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Die Saat des Gemeindedualismus geht auf: das Beispiel Chur

In Chur wurde unter der Leitung von Amtsbürgermeister Johann Gamser gleich eine Verfassungskommission gebildet, die bis zum 13. Februar 1875 einen Verfassungsentwurf für die Stadt vorlegte. Die Kommission machte in ihrer Botschaft deutlich, dass «aber die Bürger nunmehr nur eine öffentliche Korporation bildend und unmittelbar unter der politischen Gemeinde stehend, in erster Linie der politischen Gemeinde als Aufsichtsbehörde für eine gute Besorgung dieser ihrer Angelegenheiten verantwortlich sind».178 Gamser, aus altem Churer Bürgergeschlecht stammend,179 hatte schon die Annahme des Niederlassungsgesetzes «im Sinne der Erhaltung der Einheit der Gemeinde»180 empfohlen. Am 7. März 1875 nahmen von rund 1200 stimmfähigen Churer Gemeindebürgern 408 die neue Stadtverfassung an, 285 verwarfen sie. Ein «klägliches Resultat», wie das Bündner Tagblatt nicht ohne Häme feststellte.181 Der liberale freie Rhätier sah die «Moral» dieser Versammlung darin, dass die liberalen Gemeindebürger und die Niedergelassenen «fest geschlossen und einig den Kern der neuen Gemeinde zu bilden haben».182

In Einklang mit dem Niederlassungsgesetz stellte die Stadtverfassung klar, der Ertrag des Gemeindevermögens «mit Ausnahme der bereits fest ausgeteilten Gemeindegüter [= die Bürgerlöser, S. B.]» sei «zunächst dazu bestimmt, die öffentlichen Bedürfnisse der Stadtgemeinde zu befriedigen».183 Weniger klar schien die Antwort auf die Frage zu sein, wem diese Gemeindegüter fortan gehören sollten oder wer sie in Zukunft verwaltete. Darüber sagte das Niederlassungsgesetz bekanntlich nichts. Insbesondere das Nutzungsvermögen, also Alpen, Weiden und Wälder, hatten einen ambivalenten Status, da sie gemäss Niederlassungsgesetz der politischen Gemeinde zugute kamen, aber nur von den Gemeindebürgern veräussert werden konnten. Die Übergangsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz schrieben lediglich vor, dass man «[b]eim Wechsel der Vorstände und der Gemeindsbehörden» einen «übersichtlichen Vermögensstatus» als Erstes den Gemeindebürgern und dann der Gesamtgemeinde unterbreite.184 Der alte Stadtrat stellte auf den 30. April 1875 ein Vermögensinventar auf, worin er das ganze Gemeindevermögen mit Ausnahme der fest ausgeteilten Bürgerlöser, des Armen- und Schulfonds und einiger kleinerer Fonds allesamt der ganzen Stadt Chur übertrug. Darunter waren sämtliche Churer Wiesen, Äcker, Baumgärten, Wälder und Alpen im Wert von über 1,2 Millionen Franken.185 Im Protokoll des zu diesem Zeitpunkt noch ausschliesslich aus Gemeindebürgern zusammengesetzten Stadtrats wurde diese Vermögensausscheidung lediglich mit der neuen Verwaltungskompetenz der politischen Gemeinde begründet. In der Diskussion im Stadtrat wurde bemerkt, man möge festhalten, «es geschehe diese Uebergabe nur im Sinne der Benutzung».186 Die Botschaft vom 30. April 1875 sprach denn auch explizit von Vermögensteilen, «welche der allgemeinen Stadtverwaltung zuzutheilen seien, immerhin unter Wahrung der den Bürgern noch zustehenden Eigenthums- und Nutzungsrechte».187 Damit nahm der Stadtrat eine pragmatische Haltung zur Vermögensfrage ein.

Einen Monat später behandelte die Bürgerversammlung das Vermögensinventar. Hier spielte die Vermögensfrage eine viel zentralere Rolle. Dr. Leonhard Hatz188 bemerkte lapidar, «es sei der Stadtrath, indem er Wälder und Alpen im Inventar I für die Einwohner-Stadtgemeinde aufführe, selbst nach dem kant. Niederlassungsgesetz zu weit gegangen».189 Gegen diesen Aspekt konnten zwei Stadträte, der linksbürgerliche Mathäus Risch190 und der hier bereits bekannte Kritiker des Bürgervereins Major Peter Jakob Bauer, nicht juristisch argumentieren. Sie konnten lediglich anführen, dass «es ferner von keinem praktischen Werthe sei, wenn die Bürgerschaft die Verwaltung über Wälder und Alpen behalte und dagegen doch, so lange Steuern erhoben werden, den Nutzen an die Einwohner-Stadtgemeinde abgeben müsste».191 Dieses pragmatische Argument vermochte nicht zu überzeugen: Von den 212 anwesenden Gemeindebürgern stimmten 144 gegen das Inventar.192 Gut drei Wochen später wurde ein Inventar angenommen, das unter anderem den von Ständerat Dr. Peter Conradin von Planta eingebrachten Zusatz erhielt, «es seien Alpen und Wälder in den Inventarien als Bürgergut zu bezeichnen». Darüber hinaus übe die Bürgergemeinde zwar nicht mehr die Verwaltung aus, habe aber trotzdem als Eigentümerin «die volle Berechtigung, die massgebenden Wirtschaftsordnungen für dessen Verwaltung festzustellen».193 Peter Conradin von Planta, der ehemalige Reformverein-Gründer, Churer Stadtschreiber, Stadtrat und Redaktor des Bündner Zivilgesetzbuchs von 1861 galt damals als ausgewiesener Jurist.194 Er begründete die Forderung juristisch knapp mit der Bundesverfassung und dem Niederlassungsgesetz.195 190 Gemeindebürger nahmen dieses neue Inventar an, nur zehn verwarfen es.196 Leonhard Hatz bemerkte nach Annahme des Vorschlags von Planta, dass man «nun doch Dualismus habe».197 Offenbar war die Vermögensabgrenzung konstitutiv für die Vorstellung einer Bürgergemeinde als autonomes Gebilde neben der politischen Gemeinde. Nur am Rande sei hier bemerkt, dass derselbe Peter Conradin von Planta, der Anfang der 1840er-Jahre als 27-jähriger Gründer des Reformvereins den «Korporationengeist» und das «Vereinzelungswesen» im Kanton Graubünden scharf kritisiert hatte, als 60-Jähriger einen wichtigen Beitrag zur Abgrenzung einer Bürgergemeinde von der neu entstandenen Stadt Chur als politischer Gemeinde geleistet hatte.

Es lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht feststellen, ob die Bürgergemeinde Chur auch ohne die erfolgte Vermögensabgrenzung institutionalisiert worden wäre. Die Aufstellung eigener Organe war unabhängig von der Vermögensfrage von den Übergangsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz vorgesehen. Die Churer Gemeindebürger jedenfalls konstituierten noch 1875 neben dem neuen Stadtrat einen Bürgerrat. 1876 baute die neu entstandene Bürgergemeinde im Rathaus eine eigene Verwaltung neben der Stadtverwaltung auf und beschäftigte als einzige Organisation der Gemeindebürger im Kanton einen Bürgerratsschreiber.198 Eine eigentliche Verfassung wurde nicht ausgearbeitet, dafür trat im Sommer 1875 das erste Verwaltungsreglement in Kraft.199 Die Korporation der Churer Gemeindebürger hatte sich so neben der neuen, vom Kanton überstülpten politischen Gemeinde eingerichtet. Dieser neuen Bürgergemeinde als Eigentümerin des Nutzungsvermögens verblieben nicht mehr als die ohnehin sehr beschränkten rechtlichen Kompetenzen von Artikel 16 des Niederlassungsgesetzes. Obschon die Institutionalisierungen und Vermögensausscheidungen zugunsten der Gemeindebürger keine zusätzlichen Rechte begründeten, die über das Niederlassungsgesetz hinausgingen, waren die modernen Bürgergemeinden, die in Chur ihren Anfang nahmen, trotzdem da und rekonstituierten das altrepublikanische Modell, das weiterhin mit allen sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen der Gemeindebürger eine sozial relevante Bedeutung perpetuierte.

Statt sie zu begrenzen, verstärkte das Niederlassungsgesetz somit die altrepublikanischen Tendenzen der Bündner Gemeinden, indem es Gemeindebürgern wie jenen Churs ermöglichte, eine Bürgergemeinde abzuspalten. Dank eines Niederlassungsgesetzes, das zwar als Grundlage für eine Einheitsgemeinde vorgesehen war, dafür aber bestenfalls eine fragil-ambivalente Grundlage abgab, gelang es den altrepublikanischen Korporationen, nach 1874 weiter zu bestehen: Nun standen dem Kanton nicht mehr nur 223 Politische Gemeinden, sondern auch immer mehr Bürgergemeinden gegenüber. Der Versuch der Etatisten, die Gemeinden stärker zu regulieren und das altrepublikanische Prinzip zu brechen, hatte in der Tat zwar die exklusive Autonomie der Gemeindebürger zerschnitten, gleichzeitig aber auch zu mehr Zersplitterung im Staatsaufbau geführt.

Die sehr frühe Abgrenzung der beiden Gemeinden in Chur im Jahre 1875 steht exemplarisch für die Institutionalisierung des Bündner Gemeindedualismus. Sie zeigt, wie sehr gewisse Gemeindebürger auf ihrer rechtlich definierten Identität beharrten und auf die Hoheit über dem Eigentum am Nutzungsvermögen bestanden. Für die politisch aktiven Churer Gemeindebürger war dies von ausschlaggebender Bedeutung, wie der Kommentar von Leonhard Hatz, man habe «nun doch Dualismus», zeigt. Peter Metz sprach in seiner Kantonsgeschichte des 20. Jahrhunderts von einer «politisch heiklen, wenn auch praktisch kaum lebenswichtigen Frage».200

Ein Kontinuum. Zwischen Gemeindedualismus und abgestufter Gemeindeeinheit: 67 Beispiele von Alvaneu/Alvagni bis Vicosoprano

Welche Bedeutung erlangte der Gemeindedualismus bis zum Gemeindegesetz von 1974 in anderen Gemeinden des Kantons? Wo und wann hat sich nach Inkrafttreten des Niederlassungsgesetzes eine institutionalisierte Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen mit einem eigenen Vorstand, eigenen Bürgerversammlungen, einer eigenen Verfassung der Gemeindebürger und einer eventuellen Vermögensausscheidung konstituiert? Wo wurde diese Abgrenzung pragmatisch gelöst, indem beispielweise die Niedergelassenen bei ortsbürgerlichen Traktanden die Versammlung verlassen haben? Im Anhang ab Seite 448 sind Anhaltspunkte zu 67 Gemeinden des Kantons Graubünden erfasst, die zeigen, wie man sich im Laufe dieser 100 Jahre je lokal das Niederlassungsgesetz angeeignet hat.201

Dieser interkommunale Vergleich zeigt einige deutliche Tendenzen: Nur 30 der 67 Gemeinden verfügten bis zum Ersten Weltkrieg über einen Bürgerrat, eine eigene Verfassung für die Gemeindebürger, eine Vermögensabgrenzung oder ein eigenes Protokollbuch. Geografisch beschränkten sich diese Abgrenzungen – wenn auch nie flächendeckend – auf die Täler Misox und Calanca sowie auf einzelne Fälle im Bergell, im Engadin, im oberen Albulatal, in der Val Müstair, im Bündner Rheintal, im Domleschg und im Schanfigg. In diesen Regionen bildeten die Gemeindebürger sehr früh einen von der Gesamtgemeinde organisatorisch getrennten, institutionalisierten Wahl- und Abstimmungskörper. Eigentliche Verfassungen müssen dabei nicht zwingend beziehungsweise nicht unmittelbar zum Zeitpunkt entstanden sein, an dem die Geschäfte von der politischen Gemeinde getrennt wurden. In einigen Gemeinden wurde früh ein Inventar des Gemeindevermögens aufgestellt. Teilweise zeigen diese Vermögensabgrenzungen eine Deutung des Niederlassungsgesetzes, die anders als die Vermögensabgrenzung in Chur explizit das Eigentum der Gemeindebürger am ganzen Gemeindevermögen stipulierte. Gemäss dem Niederlassungsgesetz, seinen Übergangsbestimmungen und den Ausführungsbestimmungen von 1890 mit ihrer Erklärung, unter den Begriff des Gemeindeeigentums falle «das Immobilienvermögen und die auf Liegenschaften haftenden Servitutsrechte»202 war eine solche Auslegung durchaus möglich. Es gab auch Gemeinden wie Sils im Engadin/Segl, in denen Einrichtungen, Werkzeuge und dergleichen zum ortsbürgerlichen Vermögen mitgezählt wurden. In solchen Fällen stimmt die Bemerkung Pedottis von 1936 zweifellos, einzelne Gemeinden hätten «durch willkürliche Anwendung des Gesetzes […] zum Teil gegen das kodifizierte kantonale Recht»203 verstossen.

Angesichts dieser Abgrenzungsmechanismen muss noch einmal wiederholt werden, was ich bereits in Zusammenhang mit der Inventarisierung in Chur betont habe: Eine solche Inventarisierung änderte nichts an den Kompetenzen der Politischen Gemeinden und Bürgergemeinden. Dies gilt ganz allgemein für das Aufstellen und Drucken von Verfassungen und Vermögensinventaren, für das Gründen und Führen eines Bürgerrates und das Abhalten von Bürgerversammlungen. Nichtsdestoweniger waren diese Handlungen wirkmächtig, denn sie schufen eine Korporation der Gemeindebürger als sozial relevante, von den Niedergelassenen getrennte politische Handlungseinheit. Als diskursive Aussagen waren diese Verfassungen und Vermögensinventare institutionalisierte Zurechnungsverfahren, die als symbolische Praktik die Institution Bürgergemeinde hervorbrachten und damit Geltungs- und Herrschaftsansprüche konstituierten. Insofern liessen sie eine Gemeinde tatsächlich «dualistischer» werden als Gemeinden, in denen pragmatisch und mit minimalem organisatorischen Aufwand nach Artikel 16 des Niederlassungsgesetzes eine abgestufte Gemeindeeinheit entstand. Es wird weiter unten zu zeigen sein, dass die institutionelle und vermögensmässige Abgrenzung innerhalb der Bündner Gemeinden in vielen Fällen Rechtsprozesse nach sich zog. Meines Erachtens trifft es zu, in Gemeinden mit einem unabhängigen Bürgerrat, einer Verfassung für die Bürgergemeinde und einer eventuellen Vermögensabgrenzung von Gemeindedualismus zu sprechen.

In den anderen Regionen des Kantons liess die Institutionalisierung des Gemeindedualismus zum Teil bis weit ins 20. Jahrhundert auf sich warten. In 17 der 67 untersuchten Gemeinden wurde ein Gemeindedualismus erst nach dem Ersten Weltkrieg institutionalisiert, in 20 erst nach 1974 oder gar nie. Den besonderen Rechten der Gemeindebürger wurde in diesen Regionen lange Zeit eine geringe, in Einzelfällen vielleicht gar keine Bedeutung zugemessen. Bis zu einer eventuellen Institutionalisierung einer Bürgergemeinde integrierten diese Gemeinden einfach Artikel 16 des Niederlassungsgesetzes in ihre Verfassungen. Dies entsprach der 1899 geltenden Rechtsnorm des Kleinen Rates, wonach «unser bündnerisches Staatsrecht nur eine Gemeinde kennt, innerhalb welcher allerdings die Stimmberechtigungen verschieden sind»,204 wie die Behörde ausführte. Dies funktionierte in der Regel so, dass sich die Niedergelassenen bei Geschäften, die nicht in ihre Kompetenz fielen, zurückhielten oder die Versammlung verliessen, wie die entsprechenden Hinweise aus Grüsch, Lantsch/Lenz oder Tarasp informieren. Was den Gemeindevorstand betrifft, werden die Kompetenzen nicht immer derart liberal gehandhabt worden sein, dass der Gemeindevorstand wie in Trin für alle ortsbürgerlichen Geschäfte kompetent war. Generell ist davon auszugehen, dass der Gemeindevorstand in Gemeinden mit wenig Niedergelassenen ohnehin nur aus Gemeindebürgern zusammengesetzt war. Schliesslich konnte es auch Überschneidungen zwischen Gemeinde- und Bürgerrat geben, oder der Bürgerrat war ein «reduzierter Gemeinderat». Aus Davos ist bekannt, dass der dortige Grosse Landrat sowohl als Organ der politischen Gemeinde als auch in «Bürgerlicher Zusammensetzung» tagen konnte – wobei es zwar Bürgerversammlungen gab, aber noch keine Verfassung nur für die Gemeindebürger. Damit ist ein Kontinuum von Formen angesprochen, bei dem die genaue Form der Abgrenzung von der Gesamtgemeinde in den jeweiligen Einzelfällen schwierig zu rekonstruieren sein dürfte. Entscheidend ist: 20 der untersuchten 67 Gemeinden sprachen bis 1974 nicht von einem Bürgerrat, einer statuierten Bürgergemeinde oder einer Vermögensabgrenzung. Sie begnügten sich mit einer prinzipiell wie bis anhin einheitlich organisierten Gemeinde. Die neuen rechtlichen Unterschiede wurden im selben Wahl- und Abstimmungskörper pragmatisch gelöst. Ich schlage deshalb vor, dieses Modell als abgestufte Gemeindeeinheit zu bezeichnen.

3.4.2 Kontinuitäten, Eigeninteressen und Nächstenliebe

Für die Stadt Chur, das Engadin, die Val Müstair, das obere Albulatal und die Täler Calanca und Misox, die hingegen früh einen Gemeindedualismus bewusst institutionalisiert haben, soll im Folgenden versucht werden, eine Erklärung für die Gründung von Bürgerräten, das Aufstellen von Inventaren oder das Ausformulieren einer eigenen Verfassung für die neuen Bürgergemeinden zu finden. Anschliessend ist nach Erklärungsansätzen zu suchen, warum andere Regionen auf diese institutionelle Abgrenzung gänzlich verzichtet haben.

Chur, das Engadin, die Val Müstair und das obere Albulatal: altrepublikanische Tradition und ökonomische Eigeninteressen

Für die Hauptstadt konnte gezeigt werden, wie bereits Anfang der 1840er-Jahre mit dem Bürgerverein eine bürgerliche politische Kultur fassbar wird, die ab den 1860er-Jahren bürgerliche Werte ins Feld geführt hat, um das alleinige Partizipationsrecht der Gemeindebürger gegen die Öffnung der korporativ organisierten Gemeinden hin zu einer liberal-universalistischen politischen Gemeinde zu verteidigen.

Daneben schien – wenn auch noch abstrakt und knapp formuliert – bereits die Geschichte als Legitimation am Horizont auf, um daraus die kommunalen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger abzuleiten. Konstitutiv für die vormoderne Stadt Chur war die Zunftordnung von 1465 gewesen. Mit ihr bildete sich ein frühneuzeitlicher Kommunalismus aus. Die Stadt hatte sich als politisch-soziale Einheit immer mehr Kompetenzen und Aufgaben angeeignet. Damit einher war eine starke lokale Reglementierung und Hierarchisierung der städtischen Gesellschaft gegangen. Gerade in Chur war die amtliche Erfassung und Kontrolle der Hintersassen in der Frühneuzeit besonders stark ausgeprägt gewesen. Der Kommunalismus hatte ab dem 16. Jahrhundert nicht nur in der zünftischen Stadt Chur eine altrepublikanische Staats- und Demokratieform ausgebildet. Kommunalistische Tendenzen und die damit einhergehende Regulierung der Rechte und Pflichten der Hintersassen waren – gemessen an den normativen Quellen – vor allem eine Sache der reformierten Gebiete, wie insbesondere eine Durchsicht der rätoromanischen Rechtsquellen in Kapitel 2 gezeigt hat. Während ich auf die überwiegend katholisch-rätoromanischen Regionen Surselva und Surses weiter unten eingehe, kann hier Folgendes festgehalten werden: Das reformierte Engadin, die Val Müstair und das obere, reformiert-rätoromanische Albulatal weisen analog zur Stadt Chur eine Kontinuität zwischen dem in der Frühneuzeit kodifizierten Ausschluss der Hintersassen und der institutionalisierten Abgrenzung von Bürgergemeinden und Politischen Gemeinden nach 1875 auf. Aus dem Setting der 67 geprüften Gemeinden wird dies am früh etablierten Gemeindedualismus von Bergün/Bravuogn (Albulatal), Sent, Bever, S-chanf, Silvaplana, Sils im Engadin/Segl und St. Moritz sowie Fuldera, Lü, Valchava und Santa Maria (Val Müstair) deutlich. Die Kontinuität der altrepublikanischen Regulierung soziopolitischer und wirtschaftlicher Verhältnisse in den Gemeinden blieb im Übrigen nicht auf das Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen beschränkt. Sie zeigt sich auch darin, dass vier der fünf Gemeindeverfassungen, die im ganzen Kanton 1868 gedruckt vorlagen, aus dem Engadin stammen.205

Sucht man nach Gründen für die Reglementierungen gegenüber den Hintersassen in den altrepublikanisch verfassten Nachbarschaften, so hat die Forschung bereits für die Frühe Neuzeit darauf hingewiesen, dass eine akute Gefährdung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage gerade im Engadin wohl in den wenigsten Fällen ausschlaggebend war. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts habe ich gezeigt, dass die Wortführer des Bürgervereins Risch, Honegger, Simmen und Lendi in der Debatte in der Bündnerischen Volks-Zeitung 1868 finanzielle Eigeninteressen durchaus als handlungsleitende bürgerliche Tugend eingeräumt haben. Schliesslich hatte die Bürgerschaft im Juni 1875 auch auf einer Vermögensabgrenzung mit der Politischen Gemeinde beharrt. Doch selbst als die Wortführer des Bürgervereins ihren «Bürgersinn» als Entgegenkommen den Niedergelassenen gegenüber stark gemacht haben, war dieser mitnichten frei von finanziellem «Eigensinn». Im Zuge der Vorschläge für eine neue Stadtverfassung von 1868 hatte der Bürgerverein im Mai 1868 für einen erleichterten Einkauf ins städtische Bürgerrecht plädiert, ein Vorschlag, der 1870 von der Bürgerschaft angenommen worden war.206 Die Einkaufsgebühr betrug mit 600 Franken für einen männlichen Erwachsenen aber immer noch über die Hälfte des Jahreslohnes eines Zürcher Industriearbeiters.207 Der Grund dafür, dass die finanzielle Hürde kaum tiefer angesetzt wurde, dürfte darin gelegen haben, dass man das Armengut nicht mit potenziell armengenössigen Neubürgern teilen wollte. Gerade vor dem Hintergrund, dass ein Grossteil der Churer Gemeindebürger um 1870 tatsächlich der städtischen Mittel- und Oberschicht angehörte, mochte dies als schwacher Beweis für ein uneigennütziges, gemeinwohlorientiertes Handeln erscheinen.

4 213,58 ₽
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9783039199143
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