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GESUNDHEITSSPANNE STATT LEBENSDAUER

Betrachten wir die Geschichte des Lebens eines Menschen, nicht die seines Sterbens. Setzt man sich als Wissenschaftler mit diesem Leben auseinander, hat die Forschung so viel mehr Sinn.

Es geht nicht mehr darum, wie alt ich werde.

Es geht darum: Wie werde ich alt?

Wie lebe ich?

Es ist nicht der Endpunkt, den die Wissenschaft messen will. Es sind die Zwischenstationen. Einer, der es schafft, Forschung in diesem Sinne zu betreiben, ist Professor Frank Madeo, der mich viele Jahre betreut und begleitet hat. Anfang des Jahrtausends hat er als Biochemiker Aufsehen erregt, als er den programmierten Zelltod in einfachen Organismen wie Bierhefe entdeckte. Er war der Erste, der gezeigt hat, dass auch einzellige Organismen in der Lage sind, sich zum Sterben zu entschließen. Alle haben ihn ausgelacht. Warum sollte eine Zelle beschließen, jetzt sterbe ich?

Wie sollte das gehen?

Und wo wäre da der Sinn?

Madeo zeigte, wo der Sinn lag: Auch Zellen können Altruisten sein. Auch ein einzelliger Organismus wie Hefe ist in der Lage, sein eigenes Leben für das Leben seiner Tochterzellen aufzugeben. Unglaublich. Vorher war die gängige Meinung, dass es kaum größere Egoisten gibt, als unsere winzigsten Bestandteile. Die Biologie ist vom Standpunkt der Evolution betrachtet ein einziger Krieg zwischen den Genen. Es gibt ein ganzes Buch darüber, wie egoistisch Gene sind. »Das egoistische Gen« ist der Titel. Darin wird die Selbstsucht der DNA beschrieben, und dass den Genen völlig egal ist, was mit dem Rest des Organismus wird. Sie schauen ausschließlich auf sich selbst. Und dann entdeckt ein italienisch-deutscher Biochemiker in Graz, dass Zellen sich für andere aufopfern.

Einer meiner Kollegen beginnt seine Vorträge über unsere Arbeit immer mit einer Geschichte: »Ich habe eine gute Nachricht für Sie«, sagt er, »bevor Sie heute schlafen gehen, werden Milliarden Ihrer Zellen sterben. Diese Zellen sterben, damit andere leben können. So bleiben wir gesund.«

Besser lässt sich der Geist hinter unserer Arbeit nicht ausdrücken. Es geht nicht um das Negative in der Forschung, es geht um das Positive. Wir sind Diener der Gesellschaft. Wir forschen nach dem, was den Menschen nützt.

Nach dem programmierten Zelltod fragte sich Madeo: Wenn Zellen so zu sterben imstande sind, wie leben sie dann? Mitten in dieser Thematik bin ich dazugestoßen.

Ich war sehr an der Krebsbiologie interessiert, mit der sich einer seiner Mitarbeiter in Zusammenhang mit dem Stoffwechselthema auseinandersetzte. Aus dem Projekt ist letztlich nichts geworden. Wie eine Zelle hat es beschlossen zu sterben.

Ich wurde Teil des Teams, gerade als wir das taten, was in der Wissenschaft sehr unüblich ist. Madeo hat die Arbeit am Zellsterben nicht als abgeschlossen betrachtet und sich einer anderen Substanz zugewandt. Er wollte wissen: Wie funktioniert dieser Zelltod und was können wir damit machen?

Unüblich ist das deshalb, weil Wissenschaftler sich gerne auf dem Gebiet, das sie beherrschen, spezialisieren. In unserem Fall wäre das die Screening-Methode gewesen, im Zelltodmessen war Madeo der Experte. Er hätte das Verhalten immer neuer Substanzen untersuchen und seine Erkenntnisse veröffentlichen können. Fertig, die nächste Substanz bitte. Aber er dachte vollkommen anders, und diese Auffassung, wie man Wissenschaft auch betreiben könnte, brachte er seinem Team bei: Wenn eine Fragestellung beantwortet wird, untersucht weiter, was dahintersteckt. Geht in die Tiefe.

Daraufhin begannen wir zu testen, welche Naturstoffe in der Lage sind, das Leben der Zellen zu verlängern. Wir haben zehntausend Substanzen auf die Zellen draufgeschmissen, wie das im Labor so heißt, und beobachtet, was sich tut. Wann sterben die Zellen, wann sterben sie nicht?

Eine dieser zehntausend Substanzen war Spermidin, ein körpereigener Stoff, der nicht nur, aber am geballtesten in der Samenflüssigkeit vorkommt. Dabei fiel auf, dass ein Stamm unserer Versuchsreihe mit relativ wenig Spermidin schnell alterte, während die Zellen mit reichlich Spermidin länger lebten. Die Bestätigung fand man in der Fruchtfliege und im Wurm.

Spermidin war der Knaller unter allen Substanzen.

Das Paper darüber wurde 2009 in der Fachzeitschrift Nature Cell Biology publiziert und ging um die Welt. Das war der Zeitpunkt, wo Graz sichtbar wurde. Innerhalb kürzester Zeit haben Blätter wie The Guardian oder das Time Magazine die Nachricht aufgegriffen. Selbst die Metro-Zeitung in New York hat berichtet. Von Japan bis in die USA war die Meldung eine Story wert. Graz wurde zu einem Mekka für die Spermidin- und Langlebigkeitsforschung. Diese zwei Themen werden uns durch dieses Buch begleiten.

Den Tod verzögern, das ist unsere tägliche Arbeit. Aber sie nützt den Menschen nur, wenn wir die Qualität des Lebens verändern. Healthspan statt Lifespan.

Die Lebensspanne bringt gar nichts, wenn sie nicht in Gesundheit gelebt werden kann. Wir spielen nicht Schach mit dem Tod wie der Ritter bei Ingmar Bergman.

Der Film des schwedischen Regisseurs heißt »Das siebente Siegel« und hat mich immer beeindruckt. Der Ritter reitet von einem Kreuzzug zurück und begegnet dem Tod, der ihm eröffnet, dass er demnächst sterben muss. Der Ritter überredet den Tod zu einem Schachspiel und dem Deal, dass er leben darf, solange der Tod ihn nicht schachmatt setzt. Und dann spielen sie, sie spielen den gesamten Film hindurch.

Ich fühle mich mit diesen Szenen sehr verbunden, weil sie genau das sind, was wir tun. Der Ritter weiß genau, dass er irgendwann sterben wird, die Frage ist nur, wann.

Wann kommt der entscheidende Zug?

Wann ist das Spiel aus?

Der Ritter versucht, die Strategien zu verstehen, um das Endergebnis vermeiden zu können. Genau dadurch erfährt er viel mehr über sich selbst, über das Spiel, über sein Leben. Gegen Ende des Spiels ist nicht mehr die Frage, wann er stirbt und warum, sondern nur noch, wie das Spiel war.

Toller Film, schwarz-weiß, sehr hypnotisch, endlose Dialoge, die oft im Schweigen enden. Man sollte sich den Film nicht anschauen, wenn man müde ist. Lange Zeit hört man nur den Wind. Bergman hat damit, wie er einmal in einem Interview sagte, seine Todesangst überwunden. Altersforschung auf Schwedisch sozusagen.

Aus welcher Richtung man sich der Altersforschung auch immer nähert, eines ist sie mit Sicherheit: eine Investition in die Zukunft. Eingeschränkte Mobilität, Muskelabbau, beschädigte Gelenke, Osteoporose, schwacher Herzmuskel, Kreislaufprobleme, Bluthochdruck, Krebs, Demenz, Diabetes, Störung der Entgiftung der Organe. Jede einzelne dieser Alterserscheinungen ist ein guter Grund, Altersforschung zu betreiben.

Insbesondere, wenn dabei etwas entdeckt wird, das den Anschein erweckt, viele dieser Leiden gar nicht erst aufkommen zu lassen. Fasten ist so eine Entdeckung. Früher haben uns die Lebensumstände dazu gezwungen. Heute müssen wir es uns wieder neu beibringen.

Lebensverlängerung auf ganz natürlichem Weg.

Das Zauberwort dabei heißt Autophagie. Ein Prozess, bei dem sich die Zellen selbst aufräumen und den Müll abtransportieren, zerhäckseln oder etwas Neues daraus machen. Dieses körpereigene Zellrecycling hält jung.

In der Übersetzung für den Anti-Aging-Markt heißt jung vor allem: schön auszusehen. Anti-Aging befasst sich damit im rein ästhetischen Sinn. Außen, nicht innen. In der Wissenschaft bedeutet jung etwas ganz anderes, nämlich die Funktion des Körpers zu erhalten. Innen, nicht außen.

Der Mensch will beides. Er will so lange wie möglich jung und so lange wie möglich gesund bleiben. Der Weg dorthin ist möglicherweise einfacher, als man glaubt. Die Forschung zeigt, dass Fasten die Autophagie einschaltet, die die Zellen in unserem Körper permanent von Müll befreit und das Leben dieser Zellen verlängert.

Das war die lange Antwort auf die Frage, wozu die Altersforschung gut ist. Die kurze kam im Frühling 2017 aus einem Labor in Peking:

In einem Versuch initiierten Forscher bei Mäusen Leukämie. Bevor sich die Krankheit entwickeln konnte, ließen sie eine Gruppe der Tiere fasten und die andere nicht. Das Ergebnis war, dass die Leukämie bei den fastenden Mäusen wenig Auswirkung auf die Lebensdauer hatte. Sie schienen den Krebs gut im Griff zu haben. Die Mäuse, die nicht gefastet haben, entwickelten große Tumore und starben viel früher.

VIEL LÄRM UM EIN NICHTS

Das Beste, was der Mensch für sich tun kann, ist: nichts.

Verrückt, nicht?

Ich tue nichts, und alles wird besser.

Natürlich bezieht sich dieses Nichts nur aufs Essen und gilt bloß tageweise. Das Alles hingegen ist nicht allzu übertrieben. Fasten beeinflusst Körper, Geist, Wohlbefinden, Gesundheit und Lebensdauer wie kaum etwas anderes. Wenn wir uns überlegen, welchen Aufwand wir sonst treiben, um so eine Breitenwirkung zu erzielen, ist Fasten ein stattliches Phänomen.

Dass es dabei nur aus einem Unterlassen besteht, fasziniert mich als Privatmensch Slaven. Als Molekularbiologe Stekovic fesselt es mich bis in die letzten Winkel unserer Zellen.

Einige Fasten-Effekte kennen wir aus Erfahrung, andere sind erforscht. Manches ist bewiesen, etliches wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit angenommen.

Dass es den Organismus generell sehr positiv beeinflusst, ist seit Hippokrates keine Neuigkeit. Er sagte es ungefähr so: Sei mäßig in allem, atme reine Luft, treibe täglich Hautpflege und Körperübungen und heile ein kleines Weh eher durch Fasten als durch Arznei. Er lag ziemlich richtig, der gute alte Vater der Medizin.

Fasten kann zum Beispiel chronische Krankheiten wie Rheuma oder Arthritis und Stoffwechselstörungen wie Diabetes lindern. Es ist eine Möglichkeit, Gewicht zu regulieren und ohne große Schwankungen zu halten. Es hebt die Stimmung. Es verjüngt den Körper und den Geist. Und es verlängert das Leben allein schon dadurch, dass es so viel Lebensverkürzendes gar nicht erst zum Zug kommen lässt.

Weil man nicht Wasser predigen und selber Wein trinken kann, sage ich das nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Versuchsperson. So oder so habe ich ein Drittel meines Lebens mit dem Fasten verbracht. Mitunter lebte ich in einer futterlosen Einöde. Einem ernährungstechnischen Funkloch.

Mitten im Fressparadies der Überflussgesellschaft war ich immer wieder umhüllt von diesem segenbringenden Nichts. Es ist, als hätte ich mich im blinden Fleck des Schlaraffenlandes einquartiert. Draußen schlugen sich die anderen den Bauch voll, im Labor hörte ich zuzeiten weder Kauen noch Schmatzen. Schon gar nicht mein eigenes. Rund um mich herrschte Fastenzeit. Allerdings nicht ausgerufen von der Kirche, sondern von der Wissenschaft.

In den wildesten Forscherjahren befand ich mich im Ganzkörpereinsatz im Dienste der Wissenschaft. Während ich versuchte, meinen Blutdruck auszuhungern, waren meine Arbeitstage damit ausgefüllt, die Biochemie mit Erkenntnissen übers Fasten zu füttern. Wir hatten eine groß angelegte Fasten-Studie am Institut laufen. Professor Frank Madeo und Professor Thomas Pieber waren Initiatoren und Leiter der Studie, ich war tief in die Organisation und Durchführung des Projektes verstrickt. Ganz profan ausgedrückt, ging es in meinem Leben damals um nichts anderes als darum, nicht zu essen.

Natürlich ist das eine völlig unwissenschaftliche Übertreibung. Der Mensch braucht Energie, der Mensch muss essen. Und das ist nur die ganz geschmacklose Kurzformel, immerhin gibt es ja auch noch so etwas wie den Genuss.

Der Mensch muss nur nicht so viel essen, wie er glaubt, und vor allem nicht pausenlos.

Im Sinne der Wissenschaft wurde jeden zweiten Tag gehungert. Man nennt es intermittierendes Fasten, Intervall-Fasten, Kurzfasten, alternierendes Tagesfasten oder die Heute-nichts-morgen-alles-Diät. Gemeint ist damit immer dasselbe:

Einen Tag wird nicht gegessen.

Am nächsten wird gegessen, und zwar alles.

Dann wird wieder einen Tag nichts gegessen.

Am nächsten wieder alles.

Und so weiter.

In der Öffentlichkeit hat sich die Methode über die Gemeinschaft rund um den Kabarettisten Bernhard Ludwig herumgesprochen, die sie großteils zum Abnehmen als Diät betreibt. In Wahrheit ist das Prinzip uralt.

Fasten ist ein Erbe aus der Steinzeit, als das Essen noch vier Beine hatte und sich zierte, auf den Speiseplan zu hüpfen. Außerdem kam so ein Wildschwein nicht alle halben Stunden vorbei, mitunter ließ sich wochenlang nichts Essbares blicken. Lief den Jägern ein Hase vor den Knüppel, gab es einen Appetithappen, schleppten sie einen Bären heim in die Höhle, brachen Schlemmerwochen an. Dazwischen blieb den Menschen gar nichts anderes übrig, als zu fasten.

In diesem Modus befinden wir uns heute noch.

Ich werde immer wieder gefragt, wieso wir Menschen uns nicht längst an unsere sitzenden Berufe und das ständig vorhandene Futter gewöhnt haben, warum der Stoffwechsel unseren geänderten Lebenssituationen hinterherhinkt, und wie lange die Verdauung die neuen Zeiten noch verschlafen will.

»Naja«, antworte ich, »evolutionär gesehen sind diese Veränderungen erst ein paar Stunden her.«

»Ja schon«, heißt es dann, »aber es ist trotzdem 5000 Jahre her, dass wir aus der Steinzeit heraus sind. Seit 9000 Jahren ist der Mensch sesshaft, hat Getreide angebaut, Vieh gezüchtet, seine Ernährung umgestellt. Er ist vom Nomaden zum Bauern geworden und hat sich vom Keulen schwingenden Kraftlackel zum Schreibtischtäter entwickelt, den die Technologie in einen Homo technologicus verwandelt.«

»Stimmt«, sage ich, »bloß, dass diese 5000 Jahre 100 000 Jahren gegenüberstehen, in denen der Mensch sein Essen nicht in einem Supermarktwagen zur Kassa fuhr. Es kommt nicht darauf an, die Jahre zu zählen, sondern darauf, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Eins zu zwanzig in diesem Fall. So gesehen können wir uns noch auf eine ganze Weile Urmensch-Stoffwechsel einrichten.«

Die Geschichte erscheint dann ganz logisch. Es wirkt absurd, dass uns Ernährungsexperten zu fünf, schön über den Tag verteilten Mahlzeiten raten. Erklärt wird uns das mit der Gier. Indem wir unaufhaltsam nachschieben, soll der Heißhunger keine Chance kriegen und wir zwischendurch weniger versucht sein zu naschen.

Die Rechnung geht für mich nicht auf. Selbst Zwischenmahlzeiten wie Obst oder ein Joghurt sind in einem so überladenen Essensplan nichts anderes als Naschen, wenn auch einen Hauch gesünder als irgendwas aus der Imbissbude.

Abgesehen davon, dass ständiges Essen den Insulinspiegel hochhält, dadurch unsere Zuckervorräte im Körper aufgebraucht werden und der Hunger überhaupt erst wieder ausgelöst wird, ist es, als würde eine endlose Reihe Beutetiere an uns vorbeitraben, jedes den Schwanz des Vordermannes im Maul. Steinzeit-Essen auf dem Fließband, wie heute das Sushi beim Japaner. Die Parade würde nie abreißen, und wir könnten uns herauspicken, worauf wir Gusto haben. Hunger könnte man das mit Sicherheit nicht nennen. Der kommt nur auf, wenn zwischendurch einmal Pause ist. Und auf einmal ist es gar nicht mehr so verrückt, das Fasten.

Was mich angeht, war es meine erste Fastenzeit, nicht aber mein erster Selbstversuch. Ich habe verschiedene Ernährungsregime ausprobiert, davor aber eher in Bezug auf bestimmte Aminosäuren, die auch in meiner wissenschaftlichen Karriere eine Rolle spielten. Ich wollte der Chemie, von der wir umgeben sind, nicht nur theoretisch, sondern auch persönlich auf die Schliche kommen. Wobei ich gar nicht an große Industrien, synthetische Herstellung oder die Riege an Genussverstärkern, Farbstoffen oder E-Nummern denke. Chemie ist in jedem Apfel, jeder Wurst, in jedem Glas Wasser. Das ist die ganz natürliche Chemie. Die, aus der das Leben ist.

Die Biochemie ist die Schnittstelle zwischen Biologie und Chemie. Sie beschäftigt sich damit, wie die Chemie im biologischen Sinn funktioniert, und was sich in weiterer Folge auch auf die Medizin übertragen lässt. Vor allem experimentiere ich deshalb mit unterschiedlichen Lebensstilen, weil ich überzeugt bin, dass wir unseren Körper sehr gut steuern können, wenn wir bewusst leben.

Für die meisten Menschen, die noch keine Erfahrung mit dem Fasten haben, ist diese Art des bewussten Lebens vorerst aber völlig unvorstellbar. Um nicht zu sagen: ein Horror.

Sie sehen sich unterzuckert auf wackeligen Beinen durch den Tag staksen, mit zitternden Händen alle paar Minuten ein Glas Wasser trinken, von dem sie die Hälfte verschütten, und gegen Abend vor lauter Schwäche auf alle Viere sinken, um irgendwann ins Bett zu kriechen. Sie sind überzeugt, spätestens am frühen Nachmittag das Handy nicht mehr am Ohr halten zu können und zum Feierabend hin nicht mehr erfassen zu können, was in einer dreizeiligen SMS steht. Sie sind sicher, dass sich zu Mittag die ersten leichten Entzugsaggressionen bemerkbar machen, die dann in dem Maß anschwellen, in dem sie die Kraft verlässt, den Zorn auch herauslassen zu können. Das Einzige, was am Ende des Tages noch knurrt, ist ihr Magen.

Schließlich münden derartige Hungervisionen immer in dieselbe Frage:

Wie lässt sich das denn durchhalten?

Die Antwort ist recht pragmatisch: mit Arbeit und Kaffee. Arbeit ist die beste Ablenkung vom Hunger. Den man zwar gar nicht hat, aber das glaubt einem anfangs niemand. Und Kaffee, allerdings ohne Milch und Zucker, unterstützt das Fasten. Das Phänomen kennt jeder, der morgens keine Zeit fürs Frühstück hatte, und erst am Nachmittag draufkommt, dass er auch das Mittagessen hat ausfallen lassen.

In Wahrheit ist es noch viel einfacher. Das wirklich Essenzielle am Fasten ist: gar nicht erst mit dem Essen anzufangen.

Denn kaum erhält der Körper auch nur das kleinste bisschen Zucker, will er mehr. Jede Kalorie, die in den Organismus gelangt, jagt ein einziges Signal durch ihn durch: Leute, gleich gibt’s mehr! Das ist gleichzeitig der Weckruf für den Hunger, der den Rest des Tages dann keine Ruhe mehr gibt.

Vermutlich habe ich damit die letzten Hoffnungen zerstört. Ich sehe das oft in den Gesichtern von Menschen, für die schon eine klare Suppe am Tag nichts ist. Nimmt man ihnen die auch weg, ist es noch schwieriger, Gabel und Messer für einen Tag aus der Hand zu legen. Das nächste Stadium ist: den Löffel abzugeben.

Für alle, die Schummeln im Hinterkopf haben, ist Fasten tatsächlich zu anstrengend. Denn dann bedeutet es: Dafür, dass ich kein Essen bekomme, muss ich mich auch noch unglaublich plagen.

Um es gleich einmal gerade heraus zu sagen: Ganz mit links geht es nicht, das Fasten. Ein bisschen Disziplin braucht man immer. Aber es ist weit einfacher, als mit dem Rauchen aufzuhören. Immerhin darf man am nächsten Tag wieder essen.

Die nächste bange Frage ist: Von wann bis wann muss man fasten?

Darüber gibt es wilde Diskussionen unter Wissenschaftlern. Die einen sagen, man soll morgens wie ein Kaiser, mittags wie ein König und abends wie ein Bettelmann essen. In dem Fall ist das Prinzip des Tagesfastens völlig klar: alle drei Mahlzeiten auslassen.

Die anderen sind wieder der Meinung, man könnte auch erst gegen Abend mit dem Essen beginnen und seine Kalorien in einer Sitzung verfuttern. Das wirkt, als wäre es schon das halbe Fasten. Da könnte es sich doch auch ausgehen, 24 Stunden zu fasten. Da gibt es dann keine Fasttage, sondern eher ein tägliches Ritual, dessen Sinn bisher allerdings nicht so genau untersucht wurde.

Ob das dem Rhythmus der Natur entspricht, ist aber die wichtigere Frage. Dieser Rhythmus hat mit den drei Hauptsignalen zu tun, die den Körper von außen steuern: hell und dunkel, kalt und warm, fasten und fressen.

Damit sind Mensch und Tier mit der Natur verbunden. Das sind die drei Stimuli, die uns von außen kontrollieren. Lange Zeit haben wir sie völlig unabhängig voneinander betrachtet. Aber das sind sie nicht. Sie haben eine Schnittmenge: eine Gruppe von Genen, unter anderen auch die sogenannten CLOCK-Gene. Nach ihnen tickt die innere Uhr im Menschen, die mit den Hell-Dunkel-Phasen auf der Erde synchronisiert ist.

Licht ist das Signal, das uns die Orientierung von außen liefert. Aus dem Tag-Nacht-Rhythmus, dessen Erforschung durch Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young übrigens den Nobelpreis 2017 für Medizin wert war, erkannte der Mensch, wann er jagen sollte. Nämlich vorzugsweise dann, wenn sich Beute herumtrieb, die er sehen konnte und er selber einigermaßen sicher war. Was den Tag eindeutig favorisierte. Insbesondere in der Früh war der Pirschgang eine sichere Bank. Die meisten Tiere saßen am Wasser und waren einigermaßen mit sich selbst beschäftigt. So leichtes Spiel hatte der Mensch den ganzen Tag über nicht mehr.

Licht und Dunkel haben also direkt mit dem zweiten Signal, Fasten oder Fressen, zu tun.

Nachtaktive Tiere schlafen nur deshalb tagsüber, weil sie in ihrem Lebensraum Futter eher im Dunkeln finden und dann außerdem auch selber seltener gefressen werden. Sie haben sich angepasst und umgestellt.

Menschliche Nachteulen haben sich auf ähnliche Art angepasst. In ihrem Fall ist es eine kulturell bedingte Umstellung. Eine Prägung durch die Eltern. Eine Notwendigkeit aus Jobgründen. Eine bloße Angewohnheit. Unsere Gesellschaft lässt es zu, nachtaktiv zu sein. Vor allem deshalb, weil es Nahrung rund um die Uhr gibt.

Von der Evolution her gesehen ist Nahrung der erste Kontakt zwischen Lebewesen und Umgebung. Aus ihm haben sich die Arbeitszeiten der Organe zu gewissen Tageszeiten ergeben. Dafür ist eine Gruppe von Genen zuständig, die nichts mit dem Schlafrhythmus und der inneren Uhr zu tun haben, sondern mit dem Stoffwechsel verbunden sind. Und dann gibt es auch noch einen gewissen Einfluss, der mit der hormonellen Steuerung zu tun hat.

Es ist also nicht egal, ob untertags oder in der Nacht gefastet wird. Der circadiane Rhythmus, was so viel bedeutet wie: rund um den Tag, unterstützt das Fasten einfach besser.

Selbst das dritte Außensignal, die Temperatur, trägt seinen Teil dazu bei. Um reibungslos zu funktionieren, braucht der Körper stabile 37 Grad. Damit laufen seine großen Motoren Herz und Hirn samt den anderen Organen störungsfrei. Damit können die Moleküle auf zellulärer Ebene am besten arbeiten. Enzyme funktionieren nur bei einer gewissen Temperatur und in einem gewissen Milieu, auch Blut und sonstige Flüssigkeiten im Körper haben es gern so warm.

Denken wir das Ganze noch ein bisschen weiter.

Ist es draußen warm oder kalt, brauche ich zusätzliche Energie, um meine Körpertemperatur zu erhalten oder den Körper zu kühlen. Unser autonomes Nervensystem schafft das alles, ohne dass wir es überhaupt merken. Es arbeitet unabhängig von unserem Willen.

Die Entscheidung, muss ich den Körper aufwärmen oder kühlen, findet dagegen im zentralen Nervensystem im Gehirn statt. Von dort wird der Befehl samt To-do-Liste in den Rest des Körpers weitergeleitet.

Braucht der Körper mehr Wärme, passiert genau dasselbe, was auch beim Fasten passiert. Es wird Fett abgebaut und in chemische Energie umgewandelt. Indem die Moleküle zerstückelt werden, entsteht Energie in Form von chemischen Verbindungen, die entweder für die Funktion der Zellen oder für die Herstellung der thermischen Energie, also Wärme, verwendet werden.

Dieser Prozess findet im braunen Fettgewebe statt. Ja, das gibt es auch im Körper, in der Gegend unter dem Schlüsselbein rund um das obere Brustbein.

Der Unterschied zwischen dem weißen und braunen Fett ist die Anzahl der Mitochondrien. Diese Organellen in unseren Zellen sind hauptsächlich für die Energieproduktion verantwortlich, sind aber auch die Schnittstelle für den Stoffwechsel der Zelle. In diesen winzigen Kraftwerken der Zelle wird ständig etwas auf- oder abgebaut. Sei es Fett, seien es Proteine, Aminosäuren oder Zucker.

Die Mitochondrien sind ausgesprochen interessante Bestandteilchen unserer Zellen. Ihr Aufbau ist einzigartig, vor allem haben sie etwas, das keine einzige andere Organelle in unserem Organismus hat: Ein Mitochondrium hat eine eigene DNA. Alle anderen Organellen werden durch DNA im Zellkern, dem sogenannten Kontrollraum der Zelle, gesteuert. Die Mitochondrien sind allerdings kleine Rebellen. Sie wollen unabhängig und autark sein. Ganz so frei von dem Zellkern sind sie trotzdem nicht, denn ein gutes Zusammenleben funktioniert nur dann, wenn man Rücksicht aufeinander nimmt. Und genau das machen auch diese kleinen Wunder der Natur.

Warum sich die Mitochondrien zu solchen Extrawürsten entwickeln durften, ist noch ein bisschen umstritten. Der größte Teil der Wissenschaftler kann sich aber für die Erklärung erwärmen, dass die Mitochondrien, evolutionär betrachtet, Parasiten in unseren Zellen waren. Unter dem Elektronenmikroskop erkennt man deutlich, wie groß die Unterschiede zu einer menschlichen Zelle sind, und wie sehr sie bakteriellen Zellen ähneln. Ihre DNA hat die klassische Form der Doppelhelix, aber von den Informationen, die sie enthalten, und vor allem wie sie abgelesen werden, ist ein Mitochondrium ein Bakterium.

Die Vermutung ist, dass sich irgendwann in der Evolution ein Bakterium in unsere Zelle verirrt hat und dadurch ein Synergismus entstanden ist. Das Bakterium hat seinerseits das aufgegeben, was in der Zelle schon vorhanden war, nämlich Bausteine zum Leben zu liefern. Das ist auch der Grund, warum es allein nicht mehr überlebensfähig gewesen ist. Die Zelle hat ihrerseits profitiert, indem sie einen Zugang zu einer sehr effizienten Energieproduktion bekam.

Solches Tauschen ist in der Natur nicht ganz selten. In Zusammenarbeit von zwei Organismen entstand mitunter plötzlich etwas ganz Neues. Man schaut sich etwas voneinander ab, und jeder hat seinen Nutzen daraus.

Die Mitochondrien sind weit effizienter und liefern viel größere Energiemengen als die Zelle es ohne sie schaffen würde. Der Nachteil dieser effizienten Energieherstellung ist die Fehleranfälligkeit. Wenn dabei etwas schiefläuft, läuft ordentlich was schief. Dann haben wir einen Super-GAU in unseren Kraftwerken. Die Katastrophe hat einen Namen, den wir vor allem aus der Kosmetik kennen. Wir haben es mit den freien Sauerstoff-Radikalen zu tun. Sie zerstören die Zelle aus dem Inneren heraus.

Und damit sind wir wieder beim Essen.

Die Polizeitruppen in den Zellen, die das bis zu einem gewissen Grad in Ordnung bringen können, sind die sogenannten Antioxidanzien. Vitamin C zum Beispiel kann die Rabauken abfangen und neutralisieren. Das geht auch ganz ohne Nahrungsergänzungsmittel, ein Apfel oder eine Orange bringen die Randalierer auch zur Räson.

Der kleine Ausflug in die Tiefen unserer Zellen zeigt, wie unglaublich verzahnt das System ist. Wie eines mit dem anderen zusammenhängt, und nichts unabhängig vom anderen betrachtet werden kann. Das ist in jeder Zelle so. Das gilt für Körper, Geist und Seele.

Machen wir eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit, zurück zu meiner Uroma Matusa und den anderen langlebigen Frauen in meiner Verwandtschaft.

Die Familie meiner Mutter kommt aus der Gegend von Split, nicht direkt vom Meer, wo die Landschaft heute scharenweise Touristen anzieht, sondern aus den kroatischen Bergen. Dort lebten die Menschen nicht vom Tourismus, dort lebten die Menschen von dem, was der Boden hergab. Und das ist nach wie vor denkbar wenig.

Dieses Kroatien in den Bergen ist ein Kontrast zu dem, was wir als moderne Menschen in Zentraleuropa kennen. Insbesondere, wie man dort mit dem Essen umgeht. Bemerkenswert fand ich immer, dass es ausgerechnet die Menschen in dieser Gegend, auf der zuweilen das Prädikat hinterwäldlerisch klebt, längst schon vormachten, worüber andere gerade zu reden begannen. In der Überflussgesellschaft war das Schlagwort der bewussten Ernährung aufgekommen. Die Leute in diesen Bergen praktizierten sie aber schon seit Jahrhunderten. Sie ernährten sich sozusagen unbewusst bewusst. Ich konnte beobachten, wie die Medien immer neue Namen für etwas erfanden, das sie seit Jahrhunderten einfach Leben nennen.

In manchen Dingen sind die Hinterwäldler dem Fortschritt voraus. Ich darf das so sagen, ich bin genetisch einer dieser Hinterwäldler. Und die Wissenschaft hat mich gelehrt, dass die traditionelle Art, in der sich meine Vorfahren ernährt haben, verdammt modern ist.

Das Stichwort heißt nicht nur bewusste Ernährung, vor allem heißt es: fasten.

Das unwirtliche Land machte nicht zwangsläufig Vegetarier aus seinen Bewohnern, aber Fleisch war eindeutig ein Sonntagsbraten. Wobei Braten auf eine falsche Fährte führen würde. Traditionell wurde das Fleisch, das tatsächlich nur sonntags auf den Tisch kam, gekocht und nicht gebraten. Es schwamm in viel Suppe mit viel Gemüse. Das Rundherum war das, was satt machte. Das Stückchen Fleisch, das für jeden abfiel, wäre ein bisschen einsam im Magen herumgelegen. Unter der Woche aßen sie großteils Teigwaren, auch das hauptsächlich mit Gemüse. Und zwischendurch wurde gefastet.

Wenn man in der Gegend unterwegs ist, sieht man in diesen Dörfern nach wie vor noch sehr viele alte Leute. Das sage ich jetzt nicht als Wissenschaftler, sondern als Spross einer der hiesigen Familien, als Besucher und Beobachter. Viele alte Menschen auf einem Fleck bilden schließlich keine Basis für eine gültige Erkenntnis, und es gibt einen ganzen Haufen Gründe dafür.

Zum Beispiel, dass die Jüngeren gern in die Stadt gezogen sind. Dass die Leute hier kein leichtes Leben haben und deswegen älter ausschauen, als sie sind. Dass ihnen die Sonne Furchen ins Gesicht gebrannt hat. Oder dass niemand wusste, wie alt sie wirklich waren, weil nicht immer gleich nach der Geburt Zeit war, sie als neue Gemeindemitglieder anzumelden, und mitunter Jahre verstrichen, bis sich so ein Amtsweg dann doch einmal ergab.

Sie sind ungenau, diese Beobachtungen, emotional und aus dem Bauch heraus, und doch untermauern auch sie das, was ich später in akribischer Forschung herausgefunden habe.

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