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Читать книгу: «Die lichten Reiche», страница 2

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Das Scharren von Metall auf Metall und ein erschrockenes Keuchen ließen Crystal herumfahren. Der Schürhaken entglitt Lucias Händen und fiel zu Boden. Ein Schmerzensschrei drang an Crystals Ohren. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen wandte sie ihren Blick Lucia zu, obwohl sie fürchtete, was sie dort sehen würde. Lucias Angreiferin machte einen Sprung zurück und kreuzte ihre Schwerter wieder. Beide Klingen waren voll Blut. Lucia ging zu Boden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick suchte ihren Mann. „Rhys… Rhys…“, keuchte sie. Jedes Wort wurde von einem Schwall Blut begleitet, der ihr aus dem Mund drang und Crystal begriff dumpf, dass dies der Tod war. Sie hörte den verzweifelten Schrei ihres Bruders, sah wie er sich zu seiner Frau beugte, die Gefahr, die ihm immer noch drohte, ignorierend.

Lucias Mörderin zögerte nicht, Rhys’ Schwäche auszunutzen und war schon vorgesprungen. Einen Augenblick später steckten beide Schwerter in seinem Rücken.

Crystal fühlte ein Brechen in sich, wie von Glas, als sie begriff, dass die Frau ihren Bruder ermordet hatte. In fassungslosem Schmerz schrie Crystal ihr Leid in die Welt hinaus. Sie schrie die Liebe zu ihrem Bruder, zu ihrer Freundin – das Entsetzen über das, was sie mit ansehen musste und nicht verhindern konnte. Sie vergaß völlig, dass zwei Angreiferinnen noch unverletzt waren und dass sie selbst in höchster Gefahr schwebte. Sie hatte die Hände wütend zu Fäusten geballt und die Augen fest geschlossen. Unter der Wucht ihrer Stimme brach das Glas des Spiegels mit einem leisen Knacken und die Angreiferin, die in ihrer unmittelbaren Nähe stand, ging mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie und presste ihre Hände gegen die Ohren.

„Crystal! Crystal!“ Wie von weit her hörte sie die Stimme und langsam begriff sie, dass jemand nach ihr rief. Nur widerwillig öffnete sie die Augen um die Welt zu verlassen, in die ihre Stimme sie getragen hatte. Sie blickte in Lord Thorben fassungsloses Gesicht und blinzelte. Was tat er hier? Er stand nahe der Tür und hielt ein Holzbrett in der Hand, mit welchem er eine der Angreiferinnen gerade bewusstlos geschlagen hatte. „Wir müssen hier weg, bevor sie zu sich kommen!“ Crystal stand noch immer regungslos da und schaute auf ihren Bruder, der blutüberströmt über seiner Frau zusammengebrochen war. Doch dann war Thorben bei ihr, nahm ihre Hand und zerrte sie unsanft aus ihrem Gemach. Benommen stolperte Crystal hinter ihm her. „Rhys…“, schluchzte sie.

„Ich... ich wollte doch nur...“, stammelte Thorben leise; dann sah er sie fest an. „Sie sind tot, Crystal. Wir können ihnen nicht mehr helfen und wenn wir nicht wollen, dass es uns ebenso ergeht, dann müssen wir schleunigst von hier verschwinden.“

Dumpf begriff sie, dass er Recht hatte und wehrte sich nicht länger, als er sie den Gang entlang zog. Erst als sie Joys Zimmer erreichten, blieb Crystal ruckartig stehen und entzog ihm ihre Hand. „Wir müssen sie mitnehmen.“

Thorben nickte. „Mach schnell“, stieß er hervor.

Crystal öffnete die Tür. Joy saß auf ihrem Bett, die Arme um ihre Beine geschlungen. Tränen strömten über ihre Wangen. „Tante Crys!“, rief sie aus. „Ich hab Schreie gehört. Wo ist meine Mama?“

Crystals Herz brach. Wie um alles in der Welt sollte sie dem Kind erklären, was heute Nacht geschehen war?

Das letzte Licht des Tages fiel in das Turmzimmer der Akademie. Lucthen entzündete eine Kerze. Er war entschlossen die wenigen freien Stunden des Tages so gut wie möglich zu nutzen. Außerdem genoss er die Ruhe, die in der Bibliothek einkehrte, wenn es Abend wurde. Momentan hatte er den Raum ganz für sich allein. Lucthen ließ seinen Blick über die Wände wandern, genauer gesagt über die Buchrücken, die die Wände verdeckten. In der blauen Akademie gab es zwei runde Türme und dementsprechend zwei Bibliotheken. Von außen konnte man denken, dass eine Wendeltreppe bis nach oben führen mochte, doch Lucthen wusste, dass die Treppe auf halber Höhe endete. Der Raum unterhalb des Daches war mehr als zehn Mann hoch. Bücherregale, in ihrer Form der Rundung des Turmes angepasst, standen so dicht, dass die dahinter liegenden Wände nicht zu erkennen waren. Oberhalb der Regale hatte man Platz gelassen für einen Kranz aus Fenstern, der jedoch nur wenig Licht ins Innere der Bibliothek dringen ließ.

Die Exemplare, die für die Lehrlinge zugänglich waren, standen in Griffhöhe. Danach kamen ein paar Reihen an Büchern, die über lange, bewegliche Leitern zu erreichen waren und sich mit fortgeschrittener Magie beschäftigten. Die wirklich interessanten Werke allerdings befanden sich darüber. Lucthen konzentrierte sich auf einen Buchtitel, führte die Geste des Holens aus und wartete geduldig bis das Buch in seine Hand schwebte. Als einer der wenigen, vollausgebildeten Magi der Mittellande wusste er, dass die sichtbare Welt nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit war und dass es eine größere, allumfassendere Wirklichkeit gab, die die meisten Menschen nicht begreifen konnten. Mit den Elfen war das selbstverständlich etwas anderes. Sie waren ihrem Wesen nach Magie – so sehr, dass man sagte, dass sie die feinen Linien des magischen Netzes, welches belebte und unbelebte Dinge miteinander verband, sehen konnten. Lucthens Begabung hatte sich sehr früh gezeigt und er hatte einigen Schaden angerichtet, bevor er in die Akademie gekommen war und dort gelernt hatte das Gewebe zu verstehen und gezielt zu manipulieren. Davor hatte er, ohne zu wissen was er tat, mit den feinen Fäden der Magie gespielt und einmal beinahe das Haus seines Vaters zum Einsturz gebracht. Der Körper eines Begabten war eine Waffe und er wusste nur zu gut wie gefährlich ungeschliffene Waffen waren. Jahrelange Übung hatte ihn eine eiserne Körperbeherrschung erlangen lassen und seine Waffe gut geschliffen. Dass sein Geist immer noch unbändig war, sein Wesen aufbrausend – nun das war seine Sache, solange es ihm gelang seinen Körper zu beherrschen.

Lucthen wandte sich seinem Buch zu. Er bemühte sich seit Jahren herauszufinden, warum die Menschen die Magie jahrtausendelang vergessen hatten und sie erst langsam wieder zu entdecken begannen. Die erste Akademie in den Mittellanden war vor dreihundert Jahren gegründet worden. Man nannte sie Akademie des grauen Zweiges. Sie war an der Grenze zu Feyas Reich errichtet worden und heute noch die größte Ausbildungsstätte für Magi in den Mittellanden. Danach war die Akademie gegründet worden, in der er selbst studiert hatte, jene des blauen Zweiges. Die letzte der drei mittelländischen Akademien, die des grünen Zweiges, konnte erst auf eine zweihundertjährige Tradition zurückblicken. Dort unterrichteten nur sieben Magi, denn obwohl es mehr als genug begabte Kinder im Osten des Reiches gab, weigerten sich viele Eltern ihre Kinder in die Akademien zu schicken. Der Beruf des Magi war nicht überall in den Mittellanden hoch angesehen und viele Eltern sahen nicht ein, warum ihr Kind eine Ausbildung zum Magi absolvieren sollte, wenn es genauso gut Bauer werden konnte oder Schuster. Lucthen war ziemlich erfolgreich, wenn es darum ging, Eltern zu überzeugen ihre Kinder in die Akademie zu schicken – und dazu musste er nicht einmal Magie anwenden. Es genügte meist ihnen zu erklären, wie gefährlich ihre Kinder werden konnten, wenn sie nicht lernten sich zu beherrschen, dass sie mit einer falschen Handbewegung das Haus anzünden konnten oder dass eine Berührung dazu führen konnte, dass die Kühe keine Milch mehr gaben. In den zwei Jahren, die Lucthen nun schon an der Akademie unterrichtete, konnte sich der blaue Zweig nicht über einen Mangel an Schülern beklagen und das war hauptsächlich sein Verdienst. Zugegeben, meist übertrieb er ein wenig, was das mögliche Gefahrenpotential anging – doch nur, wenn er sich davor überzeugt hatte, dass es dem Wunsch des Kindes entsprach, ausgebildet zu werden.

Plötzlich durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz, schoss die Wirbelsäule nach oben und explodierte schließlich in seinem Kopf. Unwillkürlich presste er seine Fäuste gegen die Schläfen und biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer knackte.

Dann sah er sie: Das offene Haar wurde ihr ins Gesicht geweht, doch sie schien es gar nicht zu bemerken. Ihre hellen, blinden Augen starrten wie gebannt in die Ferne. Was sie sah schien ihr unerträgliche Qualen zu bereiten, denn in dem zarten Gesicht stand solch tiefer Schmerz, dass Lucthen leise aufstöhnte und unwillkürlich die Hand nach ihr ausstreckte um sie zu trösten. Seine Qualen bedeuteten ihm nichts und er wollte alles, alles ertragen, wenn dadurch nur ihr Schmerz gelindert würde. Er sah wie sie leise seufzte und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ihre Hand hob sich langsam, wie in Trance, um eine der silberblonden Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, als sich ihr Ausdruck plötzlich veränderte. Der Schmerz wurde greifbarer, realer. Lucthen konnte ihr Entsetzen und ihren Unglauben sehen. Einen Moment lang verstand er nicht, was geschehen war. Dann kippte sie langsam nach hinten. Ein Pfeilschaft ragte aus ihrer Brust. Er sah noch wie sich ihre Augen schlossen, wie sich der Blutfleck auf ihrem hellen Kleid langsam ausbreitete – dann verblasste das Bild.

Minutenlang saß Lucthen völlig reglos. Nur sein Herz raste ihm in der Brust als wolle es zerspringen. Schließlich zwang er sich dazu seinen Geist zu leeren und sich in Meditation gleiten zu lassen. Einem Lehrling im zweiten Jahr sollte diese einfache Übung keinerlei Probleme verursachen, doch Lucthen brauchte mehrere Anläufe, bis es ihm gelang seinen Geist zu beruhigen.

Stunden später fühlte er sich ruhig genug um die Meditation zu beenden. Er legte zitternd die Fingerspitzen aneinander und versuchte nachzudenken. Er glaubte nicht, dass sie tot war. Wenn dem so wäre würde er es wissen, sagte er sich. Ihr Gesicht, ihre Gestalt, ja ihr ganzes Wesen waren ihm so vertraut wie sein eigenes. Er kannte sie und kannte sie nicht. Vielleicht war er verrückt. Früher hatte er das tatsächlich gedacht, als er herausgefunden hatte, dass keiner der anderen Begabten Visionen von wunderschönen Frauen hatte. Mit den Jahren hatte er gelernt, dieses Geheimnis für sich zu behalten, da die Anderen darauf mit Ablehnung oder Angst reagierten. Doch für ihn war es so natürlich wie atmen, so selbstverständlich wie die Tatsache, dass jeden Morgen im Osten die Sonne aufgeht, dass er sie sehen konnte. Er hatte sie aufwachsen sehen. Als er noch ein Kind war, war auch sie ein Kind gewesen und als junger Lehrling an der Akademie war sie ihm als junges Mädchen mit spitzem Gesicht erschienen. Jetzt war sie zu der schönsten Frau herangewachsen, die er je gesehen hatte – oder eben nicht gesehen hatte, denn in Wirklichkeit hatte er das nicht. Mit einer Geste der Verzweiflung fuhr sich Lucthen durchs dunkle Haar. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Um ehrlich zu sein, er war sich nicht einmal sicher, ob sie ein Mensch war…

Es war mitten in der Nacht als Lucthen das Tor durchschritt, das in den ersten Ring führte. Zielstrebig ging er auf die kleine Hütte zu, die seit seiner Geburt sein Zuhause gewesen war. Nach Stunden des Nachdenkens war Lucthen zu einem Schluss gekommen: es gab nur eine Person, die ihm vielleicht weiterhelfen konnte. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, merkte er verwundert, dass in der Wohnstube noch Licht brannte. Er fand seinen Vater in dessen Lieblingssessel vor dem Kamin vor, eine warme Decke um die Beine gewickelt. Einst war Lucthens Vater ein Talosreiter gewesen, doch mittlerweile war er zu alt um seinem König zu dienen. In den letzten Jahren hatte ihn zusehends seine Kraft verlassen; sein Haar war ergraut und beim Gehen musste er sich auf einen Stock stützen. „Warum bist du noch wach, Vater?“, erkundigte sich Lucthen neugierig, als er zu ihm trat und ihm grüßend die Hand auf die Schulter legte.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht heim gekommen bist“, erklärte der alte Mann mürrisch.

Lucthen unterdrückte ein Grinsen. Er war achtundzwanzig Jahre alt, ausgebildeter Magus und sein Vater sorgte sich, weil er sich ein paar Stunden verspätete… „Ich bin jedenfalls froh, dass du noch wach bist. Ich möchte mit dir reden“, meinte er, als er sich in den Sessel, der neben dem seines Vaters stand, fallen ließ.

„Ist es wichtig?“, erkundigte sich der alte Mann. „Ich meine, können wir nicht morgen Früh…“

„Es ist sehr wichtig und ich habe ohnehin schon zu lange gewartet.“

Lucthens barscher Tonfall ließ seinen Vater aufhorchen. „Was hat dich so aufgebracht, mein Sohn?“

Lucthen starrte in die Flammen. Er wusste nicht genau wie er beginnen sollte. So viel stand auf dem Spiel, denn wenn sein Vater ihm nicht weiterhelfen konnte, musste er seine Hoffnung, sie je zu finden, begraben. „Erinnerst du dich, dass ich früher manchmal von einem Mädchen geträumt habe?“, begann er. Seine Augen ruhten aufmerksam auf dem Gesicht seines Vaters und so entging ihm nicht, dass dieser sich anspannte, obwohl er sich bemühte möglichst unbeteiligt zu wirken.

„Das ist schon Jahre her.“

Langsam schüttelte Lucthen den Kopf. „Nein, ich habe nur aufgehört von ihr zu erzählen, weil niemand mir geglaubt hat.“

Eine tiefe Stille senkte sich über das Zimmer. Interessiert beobachtete Lucthen die Reaktion seines Vaters. Konnte er tatsächlich Schuldgefühle in dessen Miene lesen?

„Warum erzählst du mir das, Lucthen?“, fragte der alte Mann schließlich.

„Weil ich sie heute gesehen habe. Sie ist in Gefahr. Vater, wenn du irgendetwas weißt, dann musst du mir das sagen. Wenn ihr etwas zustößt…“, brach es aus Lucthen heraus.

„Aber wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas…“

„Weil ich nachgedacht habe. Ich kenne dich, Vater – deine Reaktionen, immer wenn ich von ihr erzählt habe, waren … eigenartig.“

Der alte Mann starrte in die Flammen, als hätte er die Anwesenheit seines Sohnes vergessen und lange Zeit war nur das Knacken der Holzscheite und sein schweres Atmen zu hören. „Ich wollte es dir sagen, beim Licht, das wollte ich“, murmelte er irgendwann leise, wie zu sich selbst, „..aber ich habe einen Eid geschworen.“

Lucthen konnte sehen wie sein Vater mit sich rang. Es kostete ihm seine ganze Beherrschung ruhig zu bleiben und ihn nicht zu bedrängen. Schließlich schüttelte der alte Mann langsam den Kopf. „Lass uns ein anderes Mal darüber reden, mein Sohn.“

„Heute noch. Ich muss es wissen.“ Lucthens Stimme war fest und entschlossen.

Der alte Talosreiter schaute seinen Sohn traurig an. Er schien zu begreifen, dass die Zeit der Ausflüchte nun vorüber war. „Du warst noch sehr jung, vielleicht drei oder vier Jahre alt und deine Mutter war noch nicht lange tot, als ich einen Auftrag bekam. Ich sollte in die östlichen Wälder reiten und dort etwas abgeben. Damals war ich ziemlich lange fort, erinnerst du dich?“

Lucthen nickte bang. Er sagte nichts um seinen Vater nicht aus den Erinnerungen zu reißen, die ihn offensichtlich eingeholt hatten. Er schien im Feuer Dinge zu sehen, die Lucthen verborgen blieben.

„Doch als ich sah, was ich in die östlichen Wälder bringen sollte, da war mein erster Gedanke, dass ich mich weigern würde“, fuhr er schließlich fort. „Tagelang konnte ich mich zu keiner Entscheidung durchringen. Ich brachte sie her. Das kleine, süße Mädchen. Sie war noch ein Säugling und sie war blind.“

Lucthen ballte die Hände zu Fäusten um nicht unwillkürlich nach dem Netz zu greifen. Bei Lucis, das konnte nicht wahr sein!

„Du hast sie vom ersten Moment an geliebt – und sie hat dich geliebt. Wenn sie nicht in deinen Armen liegen durfte, hat sie nur geschrieen und gebrüllt, doch sobald du sie gehalten hast, sind ihre Tränen versiegt und sie hat dich mit ihren hellen Augen angesehen, als würde sie dich ganz genau erkennen.“ Dem alten Mann fiel es sichtlich schwer weiterzusprechen, doch er zwang sich dazu. „Lucthen, wenn du nicht alles gewesen wärst, das mir geblieben war, ich hätte dich in die Auen mitgenommen und dich bei ihr gelassen. Denn beim Licht, ich wusste, dass ihr ohne einander nicht glücklich werden würdet. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte mich dem Befehl meines Königs nicht widersetzen und ich konnte dich nicht gehen lassen. Ich hatte doch gar keine Wahl.“

Lucthen war wie vor den Kopf gestoßen. All die Jahre hatte ihm sein Vater nichts gesagt, all die Jahre… „Warum?“, fragte er schließlich. Er konnte die Bitterkeit in seiner Stimme hören, doch er hatte nicht die Kraft sie zu unterdrücken. „Warum sollte Talos wollen, dass du einen Säugling in die Auen bringst?“

Lucthens Vater schwieg lange Zeit. „Er hatte seine Gründe, doch ich kann sie dir nicht nennen.“ Die Stimme des alten Mannes hatte einen stählernen Klang angenommen und Lucthen begriff dumpf, dass er von seinem Vater auf diese Frage keine Antwort erhalten würde.

„Ihren Namen, sag mir wenigstens ihren Namen.“

Wieder schwieg sein Vater lange Zeit und Lucthen dachte schon, er würde auch auf diese Frage keine Antwort erhalten. Doch dann hörte er ihn, den einen Namen, den zu hören er sein ganzes Leben gehofft hatte.

„Liisatiina.“

Die neue Baronin von Kornthal betrat Hand in Hand mit ihrer Nichte die große Halle der Burg. In den langen Tagen ihrer Abwesenheit hatte sich nichts verändert und doch spürte Crystal, dass alles anders war. Die Dienerschaft hatte sich in der Halle versammelt um sie zu begrüßen und Crystal blickte in die vertrauten Gesichter. Marthe, die Köchin, die sie kannte seit sie das Licht der Welt erblickt hatte, der Magus Horten, der Joys Lehrer war und der damals schon sie und Rhys unterrichtet hatte, die beiden Stalljungen, die sich so ähnlich sahen, dass Crystal sie ständig zu verwechseln pflegte und schließlich Prudence, das Mädchen, das als Amme für Joy angestellt worden war – sie alle schauten ihre Herrin erwartungsvoll an und obwohl Crystal gewusst hatte, dass dieser Moment kommen würde, hatte sie das Gefühl jetzt kein Wort über die Lippen zu bringen. Thorben stand nur ein paar Schritte hinter ihr. Er war in den letzten Tagen eine große Stütze gewesen; er hatte sich um ein Zimmer in einer Taverne für Joy und sie bemüht und veranlasst, dass die Leichen von Joys Eltern der Tradition gemäß den Flammen übergeben wurden, damit sie eingehen konnten in das Licht Lucis’. Crystal hatte sich beharrlich geweigert zur Burg zurückzukehren und ihre Stellung als Baronin anzutreten. Nur Thorbens Überredungskunst war es zu verdanken, dass sie schließlich begriff, dass die Angreifer dieser furchtbaren Nacht geflohen waren und nicht wiederkommen würden. Der Gedanke, an den Ort zurückzukehren, an dem ihre Liebsten gestorben waren, war Crystal unerträglich erschienen.

Es hatte Tage gedauert Joy zu erklären, was passiert war; dass ihre Mutter und ihr Vater nicht wiederkommen würden, dass sie jetzt bei Lucis waren – bei Sonne, Mond und Sternen und allem was licht und gut war. Joy weinte bis sie keine Tränen mehr hatte und verkündete, dass sie ihre Eltern viel dringender brauchte als Lucis. Crystal konnte ihr die Blasphemie nicht verdenken. Der Tod war für sie nicht zu verstehen, wie konnte sie da erwarten, dass ihn ein Kind verstand. Crystal spürte den sanften Druck von Joys Hand und erinnerte sich daran, dass alle versammelt standen und darauf warteten, dass sie sprach. „Ihr habt euch während meiner Abwesenheit gut um die Burg gekümmert und dafür danke ich euch. Wir alle haben einen schweren Verlust erlitten, doch wir müssen weitermachen so gut wir eben können.“ Crystal merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und sie verfluchte sich im Stillen. Es war wirklich ihre Aufgabe, mit gutem Beispiel voranzugehen. Also nahm sie sich zusammen und richtete ihren Blick auf die Versammelten. „Ich würde mir wünschen, dass das Lachen und das Glück bald wieder auf der Burg Einzug halten und bin mir sicher, dass ich mit eurer Unterstützung rechnen kann.“ Marthe nickte entschlossen und die Übrigen stimmten ihr zu. Das erste echte Lächeln seit dem Tod ihres Bruders und dessen Frau stahl sich auf Crystals Lippen. Sie war wieder zu Hause.

Thorben führte sie zum Kopfende der Tafel und nahm neben ihr Platz. Wie üblich kletterte Joy auf ihren Schoß und versteckte ihren Kopf an Crystals Hals. Seit jener Nacht war sie furchtbar schüchtern geworden. An Crystals rechter Seite nahm Prudence Platz. Sie war nur ein paar Jahre älter als Crystal und war in die Dienste der Trenmains getreten, nachdem ihr eigenes Kind tot zu Welt gekommen war und Lady Lucias Milch nicht fließen wollte. Joy war inzwischen eigentlich zu alt für eine Amme, doch Prudence gehörte mittlerweile zur Familie und es wäre niemandem eingefallen sie wegzuschicken.

„Joy“, flüsterte die junge Frau ihrem Zögling leise zu und Crystal konnte sehen, wie sich ihr Gesicht schmerzlich verzog, als diese sich weigerte eine Reaktion zu zeigen. Kurz fühlte sie sich versucht das Kind einfach zu nehmen und in die Arme ihrer Amme zu setzen, doch die Kleine brauchte wohl Zeit. „Ich habe gut auf deine Puppen Acht gegeben, während du weg warst“, erklärte sie dem Hinterkopf des Mädchens.

Schließlich hob sich der dunkle Schopf und Joy sah ihre Amme interessiert an. „Ist Annabell noch krank?“, erkundigte sie sich so ernsthaft, als würde sie sich nach dem Wohlergehen eines echten Menschen erkundigen.

„Es geht ihr bereits viel besser“, versicherte Prudence ebenso ernsthaft.

Joy nickte, dann rutschte sie von Crystals Schoß. „Ich würde sie gerne sehen. Kommst du mit?“, fragte sie an ihre Amme gewandt. Prudence nickte glücklich und Hand in Hand verließen die Beiden die Halle. Crystal sah ihnen nachdenklich hinterher. In den letzten Tagen waren das Mädchen und sie keinen Augenblick getrennt gewesen und Crystal ahnte, dass sie die Schrecken jener Nacht ohne die kleine Joy nicht so gut überstanden hätte. Dadurch dass sie für jemanden verantwortlich war, der sich ganz und gar auf sie verließ, hatte sie ihren eigenen Schmerz unterdrücken müssen und hatte weitergemacht.

„Es tut mir so leid, Crystal.“ Thorben sah sie ernsthaft an. Tiefer Kummer sprach aus seiner Stimme. Crystal nickte. Es war ja nicht seine Schuld, dass er zu spät gekommen war, doch er konnte sich einfach nicht verzeihen. Seit jener Nacht schienen ihn Schuldgefühle zu plagen. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie leicht; dann wandte sie sich ab und ihre Blicke suchten den Magus Horten.

Sie winkte ihn zu sich und wartete bis er Platz genommen hatte. „Wie geht es Euch, Magus?“

Horten seufzte und strich sich mit müden Fingern über die graue Robe, die ihm bis auf die Knöchel fiel. „Die Knochen machen mir wieder zu schaffen. Nun ja, wir werden alle nicht jünger, mein Kind.“ Crystal unterdrückte ein Schmunzeln. Magus Horten hatte sich schon über seine Knochen beschwert, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und er würde wohl nie damit aufhören, sie als Kind zu bezeichnen. Vielleicht fühlt er sich dadurch jünger. „Ich wollte nicht gleich bei deiner Ankunft damit herausplatzen, doch vor ein paar Tagen ist ein Talosreiter zur Burg gekommen. Wir haben ihm ein Zimmer gerichtet, denn er wollte auf dich warten“, erzählte der alte Mann.

Crystal war nicht sonderlich überrascht. Vermutlich hatte der König gehört, was hier passiert war und der Talosreiter sollte ihr, der neuen Herrin Kornthals, nun die Wünsche seines Herrn übermitteln. „Schickt ihn zu mir“, nickte sie. Einen Talosreiter ließ man besser nicht warten.

Kurze Zeit später betrat ein Mann die Halle, dessen wehender roter Umhang ihn für jedermann deutlich als den auswies, der er war: ein Bote seines Herrn. Er verneigte sich knapp vor Crystal, die ihrerseits aufgestanden war um den Mann zu begrüßen. „Möge das Licht Eure Wege erleuchten“, richtete sie den gebräuchlichen mittelländischen Gruß an ihn.

„Mögen die Lichten ihre schützende Hand über Euch halten. Ich möchte Euch mein Beileid aussprechen, Lady Crystal.“

Crystal nickte kurz. „Ich danke Euch.“

„Es tut mir leid, wenn ich für neue Unruhe sorgen muss, doch mein Herr befiehlt Euch in den Palast.“ Trotz der höflichen Worte klang der Tonfall des Reiters nicht gerade freundlich, sondern eher streng, fand Crystal; als würden sie eine stumme Warnung enthalten, dass es nicht ratsam wäre gegen den Willen des Königs zu handeln.

Crystal nickte und ignorierte Thorben, der hinter ihr nach Luft schnappte. Seine Reaktion bestätigte ihr, was sie selbst geahnt hatte: dass es ganz und gar ungewöhnlich war, dass irgendjemand in den Palast gebeten wurde. „Wann…“, begann sie und stockte dann. Der Gedanke die Burg schon wieder zu verlassen, war tatsächlich unangenehm, vor allem da sie dieses Mal Joy nicht würde mitnehmen können.

„So bald als möglich“, erwiderte der Talosreiter, der ihre Zweifel nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte.

„Dann werde ich packen und mich von meiner Nichte verabschieden“, seufzte Crystal. Es hatte keinen Sinn das Unvermeidliche hinauszuzögern.

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