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Der Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traf das aufklärerische Postulat der Rechtsgleichheit aller mündigen Männer auf die vormodernen Demokratieprinzipien der Bündner Gemeinden. Die Gemeindebürger genossen de jure – und vielerorts bis in die 1870er-Jahre auch de facto – das alleinige Stimm- und Wahlrecht und die Nutzungsrechte an den kommunalen Alpen, Weiden und Wäldern. Zugezogene, denen das Stadt-, Nachbarschaftsoder Landrecht fehlte, hatten in der Regel keinerlei politische Mitspracherechte. Bestand für sie die Möglichkeit, das Gemeindevermögen zu nutzen, war dies meist an besondere Gegenleistungen gebunden. Nachdem dieses Spannungsverhältnis in den 1860er-Jahren in der Stadt Chur das erste Mal virulent geworden war, griff der Kanton Mitte der 1870er-Jahre in den Gemeinden durch. Mit einem neuen Niederlassungsgesetz nahm er das erste Mal die exklusive Partizipationsberechtigung der Gemeindebürger zum Angriffspunkt.39 Dadurch wurden de facto Politische Gemeinden (Einwohnergemeinden) geschaffen, während den Gemeindebürgern die Möglichkeit gegeben wurde, sich für die wenigen, ihnen noch verbliebenen Rechtsprivilegien zu organisieren40 – was sie in einem Grossteil der Bündner Gemeinden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auch taten. Folgt man dem amerikanischen Politikwissenschaftler Benjamin R. Barber, ging es den Behörden mit dem Niederlassungsgesetz nicht nur darum, einer ständig steigenden Anzahl mündiger Männer, die an ihrem Niederlassungsort nicht an der Politik und höchstens beschränkt am Gemeindeland teilhaben durften, zu mehr Rechten zu verhelfen. Der Bruch mit den alten Gemeindestrukturen war gleichzeitig ein Angriff auf ein Stück Gemeindeautonomie: Sie nahm den Gemeinden als Ganzes zwar keinen ihrer Aufgabenbereiche, die Gemeindebürger aber verloren fast vollständig ihre Sonderstellung als autonome Gesetzgebungs- und Verwaltungsinstanz.41 In diesem Spannungsverhältnis zwischen föderalistisch-altrepublikanisch geprägten Gemeinden und einem etatistisch-liberal modernisierenden Kanton situiert sich letztlich nicht nur die Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden, sondern die Abgrenzungsgeschichte innerhalb der Bündner Gemeinden überhaupt – auch wenn dieses Spannungsverhältnis in manchen Phasen nur latent vorhanden war und der Kanton in gewissen Fällen kurzzeitig auch die Position der Gemeindebürger gestützt hat.

Die mit dem spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kommunalismus entstandenen, altrepublikanisch verfassten Gerichtsgemeinden und die darin enthaltenen Nachbarschaften haben sich im frühneuzeitlichen Freistaat Dreier Bünde «paradigmatisch» ausgeprägt.42 Dieser Entwicklung kommt für die Hierarchisierung innerhalb der ansässigen Bevölkerung eine wichtige Rolle zu. Der Kommunalismus, verstanden als Bewegung, die den Landgemeinden gleich den Städten eine eigene Satzungs-, Verwaltungs- und Rechtssprechungskompetenz verlieh, trennte in erster Linie die partizipationsberechtigten Einwohner von den Hintersassen dadurch, dass sich die Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften nicht nur immer mehr Rechte und Pflichten aneigneten, sondern auch den Zugang dazu regulierten. Der Kommunalismus ermöglichte somit einen vormodernen Republikanismus, bei dem nicht ein Gesamtstaat im Vordergrund steht, sondern föderalistisch organisierte Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften, die als politisch-soziale Einheiten einer am Gemeinwohl orientierten Korporation von Männern zu verstehen sind, die «durch das Recht und gemeinsame Interessen verbunden sind».43 Den Zugang zu dieser frühen Form demokratischer Macht, die in den verschiedenen Gemeindeformen gründete, kanalisierten die weitgehend souveränen Gemeinden selbst.

Der 1803 entstandene Kanton hatte von Anfang an mit den Kontinuitäten der kommunalistischen beziehungsweise föderalistischen Strukturen des ehemaligen Freistaats zu kämpfen. Zur Diskussion stand das Rechtsverhältnis des Kantons zu den noch in vielen Bereichen autonomen alten Gerichtsgemeinden und den Nachbarschaften. Die auf die Gemeindebürger beschränkte Partizipationsberechtigung auf lokaler oder kantonaler Ebene wurde hingegen in der ersten Jahrhunderthälfte noch nicht infrage gestellt. Es ging zunächst ganz generell bei den Staatsaufgaben darum, «wie ein moderner Staat aussehen sollte und wie Bünden unter substantieller Wahrung der bestehenden altdemokratischen Freiheiten und Zuständigkeiten aussehen durfte».44 Doch das Problem der politischen und wirtschaftlichen Partizipation aller (männlichen) Gemeindeeinwohner musste früher oder später zu einem Zankapfel zwischen konservativen Altrepublikanern und liberalstaatlichen Erneuerern werden. In der Schweiz waren es eben nicht zuletzt die Gemeinden, die sich in der Frühen Neuzeit nicht nur eine Fülle von Kompetenzen angeeignet hatten, sondern als «souveräne Herrschaftsformen»45 eine sehr restriktive Form von alter Demokratie gegenüber dem modernen Staat verteidigten.

In Graubünden kam der radikale Bruch, wie erwähnt, mit dem Niederlassungsgesetz von 1874. Mit ihm verschwanden zwar die Partizipationsprivilegien der Gemeindebürger weitgehend, nicht aber das altrepublikanische Prinzip weitgehend autonomer Gemeinden an sich. Die Gemeindeautonomie wurde gleichsam auf die neuen Politischen Gemeinden übertragen und behielt bis heute im Kanton Graubünden eine wirkmächtige Persistenz. Das altrepublikanische Prinzip einer korporativ organisierten Personalkörperschaft blieb auf die sich nach und nach neu institutionalisierenden Bürgergemeinden beschränkt oder konnte im Sinne einer abgestuften Gemeindeeinheit durchgesetzt werden. In letzterem Fall nahmen die Bürger ihre Rechte innerhalb der Organe der politischen Gemeinde wahr (wobei in den Quellen bisweilen dafür ebenfalls der Terminus Bürgergemeinde auftaucht). Da sich die knappen Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes von 1874 rasch als ungenügend erwiesen, kam es in der Folge zwischen einzelnen institutionalisierten Bürgergemeinden und Politischen Gemeinden zu einer langen Reihe von juristischen Konflikten betreffend Eigentums- und Kompetenzfragen. Die hohe Zahl dieser oft über mehrere Instanzen gezogenen Rechtsstreitigkeiten dürfte in der Schweiz einzigartig sein.46 Diese lange Abfolge von Versuchen, die Bündner Bürgergemeinden staatsrechtlich zu konsolidieren, bildet den ungefähren chronologischen Rahmen der ganzen Untersuchung und prägt das Selbstbewusstsein der Bündner Bürgergemeinden teilweise bis heute.47

Die Werte und Selbstbilder der Gemeindebürger haben sich am häufigsten in solchen Auseinandersetzungen mit den Verfechtern der Politischen Gemeinden und mit dem Kanton materialisiert, wodurch allein bereits eine detaillierte Analyse dieses Problemkomplexes begründet scheint. Um ihre verbliebenen Rechte haben die Gemeindebürger im Laufe der Jahrzehnte mit unterschiedlichen Argumenten gekämpft, unter anderem auch mit der im Kanton Graubünden allseits präsenten Gemeindeautonomie, die nicht zuletzt für die neuen Politischen Gemeinden ein identifikationsstiftendes Merkmal wurde. Die am Konflikt beteiligten Kräfte waren diskontinuierlich und heterogen verfasst: Weder kann ausschliesslich von einer einfachen Polarisierung zwischen einem progressiven Kanton und retardierenden Bürgergemeinden ausgegangen werden, noch waren einzelne Bürgergemeinden und die kantonalen Behörden die einzigen Instanzen, die am Entscheidungsfindungsprozess beteiligt waren. Ihre Macht wurde immer wieder von anderen Instanzen wie ausserbehördlichen Komitees, Kommissionen, Juristen, der Stimmbevölkerung und dem Verband Bündnerischer Bürgergemeinden begrenzt.48 Zwei Eigenheiten dieser Geschichte scheinen mir wichtig:

Erstens weist diese Konfliktgeschichte Konjunkturen auf. In Graubünden wurde ab Mitte der 1920er- bis Mitte der 1940er-Jahre am intensivsten um die rechtliche Ausgestaltung der Bürgergemeinden gerungen. Es fällt auf, dass die signifikanteste Konjunktur dieses verfassungsgeschichtlichen Aspekts der Bündner Bürgergemeinden sehr genau der Konjunktur der Verwendung des Begriffs «Bürgergemeinde» im deutschsprachigen Raum entspricht, wie sie der Google Books Ngram Viewer zeichnet.49


Während diese Kurve im Grunde nur das Erscheinen des Begriffs «Bürgergemeinde» beschreibt, ist zu fragen, in welchen historischen Problemlagen dieser Begriff vorkommt, warum diese Häufungen in bestimmten Zeitabschnitten entstehen konnten und mit welchen anderen Diskursen das zusammenhängt.50 Der Fokus auf den politischen Konflikt um die Stellung der Gemeindebürger drängt sich umso mehr auf, da offensichtlich über die Bürgergemeinde zur gleichen Zeit auch ausserhalb Graubündens mehr als davor oder danach geschrieben wurde.51 Meines Erachtens indexiert diese Kurve aber noch einen grösseren Zusammenhang, sie verweist gleichsam auf die eigentliche «Fallhöhe» des Themas in der Zwischenkriegszeit. Die Kurve korreliert mit dem Rückzug des politischen Liberalismus in der Schweiz, der bereits ab den 1870er-Jahren an Schubkraft verlor, dann verstärkt ab Ende des 19. Jahrhunderts von der «neuen Rechten», einer heterogenen Bewegung reaktionärer und konservativer Intellektueller, konkurrenziert wurde und nach dem Ersten Weltkrieg, am Ende des «langen 19. Jahrhunderts», sich mit einem seit der Bundesstaatsgründung von 1848 nie dagewesenen Kultur- und Wirtschaftsprotektionismus verschmolz.52 Die Geschichte der Bündner Bürgergemeinden erlaubt es, diesen Wandel nicht nur auf gesamtschweizerischer Ebene zu beobachten, sondern ausgehend von den kleinsten Einheiten des Schweizer Staatsaufbaus, den Gemeinden.

In Graubünden versuchte ein Kreis von Gemeindebürgern in den 1890er-Jahren, unter den reaktionären Vorzeichen der «neuen Rechten» die verbliebenen Rechtsprivilegien der Bürgergemeinden auszubauen. Ab den 1920er-Jahren gewann dann die Analogie der Bürgergemeinde-Schützer zu ähnlichen konservativ-protektionistischen Diskursen wie dem Heimatschutz, der Trachtenbewegung, der rätoromanischen Heimatbewegung oder der vom Schweizer Bauernverband befeuerten Bauernstandsideologie an Schärfe, sodass sich diese Strömungen in den «Krisenjahren der klassischen Moderne» (Detlev Peukert) gegenseitig verstärkt haben. An Bedeutung gewannen nicht zuletzt auch die Einwohner- oder Politischen Gemeinden, erreichte doch ihre Zelebrierung als autonome Bausteine des Föderalismus mit dem von allen Gemeindefahnen überhängten «Höhenweg» an der Landi 1939 einen nie dagewesenen Höhepunkt. Der kleinste gemeinsame Nenner dieses konservativen Kulturprotektionismus war das Kollektivsymbol einer anthropologisch aufgeladenen «Bodenständigkeits»-Metapher. Diese entfaltete auch in der seit dem Ersten Weltkrieg immer restriktiveren Schweizer Bürgerrechtspolitik ihre Wirkung, wovon in einem eigenen Kapitel noch die Rede sein wird.

Zweitens manifestierten sich der Widerstand gegen die Eingriffe des Kantons und die Konflikte zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde nicht in allen Regionen des Kantons. Dasselbe gilt bereits für die Formen der Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Nichtgemeindebürgern innerhalb der Gemeinden nach 1875. Ein möglicher Ansatz, um dies zu erklären, bietet meines Erachtens jene «kulturelle Formation»,53 die in der Schweiz «eine historisch weit reichende Gestaltungskraft»54 gewann: das Bürgertum als Träger von Bürgerlichkeit, wobei Bürgerlichkeit nie einfach mit der Rechtskategorie der Gemeindebürger gleichzusetzen ist. Im Gegenteil: Ein Grossteil der Bevölkerungsschicht Graubündens, die man zum Bürgertum rechnen kann, dürfte bereits im 19. Jahrhundert nicht an ihrem Heimatort gewohnt haben. Bürgerlichkeit zielt vielmehr auf ein umfassendes kulturelles Muster, das in zahlreichen Gesellschaften Europas und in Nordamerika seit dem 18. Jahrhundert Träger demokratischer Staaten ist.55 Das «universelle Organisationsprinzip» der bürgerlichen Gesellschaft war der freie Zusammenschluss von Gleichen, der einen kritischen Dialog ermöglichen sollte.56 Neben den eigentlichen politischen Parteien entstand im Bürgertum eine Vielzahl von Vereinen mit politischen Absichten. Gleichzeitig ermöglichte die bürgerliche Gesellschaft dem Einzelnen aber auch ein gewisses Mass an individuellen Gestaltungsmöglichkeiten.57 Unter dem «bürgerlichen Wertehimmel» (Hettling) orientierte sich der einzelne Bürger an inhaltlich offenen Prinzipien wie beispielweise Bildung, Arbeit, Selbstständigkeit, Selbstverantwortung, Besitz, Männlichkeit, rechtsstaatliche Ordnung, Familie, Ehe, Kunst oder auch Müssiggang.58 Obwohl eine spezifisch bürgerliche Lebensführung dem Einzelnen nicht mehr vorgab, was er zu denken und wie er zu reden hatte, setzte ihm die Gesellschaft also durchaus Barrieren, die nicht überschritten werden durften.59 Das Bürgertum orientierte sich an solchen abstrakten, inhaltlich offenen Prinzipien, die als Tugenden verstanden wurden und ein relativ breites Spektrum an Interpretationen ermöglichten.60 Insbesondere in der Zeit zwischen den 1860er- und den 1880er-Jahren wurden solche bürgerlichen Werte in der Auseinandersetzung um die demokratische Ausgestaltung der Gemeinden verhandelt. Die wichtigste Norm des «bürgerlichen Wertehimmels»61 bildete hier der gemeinwohlorientierte «Bürger-Sinn» unter Vermeidung eines allzu starken, an den eigenen Sonderinteressen orientierten «Eigensinnes».62

Als Kontrastfolie zur bürgerlichen Kultur fungieren die politischen Besonderheiten der katholisch-rätoromanischen Surselva und des katholisch-rätoromanischen Mittelbündens. In diesen Regionen haben die Bürgergemeinden grösstenteils keine oder eine viel geringere Rolle gespielt. Um diesen Befund zu erklären, sollen die Unterschiede katholischer Organisationsformen zu den Vereinigungen bürgerlicher Selbstorganisation herausgearbeitet werden,63 zu denen die Bürgergemeinden, ihr kantonaler und schweizerischer Verband und die Bürgervereine Chur und Igis zweifelsohne gehören. Letztere haben sich für identitätsstiftende Merkmale aus der kantonalen Geschichte engagiert und für ihre politischen Ziele bisweilen ein Bild traditionsverbundener Gemeindebürger eingesetzt, wie es in der Zwischen- und Nachkriegszeit auch in den Rechtsstreitigkeiten auftauchte.

Einbürgerungs-, Boden- und Wasserrechtspolitik

Neben dieser Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden bieten die Einbürgerungs-sowie die Boden- und Wasserrechtspolitik einen Zugang zu den Werten, Funktionen und Selbstbildern der Gemeindebürger in wichtigen Domänen ihrer behördlichen Praxis. Sie liefern weitere Hinweise darauf, wie sie sich nicht nur von den Niedergelassenen, sondern auch von den Ausländern abgegrenzt haben.

Der Befund, dass die rechtliche Abgrenzung innerhalb der Bündner Gemeinden regional und zeitlich unterschiedlich realisiert wurde, lässt sich nicht zuletzt an diesen tagespolitischen Praktiken ablesen: Das behördliche Tagesgeschäft konnte durchaus zur Herausbildung des Dualismus von politischer Gemeinde und Bürgergemeinde beitragen, indem sich die Korporation der Gemeindebürger ihren Status als autonome «Gemeinde in der Gemeinde» an diesen Orten immer wieder stabilisierte. Vor allem die Boden- und Wasserrechtspolitik einzelner Gemeinden diente neben Aussagen zur bürgergemeindlichen Einbürgerungskompetenz der Selbstbehauptung dieser Institution in Abgrenzung zu (möglichen) Ansprüchen der politischen Gemeinde. Besonders deutlich wird das bei der Bodenpolitik am Übergang von einer landwirtschaftlich geprägten zu einer industrialisierten Gemeinde. Während über die Frage, ob das Gemeindevermögen für industrielle Zwecke zu nutzen sei, innerhalb der Gemeinden kaum Dissens entstand, konnte die Frage, wem das Eigentum daran oder die Entscheidungskompetenzen darüber zukomme, Abgrenzungs- oder Trennungsmechanismen in Gang setzen. Auch in der seit 1900 entstehenden Kraftwerkindustrie traten Gemeinden als neue Akteure im lokalen Machtgefüge auf. Unter der Vielzahl von Akteursgruppen (Gemeinde, Kanton, Bund, Heimatschutzkreise und andere) fällt auf, dass sich Bürgergemeinden in allen untersuchten Fällen Handlungskompetenzen aneigneten, die ihnen de jure nicht zugefallen wären. Obwohl sich ihre Interessen mit denjenigen der Gesamtgemeinde vollständig deckten, setzte das altrepublikanische Verständnis der Gemeindebürger ein von der politischen Gemeinde getrenntes Vorgehen in Gang.

Darüber hinaus lässt sich an der Einbürgerungspolitik nach 1874 die Haltung der Bündner Gemeindebürger den Ausländern gegenüber darstellen, die überwiegend von Abgrenzung geprägt war. Bei den Gemeinden hat die Forschung zu Recht starke Partikularinteressen64 festgestellt. In erster Linie seien sie darauf bedacht gewesen, «ihre Gemeindegüter zu mehren, die Zahl der daran berechtigten Personen, das heisst der Gemeindebürger, beschränkt zu halten und die kommunalen Kompetenzen gegenüber den Kantonen zu verteidigen».65 Neben ökonomischen Ausschlusskriterien konnte die Religion oder die Gesundheit ein Grund sein, Bürgerrechtsbewerbern ihren Wunsch zu verwehren. Die Spannung zwischen Integration und Ausschluss der Zugezogenen beschränkte sich also mitnichten auf den Konflikt um die Integration der Schweizer Niedergelassenen durch die Schaffung von Politischen Gemeinden im Jahre 1874. Die demokratische Mitsprache wurde genauso über die Verleihung des Bürgerrechts gesteuert, die oft eine Abgrenzung gegenüber Schweizern und Ausländern zur Folge hatte. Darüber hinaus finden sich in Graubünden seit dem Ersten Weltkrieg Beispiele einzelner Gemeinden, deren monetär orientierte Einbürgerungspolitik eine gänzlich andere Praktik zur Folge hatte.

So wie in der Geschichte des Bündner Gemeindedualismus wäre es in der Analyse der Schweizer und Bündner Einbürgerungspolitik verfehlt, der Entwicklung eine einfache Dichotomie liberaler Öffnung «von oben» und vormoderner Abschliessung «von unten» zu unterstellen. Von den erwähnten Ausnahmegemeinden abgesehen, ging die im Regelfall tatsächlich dominierende «Abgrenzung von unten» oft Hand in Hand mit einer «Schliessung von oben», da auch dem Inklusionspotenzial des 1848 auf liberal-aufklärerischer Basis geschaffenen Bundesstaats bereits früh diverse Defizite inhärent waren. Unter dem Einfluss der «neuen Rechten» entwickelte die Schweizer Bundespolitik nach dem Ersten Weltkrieg eine «protektionistische und antiliberale Tendenz», die sich unter anderem durch eine auf Ausschluss bedachte Bürgerrechtspolitik konstituiert hat – und zum Teil bis in die heutige Zeit anhält.66 Die Bürgerrechtspolitik gehörte damit nach dem Ersten Weltkrieg zu jenen Diskursen, bei denen Affinitäten zum in dieser Zeit ebenfalls verstärkten protektionistischen Sprechen über die Rechtsprivilegien der Gemeindebürger feststellbar sind. Mit anderen Worten: Die in den «Krisenjahren der klassischen Moderne» in der Schweiz entstandenen kulturprotektionistischen Diskursmuster wurden von den Gemeindebürgern bisweilen für ihre Einbürgerungspolitik übernommen und dabei oft als Mittel der Abgrenzung ihrer Institution gegenüber der politischen Gemeinde eingesetzt.

Eine andere Abgrenzungsgeschichte: Vereine, Wirtschaft und Brauchtum

Als Abschluss eröffnet die Untersuchung einen dritten Anschluss an das Thema. Es geht darum zu zeigen, wie sich ein Selbstverständnis der Gemeindebürger ausserhalb des Wirkungskreises der Bürgergemeinde in verschiedenen Vereinen, in der Churer Unternehmerschaft und in der Praxis des Brauchtums stabilisieren konnte. Die wichtigste Institutionsform, in der sich eine solche Abgrenzungsgeschichte abspielen kann, ist der Verein. Zunächst einmal zeigt die relative Häufigkeit von Gemeindebürgern in bildungsbürgerlichen Vereinen und in der Churer Unternehmerschaft, dass die Gemeindebürger sozial dank Besitz und Bildung eine verhältnismässig privilegiertere Ausgangslage als Niedergelasse und Ausländer genossen.

Da die hier infrage kommenden Vereine und das Erwerbsleben nicht den Gemeindebürgern vorbehalten waren, ist das damit zusammenhängende Selbstverständnis der Gemeindebürger viel weniger offensichtlich. Dadurch, dass die Gemeindebürger in diesen Vereinen und in der Churer Unternehmerschaft eine relative, im Vorstand des Stadtvereins Chur und der Historisch-antiquarischen Gesellschaft gar in langen chronologischen Phasen eine absolute Mehrheit stellten, konstituierten sie «feine Unterschiede» zu den niedergelassenen Schweizern und Ausländern. Besonders in den Vereinen behielten sich die Gemeindebürger so über die Bruchlinie von 1875 hinaus ein eigenes Selbstverständnis, denn als Förderer von Geschichte und Gemeinwesen entsprach eine Mitgliedschaft oder die aktive Mitarbeit in der Historisch-antiquarischen Gesellschaft und im Stadtverein Chur einem Selbstbild der Gemeindebürger, wie es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder für den Erhalt ihrer Rechtsprivilegien ins Feld geführt worden war. «Feine Unterschiede» zwischen ihnen und den Zugezogenen etablierten die Gemeindebürger schliesslich in der Praxis des Brauchtums, wenn sie beispielsweise wie in Domat/ Ems allein prestigeträchtige Ämter in einem wichtigen Verein wie der Knabenschaft besetzten.

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