinen der Nachbarn und wusste doch fast alles über sie. Nur die Familie ganz oben war bemerkenswert still. Alle anderen fochten ihre Streitigkeiten ebenso unbekümmert wie lautstark aus und schämten sich nicht für die peinlichen Einsichten in ihr intimstes Privatleben.

Maja schämte sich schon eher. Ihre Beziehung zu Alex gestaltete sich schwierig. Er war ein gut aussehender Mann mit einem kleinen, feinen Bärtchen und hübschen Augen, die er meistens halb geschlossen hielt. Etwas in diesem Blick ließ Cecilia frösteln und Maja wusste inzwischen, was sich dahinter verbarg. Aber da sie ihn nun einmal liebte, blieb sie und verschloss ihre Augen vor dem, was hinter seinen vorging.

Maja wühlte ihren Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche und schloss auf. Natürlich hätte sie klingeln können, aber sie wollte sich Alex‘ muffigen Kommentar lieber ersparen.

Die kleine Altbauwohnung mit der hohen Decke sah in dem einfallenden Sonnenlicht auf den ersten Blick warm und freundlich aus. Erst auf den Zweiten sah man den vielen Staub und die Spinnweben an den Decken, die vergilbten Bilder an den Wänden und wie sehr das Nikotin die Tapeten verdunkelt hatte.

Im Wohnzimmer stand der gute Tisch mit der Glaseinlage, den Maja aus ihrer alten Wohnung mitgebracht hatte, voll mit leeren Bierflaschen und Gläsern. Die Fernbedienungen vom Fernseher, der Stereoanlage, dem DVD-Player und dem Satelliten Receiver gesellten sich dazu. Die waren noch dazu schmierig von getrocknetem Bier und Zigarettenasche. Auch die Fenster hatte Maja ewig nicht mehr geputzt. In der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr. Im Kühlschrank fanden sich Lebensmittel, die seit ewigen Zeiten abgelaufen waren. Auf manchen wuchs schon grüner Flaum. Aber Maja füllte einfach nur die Spenden der Tafel ein und schlug die Tür wieder zu.

Sie zuckte erschrocken zusammen, als Alex hereinkam. Sein dunkler Blick ließ sie kurz schaudern. Er trug ein schönes Sweatshirt und tadellos saubere Jeans. Sein Haar war blond und ebenso tadellos sauber und modern geschnitten. Nein, wie ein typischer Hartz-Vier Empfänger sah er nicht aus, aber das taten ja auch nicht alle. Nur Maja kam sich meistens vor wie ein wandelndes Vorurteil.

Alex pflegte sich. Nicht nur gewissenhaft, sondern schon fast fanatisch. Jeden Morgen wurde geduscht, das Bärtchen getrimmt, frische Kleidung angezogen, und wehe, wenn Maja die Wäsche nicht gemacht hatte und nichts da war. Dann konnte Alex zur Furie werden.

Schlank war er, und gut gebaut. Immer saubere Fingernägel. Er roch auch immer toll. Auch jetzt umwehte ihn ein Hauch von einem teuren Rasierwasser. Da sparte er an nichts. Alles andere mochte billig sein, auch aus der Mülltonne, aber nichts, was mit seinem Luxuskörper in Berührung kam, war billig oder zerrissen oder sonst wie kaputt.

Jetzt schaltete er den Wasserkocher an und nahm eine benutzte Tasse, die er mit löslichem Kaffee befüllte. Dabei musterte er sie von oben bis unten.

Maja fühlte sich sofort unwohl unter diesem abschätzigen Blick. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich an Pelle erinnert, der auch ein Schönling gewesen war und sie kräftig verarscht hatte. Alex hingegen lebte sogar mit ihr zusammen, und das erfüllte Maja mit einer gewissen Befriedigung. Sie hatte einen Freund, nach dem sich die Frauen umdrehten. Nur leider passte sie so gar nicht zu ihm. Aber was sollte sie tun? Neue Klamotten kaufen war finanziell nicht drin. Sie lebte von wenigen Euro im Monat, da man in einer Beziehung ja nicht einmal den vollen Satz bekam. Maja war das ein Rätsel. Dachte sich Vater Staat etwa, dass die Liebe den Magen ausreichend füllte? Oder warum bekamen Paare weniger als Einzelne? Maja fand das noch dazu widersinnig, denn wegen dieser paar Euro mehr, die für einen Hartz-Vier-Empfänger aber eine Menge ausmachten, trennten sich viele Paare und bezogen eigene Wohnungen, die den Staat noch teurer kamen.

Viele aus Alex’ Bekanntenkreis machten es so. Dass Alex mit ihr zusammenwohnte, fand sie nach wie vor merkwürdig. So verzichtete er auf Geld, was er nie freiwillig tat, und auch auf weibliche Gesellschaft. Denn flirten tat er oft und gerne, was Majas Herzen jedes Mal einen kräftigen Tritt versetzte.

„Haste Joghurts gekriegt?“, fragte er jetzt mit diesem Unterton, der in Maja Alarmglocken losschrillen ließ. Schnell riss sie den Kühlschrank wieder auf und wies auf die Reihe mit den Joghurts. Er nickte kurz und holte sich einen Löffel aus der vollgekrümelten Schublade. Maja machte, dass sie davonkam. Im Schlafzimmer zog sie sich wieder Leggins und ein T-Shirt an, in der Küche klingelte Alex’ Handy. Sie hörte ihn leise reden und wieder erstarrte ihr Herz, denn dieser leise, säuselnde Tonfall war ihr vertraut. Er sprach mit einer Frau. Schnurrte wie ein Kater.

Maja presste die Lippen zusammen und setzte sich aufs Bett. Es gab so vieles, wovor sie die Augen verschließen musste. Zwar hatte sie noch nie erlebt, dass Alex eine Frau anrief, aber er war ja nicht immer zu Hause. Wenn er Flaschen sammelte, wer konnte schon sagen, wo er noch hinging? Und wenn er nicht mit anderen Frauen herummachte, wieso riefen ihn dann ständig welche an? Seine Telefonnummer musste er ja erstmal herausgeben, oder hatte er die in jeden Baum im Park geschnitzt?

Sie hasste die Situation, in der sie steckte. Alleine wollte sie nicht sein, nie mehr, und jemand anderen finden gestaltete sich auch schwierig. Maja war nach wie vor dick, hatte sogar noch zugenommen und Geld für den Friseur war auch nicht mehr übrig. Lang und platt hing ihr das dunkle Haar am Rücken herunter. Die ersten Falten tauchten auch langsam auf. Und weil Alex die halbe Nacht am Computer saß, der im Schlafzimmer stand, bekam sie nur sehr wenig Schlaf.

Nein, das Leben verlief für Maja nach wie vor nicht sehr rosig.

Etwas neidvoll dachte sie an Lorena und Cecilia. Lorena suchte sich nach wie vor die Männer aus, schlief mit ihnen, und zog dann ihrer Wege. Cecilia war schon beinahe reich, zumindest aber sehr wohlhabend und schrieb ihre Bücher, was ihr viel Spaß machte. Beide Freundinnen sahen gut aus und Geld spielte für sie keine Rolle.

Nur sie, Maja, war arbeitslos und noch dazu unattraktiv. Nur selten fühlte sie sich in der Gesellschaft der beiden wohl und wäre am liebsten aus dem Zickenzirkel ausgetreten. Aber dann saß sie jeden Abend hier herum und fragte sich, wo Alex tatsächlich war, wenn er angeblich bei seinem Freund Bernd abhing, Bier trank und auf der Spielkonsole daddelte. Im Zirkel hatte sie wenigstens etwas zu lachen.

Dabei hatte das letzte Treffen ihr Unbehagen noch verstärkt, denn danach hatte sie fünfzig Euro in ihrer Jackentasche entdeckt, und noch immer fragte sie sich, wer von den beiden ihr das Geld zugesteckt haben mochte. Lorena vielleicht? Die hatte so abschätzend auf Majas lieblos herunterhängendes Haar geguckt und sich vielleicht erhofft, Maja möge davon zum Frisör gehen. Andererseits war Cecilia eher die, die unauffällig half und das Herz auf dem rechten Fleck hatte.

Am liebsten wäre Maja von dem Geld tatsächlich zum Frisör gegangen, aber diesen Monat waren Alex und sie so extrem knapp gewesen, dass alles in Lebensmittel und eine neue Jeans für den schönen Alex geflossen war, denn seine Lieblingshose war am Po etwas durchgescheuert, ein Zustand, den er auf keinen Fall hinnehmen konnte.

Das Einzige, was sich Maja von dem Geld für ihr Haar geleistet hatte, war eine billige Plastikklammer gewesen, mit der sie ihre Zotteln jeden Morgen möglichst vorteilhaft hochsteckte. Im Fernsehen sah das immer richtig schick aus, bei ihr betonte es bloß, wie rund ihr Gesicht geworden war. Die langen Strähnen hingen nach längstens zehn Minuten wieder struppig wie bei einem Ackergaul heraus.

Auch die weiten T-Shirts, die sie tragen musste, um ihren dicken Hintern und den vorstehenden Bauch zu verdecken, waren alles andere als schön. Neben Cecilia und Lorena sah sie aus wie ein Walross. Kein Mann sah sie auch nur ein zweites Mal an, so schon nicht, aber wenn sie mit den beiden unterwegs war, erst recht nicht. Oft hatte Maja versucht, eine Diät durchzuhalten, aber wenn Alex abends weg war und Maja sich vorstellte, wie er auf irgendeiner anderen lag, verkrampften sich Herz und Magen und sie brauchte Schokolade und eine Tiefkühlpizza.

Ihr Leben, das war ihr klar, konnte so nicht weitergehen. Sie wollte es ja auch ändern, sich anders ernähren, mehr bewegen, abnehmen, hübscher werden … aber andererseits erschien ihr der nächste Tag passender, damit anzufangen. Sie hatte doch noch diese leckeren Kekse im Schrank, die erst weg mussten … oder die Eiscreme im Tiefkühler … die Pralinen in der Schublade … schon ewig ging das so.

War nichts da, womit Maja sich trösten konnte, wurde sie unruhig. Dann ging sie in der Wohnung hin und her und suchte nach Süßkram. Manchmal machte sie sich Schokoladenpudding, wenn nichts anderes da war, und wenn alle Stricke rissen, ging sie den langen Weg zur Tankstelle. Sonst überkam sie eine Art Zittern, wie einen Alkoholiker auf Entzug. Dass ihre Essanfälle eine Sucht waren, war ihr unbewusst klar, aber sie ließ dieses Wissen nicht in ihr Bewusstsein vordringen. Stattdessen spülte sie alle Ängste, Sorgen und Nöte wieder mit einer tüchtigen Dosis Essen herunter.

Sodbrennen und Magendrücken drängte sie mit Medikamenten zurück. Irgendwann gegen Mitternacht legte sie sich in ihr einsames Bett und wurde meistens vom Quietschen des Bürostuhls und dem Flimmern des Computermonitors geweckt. Nur unruhig fand sie danach wieder Schlaf und wachte erst am nächsten Vormittag wieder auf, manchmal sogar erst gegen Mittag, und fühlte sich völlig zerschlagen.

Zu dieser Zeit arbeitete Lorena schon lange, hatte ihre Frühstückspause hinter sich und freute sich schon auf einen Salat oder fettarme Kost in ihrer Firmenkantine. Und Cecilia hatte bereits zwei bis drei Stunden geschrieben und säuberte eines der Zimmer in ihrem Riesenhaus. Oder sie war unterwegs nach Frankfurt, zu ihrem Agenten, zu einer Lesung oder einer Autogrammstunde. Seit sie eines ihrer Horrorbücher mit ihrem eigenen Blut unterzeichnet und bei eBay versteigert hatte, klebten ihr die Reporter an den Hacken. Ja, Lorena und Cecilia machten etwas aus ihrem Leben. Maja hingegen nicht.

Der Gedanke daran nagte in ihren Eingeweiden. Es fühlte sich an wie Hunger. Maja öffnete den Kühlschrank und nahm sich einen großen Schokoladenpudding heraus. Und die Flasche mit der Sprühsahne.

Lorena: (Un)happy Birthday

Lorena seufzte ergeben, als der Wagen ihrer Eltern in ihre Einfahrt abbog, und schaltete die Kaffeemaschine ein. Die Draschoffs stiegen aus und kamen langsam mit gestrengen Mienen zur Haustür.

Alt sahen beide aus, und es versetzte Lorena einen Stich, sie so zu sehen. Ihre Mutter war inzwischen fünfundsechzig, ihr Vater einundsiebzig.

„Da sind sie!“ Jacqueline stürmte die Treppe herunter und riss die Haustür auf, bevor Lorena sie wegen ihres Outfits anschnauzen und wieder nach oben schicken konnte, damit sie sich umzog.

„Hallo Omi, Hallo Opa!“, rief sie freudestrahlend. Die Gesichter der Draschoffs wurden ganz weich und verhärteten sich unmerklich wieder, als auch sie die mangelhafte Bekleidung in Augenschein nahmen.

„Lorena, so lässt du deine Tochter Gäste begrüßen?“, entrüstete sich ihre Mutter, umarmte Jacqueline und wünschte ihr alles Gute zum Geburtstag. Ihrer Tochter gab sie nur kühl die Hand. Ihr Gatte desgleichen. Der zog noch einen dicken Umschlag aus der Jackentasche und übergab den seiner Enkelin mit einem schelmischen Zwinkern. Jacqueline strahlte. Lorena wunderte das nicht. Der Dicke nach zu urteilen, steckten mindestens vierhundert Euro in dem Umschlag.

„Jacky, dieses dünne Trägertop ist nun wirklich kein geeigneter Aufzug. Zieh dir ein langärmeliges T-Shirt an“, befahl sie nun, aber Jacqueline befolgte ihre Anweisung nur zu gern. Oben konnte sie ungestört das Geld zählen und verstecken. Lorena wusste, sie würde nie erfahren, wie viel Geld es genau gewesen war.

Frau Draschoff ging derweil ins Wohnzimmer und sah sich kritisch um. Lorena hatte renoviert. Das viele Weiß hatte ihr irgendwann nicht mehr gefallen, daher hatte sie die Wände in einem zarten Gelb streichen lassen und rote Sessel und eine Couch gekauft, die sich schick von den Wänden abhoben.

„Recht bunt“, stellte Lorenas Mutter nun fest und setzte sich auf die neue Couch. Lorena hob nur die Schultern. Dass ihre Mutter nichts gut fand, was sie tat, war ihr ja nicht neu. Und da ihre Eltern nur an Jacquelines Geburtstag einen Fuß in das Haus ihrer Tochter setzten, das ja nur gemietet und nicht gekauft war, sahen sie Neuerungen immer erst sehr spät.

Lorena holte Kaffee und bediente ihre Eltern. Ihr Vater, der seine Tasse mit den vier Stück Zucker und dem Schuss Milch entgegennahm, beäugte ebenso kritisch wie seine Frau Lorenas Äußeres.

„Seit wann lässt du dir denn die Haare wachsen“, verlangte er zu erfahren. Lorena öffnete den Mund, um zu antworten, da klingelte es an der Tür. Sofort fegte Jacqueline, dieses Mal in eine Tunika gehüllt, wieder die Treppe herunter.

Wer konnte das denn noch sein? Doch nicht etwa dieser schreckliche Christoph? Lorenas Eltern würden vor Empörung über Jacquelines schlechten Umgang tot umfallen, sollten sie diesem Individuum je begegnen.

Lorena war es jedoch, die beinahe tot umfiel, als Jacqueline mit vor Verlegenheit hochroten Wangen den Besucher hereinführte. Lorena brauchte ein paar Sekunden, bis sie den beleibten Mann in dem teuren Mantel und den inzwischen gefärbten Haaren erkannte. Es war kein anderer als Rüdiger, Jacquelines Vater!

„Das ist mein Papa“, erklärte sie jetzt auch noch stolz und stellte ihn den Draschoffs vor, die ebenfalls wie vom Donner gerührt waren und ihm nur kurz die Hand drückten.

Als er sich Lorena zuwandte, verschränkte die die Arme vor der Brust.

„Mir musst du den Herrn nicht vorstellen, Jacky. Den kenne ich besser, als mir lieb ist. Und das Händeschütteln können wir uns auch sparen, Rüdiger. Von dir hatte ich schon ganz andere Sachen in der Hand, wenn du dich recht erinnerst. Und wir wissen ja beide, was dabei herausgekommen ist.“

Jacqueline lief puterrot an.

„Mama!“

„Das ist nun einmal die Wahrheit. Wieso bist du hier, Rüdiger?“

Rüdiger, der sich wohl einen herzlicheren Empfang gewünscht hatte, presste die Lippen zusammen.

„Meine Tochter hat Geburtstag. Da ist es doch wohl ganz klar, dass ich hier bin. Sie hat mich gefunden und eingeladen. Von dir kam ja all die Jahre nichts.“

Lorena sperrte bei dieser Dreistigkeit den Mund sperrangelweit auf.

„Von mir ...? Du warst es doch, der mir einen falschen Namen genannt hat! Und da ich hier schon seit über zehn Jahren unter dem Namen ‚Lorena Draschoff’ lebe und sogar im Telefonbuch stehe, hätte es dir keinerlei Mühe bereitet, uns zu finden. Du hattest nur kein Interesse daran!“

„Lorena“, zischte da ausgerechnet Lorenas Mutter, „so behandelt man keinen Gast!“ Lorena wandte sich zu ihrer Mutter um und sah, wie deren Augen hastig an Rüdigers teurem Mantel herauf- und wieder herunterwanderten. Auch ihr Mann beäugte Rüdiger inzwischen interessiert, aber nicht unfreundlich. Lorenas Blut begann, vor Wut zu kochen.

„Rüdiger ist nicht mein Gast. Ich habe ihn nie hierher gebeten“, stellte sie klar.

„Aber ich! Er ist mein Gast“, trumpfte Jacqueline auf. Lorena wandte sich um und sah ihre Tochter fassungslos an. Entschlossen erwiderte Jacqueline ihren Blick.

„Schön, wenn das dein Gast ist, dann kümmere dich auch um ihn. Kaffee und Kuchen stehen in der Küche.“ Lorena ging selbst in die Küche, um sich wieder etwas unter Kontrolle zu bringen. Ihre Hände zitterten und ihre Kehle war staubtrocken. Rüdiger! Außer mit seinem Dauerauftrag über Jacquelines Unterhalt, den sie sich nach dem Besuch im Swingerclub von ihm erpresst hatte, tauchte er nie in ihrem Leben auf. Nur auf Lorenas Kontoauszug. Und Jacqueline forschte heimlich nach ihm, fand ihn wahrscheinlich über das Internet und lud ihn ohne zu fragen zum Kaffee ein?

Jacqueline betrat indes die Küche und holte unter lautem Geklapper ein weiteres Gedeck aus dem Schrank.

„Sag mal, tickst du noch ganz sauber, deinen Erzeuger ohne mein Wissen einzuladen?“, zischte Lorena wütend. Jacqueline zuckte nur mit den Schultern.

„Ist doch mein Geburtstag, da kann ich ja wohl einladen, wen ich will.“

„Ach ja? Und wieso ist dieser Chris dann nicht hier?“, gab Lorena ironisch zurück.

Jacqueline blickte zur Seite, nahm Teller und Tasse, und verschwand aus der Küche. Ganz klar, dass Omi und Opa Chris nicht mögen würden und eventuell dann der Batzen im Umschlag nicht mehr ganz so dick ausfiel, wenn Weihnachten vor der Tür stand.

„Na warte“, knurrte Lorena und marschierte zum Küchenanschluss, von wo sie mit dem Neontelefon im Achtziger-Look, das sie bei eBay ersteigert hatte, bei Chris anrief. Das war nicht weiter schwierig, ein Druck auf die Wahlwiederholung genügte völlig, denn Jacqueline rief den mindestens zehnmal pro Tag an. Mit gespielter Munterkeit fragte Lorena ihn, ob er nicht Lust habe, herüberzukommen.

Zehn Minuten später klingelte es an der Tür und dieses Mal war es Lorena, die aufmachte. Jacqueline, die sich sehr angeregt mit ihrem Vater und den Großeltern im Wohnzimmer unterhielt, kam nicht mal zur Tür. Ihre Gäste waren ja alle da. Falls noch Freundinnen ihrer Mutter wie diese komische Cecilia oder die dicke Maja kommen sollten, war das für sie nicht weiter interessant. Die schenkten selten Geld, vor allem Maja.

„Hi“, murmelte Chris. Lorenas Gesicht erhellte sich, als sie sah, dass er mindestens drei Tage nicht mehr geduscht hatte, ein schmieriges Käppi auf den fettigen Haaren trug und das einzig gepflegte an ihm seine Turnschuhe waren, die neu und teuer aussahen. Der Rest war Gammler pur und die Draschoffs würden hoffentlich den Schock ihres Lebens bekommen.

„Komm rein, Chris“, flötete sie mit einem teuflischen Funkeln in den Augen. „Alle sind schon im Wohnzimmer und warten auf dich.“ Lorena schauderte, als sie daran dachte, dass der eklige Typ gleich auf ihren schönen neuen Möbeln sitzen würde.

Wortlos ging Chris mit diesem lässigen Schritt ins Wohnzimmer, den heute so viele Jugendliche drauf hatten und der von einem riesigen, aber nicht gerechtfertigten Selbstbewusstsein zeugte. Schnell folgte sie ihm, denn sie wollte die Reaktion ihrer Eltern nicht verpassen.

Als Chris zur Tür hereinkam, senkte sich sofort entsetzte Stille über den Raum. Frau Draschoff blieb der Mund offen stehen, Herr Draschoff verengte die Augen und presste angewidert die Lippen zusammen.

„Tach, babe“, brachte Chris hervor und küsste Jacqueline auf den Mund.

„Chris ... aber ... wir waren doch später verabredet ...“ Jacqueline wurde vor Verlegenheit knallrot. Panisch schossen ihre Augen von Omi zu Opa. Dass auch Daddy Rüdiger Chris recht unfreundlich betrachtete, fiel ihr gar nicht auf.

„Ich habe ihn eingeladen. Er ist mein Gast“, sagte nun Lorena. „Ich fand, deine Großeltern sollten ruhig sehen, mit wem du zusammen bist. Ich denke, da war ich in deinem Alter besser dran. Zwar war mein Freund viel älter als ich, ein gewissenloser Schürzenjäger und schrecklicher Lügner, aber der hatte wenigstens Geld in der Tasche. Immerhin hat er das Kino und später das Hotelzimmer bezahlt. Bei euch bist ja meistens du es, die ihm immer die Kohle in den Rachen wirft, stimmt’s etwa nicht? Jedenfalls habe ich erst vor kurzem gesehen, wie du Chris um die zweihundert Euro zugesteckt hast.“

Jacqueline lief noch röter im Gesicht an. Beinahe tat sie Lorena leid, aber nur beinahe.

Auch die Draschoffs sahen peinlich berührt aus, aber bei Lorenas letzten Worten horchten sie auf.

„Du gibst ihm Geld?“, fragte nun die Omi.

„Äh ... na ja ...“

„Ist doch ihre Sache, was sie mit ihrer Kohle macht“, versetzte Chris barsch. Er hing in Lorenas Sessel wie ein Schluck Wasser in der Kurve.

„Das war für die Spielkonsole, die Chris für mich bei eBay ersteigert hat“, erklärte Jacqueline hastig.

„Und wo ist die nun?“, fragte Lorena.

„Kommt noch. Der Typ hatte Versandprobleme.“ Chris wischte alle Bedenken vom Tisch. Jacqueline nickte heftig.

„So? Seit drei Wochen Versandprobleme? Dann würde ich das Geld aber mal schnell zurückholen, sonst ist es futsch“, knurrte Lorena. Nun mischte sich auch noch Rüdiger ein.

„Drei Wochen? Klingt nicht sehr realistisch. Die Teile für mein Auto waren nach zwei Tagen schon ...“

„Halt dich da raus, du Otto!“, schrie Chris da auf einmal, „wenn ich sage, der hatte Versandprobleme, dann stimmt das auch!“

„Ruhig Blut, Bürschchen! So sprichst du nicht mit mir!“ Rüdiger erhob sich mühsam aus Lorenas Couch. Trotz seines Alters und des dicken Bauches war er noch immer ein sehr imposanter Mann. Aber Chris lachte nur.

„Was willst du schon, du Tonne!“ Er lachte aber nicht mehr, als Rüdiger ihn am Kragen packte und aus dem Sessel zerrte.

„Hey ...! Was ...!“ Chris trat nach Rüdiger, aber der zerrte den Hänfling einfach zur Haustür, stieß ihn auf Lorenas gepflegten Rasen, und schlug die Tür wieder zu. Lorena trat neben ihn, hob das Käppi auf, das Chris von den zottigen Haaren geglitten war, öffnete die Tür wieder, und warf das schmuddelige Ding Chris mitten ins Gesicht. Dann schlug sie ihrerseits die Tür zu.

Rüdiger lächelte.

„Wir sind doch ein ganz gutes Team, was?“

Lorena starrte ihn nur kalt an und ging wieder ins Wohnzimmer. Jacqueline war natürlich aufgesprungen, um ihrem Stecher beizustehen, aber komischerweise hatte sie sich ihrem Vater nicht in den Weg gestellt. Sie sah ihn nur betroffen an, und so etwas wie Hochachtung lag in ihrem Blick. Lorena erstaunte das. Sie selbst hatte noch nie so einen Blick in das Gesicht ihrer Tochter zaubern können.

„Jacqueline, wie kannst du dich mit so was einlassen?“, zeterte jetzt noch Frau Draschoff. „Und du gibst dem Geld?“

Jacquelines Blick wanderte vom Vater zur Mutter, und nun stand kalte Wut in ihren Augen.

„Mama! Wie kannst du das tun an meinem Geburtstag!“

„Was tun? Deinen Freund einladen? Ist das nicht selbstverständlich? Du hattest es bestimmt bloß vergessen, da dachte ich, ich mache dir eine Freude. Du würdest uns doch deinen Freund nicht vorenthalten wollen, oder?“

„Freude? Du willst mir doch nie eine Freude machen! Du kannst dich bloß immer in alles einmischen! Alles machst du kaputt!“ Jacqueline brach in Tränen aus, und sofort war Rüdiger da und schloss seine Tochter in die Arme. Triumph lag in seinem Blick.

Lorena reichte es plötzlich. Alle, die sie dort saßen oder standen, hatten immer nur versucht, ihr Jacqueline zu entfremden. Ihre Eltern auf ganz besonders gemeine Weise, jetzt kam auch noch Rüdiger an, der sich bisher nie für das interessiert hatte, was aus seinem Nachmittags-Stößchen auf dem Rücksitz seiner Nobelkarosse entstanden war.

„So, ich mache also alles kaputt? Hier sitzen deine Großeltern, die mich dafür hassen, dass ich dich bekommen habe und dich mir dann wegnehmen wollten. Und da stehst du und lässt dich von dem Kerl trösten, der dich nie haben wollte und nie nach dir gesucht hat, obwohl er von dir wusste. Wie du ihn dazu gekriegt hast, dich zu besuchen, ist mir ein Rätsel, aber ohne Hintergedanken läuft bei dem gar nichts!“

„Lorena!“ Frau Draschoff sprang auf. Auch ihr Mann erhob sich steif.

„Ich bin entsetzt darüber, wie du dich aufführst, Lorena.“ Das war natürlich ihr Vater.

„Ich? Ich bin doch diejenige, die sich wirklich um Jacqueline gekümmert hat. Wart ihr vielleicht für sie da, als sie schwanger wurde und ihr Kind verlor?“ Lorena wusste, sie tat das Unverzeihliche. Aber nun brach sich ihre Bitterkeit bahn, und dass Rüdiger hier aufgetaucht war, hatte ihr den Rest gegeben.

„Was?!“, riefen die Draschoffs aus und wandten sich zu Jacqueline um.

„Schwanger? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wie es scheint“, sagte Rüdiger jetzt auch noch. Nun war es endgültig genug.

„Raus!“, brüllte sie dem Mann ins Gesicht, der ihr Leben zur Hölle gemacht und sie nur ausgenutzt hatte.

„Jacqueline hat mich einge- ...“

„Das hier ist mein Haus! Hau gefälligst ab!“

Rüdiger sah überrascht in Lorenas Gesicht und setzt zu einem weiteren Protest an, da fielen ihm wohl die Fotos und das Video ein, die sie auf ihrem Handy gespeichert hatte. Er drückte Jacqueline noch einmal an sich, murmelte ihr etwas ins Ohr, nickte den Draschoffs zu und ging.

Die Draschoffs starrten Jacqueline noch immer verständnislos an.

„Wann war das mit der Schwangerschaft?“, fragte Lorenas Vater mit belegter Stimme.

„Letztes Jahr. Als ihr dachtet, sie wollte sich in Holland eine Band ansehen. Da seht ihr, wo es hinführt, wenn ihr eurer Enkelin ohne mein Einverständnis so viel Geld zusteckt.“ Lorena stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und beobachtete Jacqueline, die weinend in den Sessel sank, in dem eben noch ihr schmuddeliger Freund gehangen hatte.

„Was wollte sie denn dann in Holl- ... oh nein. Oh Gott. Sie wollte doch nicht ...?“ Lorenas Mutter schlug sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund.

„Doch, genau das wollte sie.“

„Jacqueline geh doch bitte mal in dein Zimmer“, verlangte Herr Draschoff, der von Minute zu Minute grimmiger aus der Wäsche guckte. Jacqueline floh erleichtert.

„Lorena, all das ist deine Schuld! Wie konntest du zulassen, dass deine Tochter denselben Mist baut wie du?“, wetterte er, kaum dass die Tür seiner Enkelin ins Schloss gefallen war.

„Wie hätte ich es deiner Meinung nach verhindern sollen? Ich habe ihr Kondome gekauft und ihr gezeigt, wie man sie anwendet. Ihr ins Gewissen geredet. Sexualkunde in der Schule hat sie auch. Sollte ich sie in ihrem Zimmer einsperren?“

„Du hättest sie besser erziehen müssen“, giftete ihre Mutter. Lorena seufzte.

„Hat den eure tadellose Erziehung so etwas verhindern können?“, fragte sie sanft. Aber in ihren Augen glitzerte es boshaft.

„Was du getan hast, kannst du nicht uns ankreiden! Wir haben immer versucht, dir ein gutes Leben zu ermöglichen und dir eine gute Schulbildung zukommen lassen. Was du für Chancen gehabt hast!“, empörte sich Frau Draschoff. Nun reichte es Lorena auf einmal. Seit nunmehr siebzehn Jahren hatte sie sich diese Behandlung und Ächtung ihrer Person antun lassen, jetzt war es genug!

„Ja, die hatte ich mit meinen Noten. Ja, ich hätte studieren sollen! Aber ihr habt mich ja nicht mehr gelassen, nachdem ich Jacky bekommen hatte! Sie genommen während meiner Ausbildung, das habt ihr, sicher. Aber während ich studierte? Nein, das habt ihr mir gleich gesagt. Und du, Papa, hattest mir schon eine Ausbildungsstelle besorgt, die ich anzutreten hatte. Aber wenn ich studiert und somit noch mehr Geld verdient hätte, wäre Jacky in einer ganz anderen Umgebung groß geworden. Hier geht es zwar noch, aber die Gegend hier ist in den letzten Jahren doch ziemlich heruntergekommen. Mit einem Studium im Rücken hätte ich jetzt ein eigenes Haus in einer dieser gehobeneren Wohngegenden, und Jacky hätte andere Jungs kennengelernt. Sie hätte auch andere Freundinnen gehabt. Aber diese Chancen habt ihr ihr genommen, als ihr meintet, mich für meine Schwangerschaft bestrafen zu müssen!“

„Das ... das ist doch wohl nicht dein Ernst!“ Frau Draschoff blinzelte ihre Tochter mit großen Augen an. Herr Draschoff war jetzt wirklich wütend. Aber Lorena kannte seine Predigten.

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