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7. Im Herrenzimmer

Dresden, 04. Oktober 1881

Henri ließ sich in den Sessel zurückgleiten und schloss die Augen. Das Leder knarrte unter seinem schweren Körper. Das Feuer im Kamin war fast heruntergebrannt, nur eine kleine Flamme loderte noch auf. Trotzdem schwitzte er in seinem Gehrock, den er noch immer trug, obwohl Dr. Zumpe schon vor einer Stunde gegangen war. Eine dumpfe Schläfrigkeit hielt ihn in dem Clubsessel vor dem Kamin fest. Ja, eigentlich hatte er längst ins Bett gehen wollen, aber sein ganzer Körper fühlte sich so schwach an, so erschöpft. Diese ewigen Streitereien mit Florry. Die Auseinandersetzungen mit seiner Mutter. Sein ungezogener Sohn. All das zerrte an seinen Nerven. Und auch das Gespräch mit Dr. Zumpe hatte ihn nicht beruhigen können.

Henri blinzelte und sah zur Zimmerdecke. Die Stuckrosette in der Mitte schien größer zu werden. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Es gab zwei Stuckrosetten. Er kniff ein Auge zu. Nein, es war nur eine – in der Mitte des Raumes, fast genau über ihm. Stöhnend wischte er sich über die Stirn und richtete sich langsam auf. Das Muster der Tapete schien in Schlieren von der Wand zu gleiten. Was war nur los? Sein Mund fühlte sich trocken an. Er griff nach dem Glas, das auf dem Tischchen vor ihm stand, und nahm einen tiefen Schluck. Es war kein Wasser. Das hatte Dr. Zumpe ausgetrunken. In Henris Glas schwamm milchig-grüne Flüssigkeit. Absinth. Ja, wieder Absinth. Ja. Warum auch nicht? Wie Florence immer die Augenbrauen hochzog, sobald er sich ein Glas genehmigte. Seine Mutter war in diesem Punkt auch nicht besser. Was bildeten sich die Frauen nur ein? Er konnte selbst entscheiden, was gut für ihn war.

Henri leerte das Glas. Dann läutete er noch einmal nach dem Mädchen. »Bringen Sie mir noch etwas Wasser!« Er war kaum zu verstehen. »Danach können Sie Feierabend machen. Ich komme allein zurecht«, sagte er, ohne aufzusehen.

Adele verstand das Gemurmel, sie erlebte ihren Arbeitgeber nicht zum ersten Mal in dieser Verfassung. Wie gut konnte sie ihre Herrin verstehen, die sich ein eigenes Schlafzimmer ausbedungen hatte, dachte sie, während sie mit einem sauberen Aschenbecher und der gefüllten Karaffe ins Herrenzimmer zurückkam. Henri starrte ins Feuer und schien sie nicht zu bemerken. »Gnädiger Herr, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!«, sagte sie. Henri blickte nicht auf und raunte etwas Unverständliches. Adele schloss die Tür.

In der Küche band sie die Schürze ab und ließ sich auf die hölzerne Eckbank fallen. Endlich konnte sie das weiße Häubchen aus den Haaren lösen. Sie hatte es so stramm festgesteckt, die Nadeln drückten, ihre Kopfhaut schmerzte. Der Küchenwecker tickte laut. In einer Stunde war es Mitternacht. Sie gähnte. Um fünf, spätestens um halb sechs würde sie wieder auf den Beinen sein müssen. Viel zu wenig Schlaf! Hoffentlich konnte die gnädige Frau heute Abend zur Ruhe finden. Sie war so verzweifelt. Adele rieb sich die Augen. Mehrmals hatte sie im Laufe des Abends versucht, Gesprächsfetzen im Herrenzimmer aufzuschnappen, wo sich Henri mit dem Doktor unterhielt. Meistens schwiegen die beiden Männer, wenn sie den Raum betrat, als ahnten sie, dass Adele einen heimlichen Auftrag hatte. Nur gegen Ende des Treffens beachteten sie das Dienstmädchen nicht weiter. Erst da konnte Adele hören, um was es ging.

Pirna, hörte sie. Pirna Sonnenstein. Zur Ruhe kommen. Keine Wunder erwarten, sagte Dr. Zumpe immer wieder. Braucht seine Zeit. Henri pflichtete ihm bei. Drängte ihn zu einem Absinth. Der Doktor lehnte ab und beließ es beim Wasser und einem Glas Bier. Für die Kinder, es ist für die Kinder. Sie brauchten doch eine gesunde Mutter, sagte Henri fast beschwörend. Der Arzt nickte. Ja, für die Kinder.

»Leider haben die Kuren in Franzensbad in diesem Sommer und in Karlsbad vor zwei Jahren nicht die erwartete Wirkung gezeigt«, stellte Zumpe bedauernd fest.

Henri schnaubte ärgerlich. »Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil.«

»Wie meinen Sie das, Herr de Meli? Mir schien Ihre Frau nach den drei Wochen in Franzensbad aufgeräumt und ausgeglichen zu sein«, entgegnete Dr. Zumpe.

»In gewisser Weise haben Sie nicht unrecht. Aber … es lag weniger an den Heilanwendungen als am sonstigen Zeitvertreib«, erklärte Henri bissig.

»Nun, wie soll ich das verstehen?«

»Vermutlich so, wie Sie es verstanden haben. Florence hat keinen gefestigten Charakter, so will ich es einmal sagen. Sie kann ein herzensguter Mensch sein, aber es fehlt ihr an Reife. An moralischer Reife, wenn Sie verstehen, was ich meine«, holte Henri aus.

Der Arzt nickte. »Das ist bedauerlich. Und eine schwere Bürde für Sie, mein lieber Herr de Meli. Ich bewundere Ihre Abgeklärtheit und Ihre Bereitschaft, selbst Opfer zu bringen, damit Ihre Gattin die nötige Ruhe bekommt, um zu genesen. Denn Sie werden in dieser Zeit allein zurechtkommen müssen. Nicht einfach mit zwei Kindern, die noch so jung sind. Zum Glück haben Sie Ihre Familie in Dresden. Sie wird Ihnen den nötigen Rückhalt geben, nehme ich an.«

Henri schluckte ergriffen. Zum ersten Mal erkannte jemand, wie schwierig seine eigene Rolle in dieser Angelegenheit war. Wie allein er dastehen würde! Was für eine Schmach es war, die eigene Ehefrau in eine Heilanstalt einweisen zu lassen! Ihm kamen die Tränen. Nie hatte seine Mutter diesen Aspekt erwähnt, seit sie ihm vor Monaten zum ersten Mal von der Idee erzählt hatte. Und vielleicht würde eine solche Behandlung Florence tatsächlich auf den richtigen Pfad bringen. So wie Frau von Weber. Und wenn nicht? Dann war wenigstens keine Scheidung vonnöten. Denn eine Ehe konnte kurzerhand aufgelöst werden, wenn die Ehefrau geisteskrank war. Das hatte ihm Max von Weber erklärt.

Adele sah die Tränen nicht, die in Henris Augen schimmerten. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits wieder in der Küche und versuchte, sich zu beruhigen. Es war also richtig, was die gnädige Frau erzählt hatte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Aber wieso kamen die Männer denn nur darauf, dass Frau de Meli krank sei? Sie war doch fast immer freundlich, oft fröhlich, jedenfalls wenn sie mit den Kindern allein war. Adele wusste es. Und sie wusste auch, dass von den befreundeten Hausmädchen in Dresden keines ein solches Glück mit seiner Herrschaft hatte wie sie mit Florence. Die anderen hatten viel mehr auszustehen. Adele überlegte. Ja, manchmal war die gnädige Frau Opfer ihrer Launen, das war nicht von der Hand zu weisen. Und die Migräne-Attacken, wenn die Vorhänge zugezogen werden mussten, waren tatsächlich häufiger geworden. Aber deshalb gleich in eine Heilanstalt? Überhaupt »Heilanstalt« – das war doch bloß ein besseres Wort für »Irrenanstalt«. Adele schnaubte. Ein abgekartertes Spiel war das. Florence de Meli war nicht verrückt. Sollte doch der gnädige Herr in eine Heilanstalt gehen. In eine Trinkerheilanstalt!

Als der Arzt aufbrach, erinnerte er Henri an das braune Tütchen mit dem Pulver, das er Florence am Mittag gegeben hatte. »Denken Sie daran, Herr de Meli, dieses Pulver wird Ihre Frau beruhigen. Das Mittel heißt Chloralhydrat und ist ein starkes Beruhigungsmittel. Vorsichtshalber lasse ich Ihnen auch noch ein paar Pillen da. Es wäre gut, wenn Ihre Frau eine davon oder einen Teelöffel von dem Pulver vor ihrer Abreise bekäme. Es würde die Sache leichter machen«, sagte Julius Zumpe bestimmt.

Henri nickte und hielt das Röhrchen mit den weißen Tabletten fest in der Hand. Diese Anweisung bekam Adele nicht mit.

Das Dienstmädchen war noch zweimal zu Florence gehuscht, um ihr das übrige Gehörte mitzuteilen. Beim ersten Mal fand sie ihre Herrschaft über den Näharbeiten sitzen. Die Juwelen hatte sie sorgfältig in verschiedene Unterkleider und in ein Fischbeinkorsett eingenäht. Den Beutel mit den ungeschliffenen Diamanten, die Henri unlängst aus einer Mine in Südafrika mitgebracht hatte, übergab sie Adele. Das dunkelblaue Samtsäckchen wog schwer in ihrer Hand.

»Geben Sie gut Acht, Adele, auch wenn man es so kaum erkennen kann, es sind Rohdiamanten, bestimmt einige Karat, hat Henri gesagt.« Florence klang konzentriert und klar. Dann sah Adele die kleine blaue Reisetruhe. Der Deckel stand offen. Florence hatte Wäsche hineingelegt, ein Bündel Briefe und einige Stoffsäckchen.

Unter dem Nähkästchen zog Florence noch einen Brief hervor. Auf dem Umschlag las Adele »Paris«.

»Dieser Brief ist sehr wichtig! Bitte bringen Sie ihn morgen früh direkt zum Postamt«, wies Florence sie an.

Adele nickte und nahm den Umschlag entgegen.

»Vielleicht ist Paris meine Rettung«, murmelte Florence. »Aber wahrscheinlich hat sie mich längst vergessen.«

»Sie haben eine Tante in Paris«, begann Adele.

Florence winkte ab. »Nein, nein, meine Tante ist nach Amerika zurückgekehrt. Alle aus meiner Familie kehren über kurz oder lang nach Amerika zurück. Wenn sie die Zeit noch haben … Nicht so wie meine lieben Eltern.« Sie begann zu weinen.

»Oh, gnädige Frau, es tut mir leid!« Adele war zerknirscht.

»Schon gut. Schon gut. Ich denke oft an meine Eltern. Und immer wenn Henri es nicht mitbekommt, besuche ich ihr Grab auf dem Trinitatisfriedhof. Warum hat er sie nur so gehasst? Nicht einmal verabschieden durfte ich mich von meiner Mutter, als sie im Sterben lag. Meinem Vater brach es das Herz. Ich glaube, er wollte sie nicht allein lassen in der Fremde …« Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.

Adele seufzte. »Bitte, gnädige Frau, Sie dürfen jetzt nicht an das Vergangene denken. Lassen Sie den Toten ihren Frieden. Jetzt geht es um Ihr eigenes Schicksal.« Florence sah Adele erstaunt an. Das Dienstmädchen sprach wie eine Figur in einem Fortsetzungsroman in der »Gartenlaube«. In der jungen Frau steckte mehr, als sie geahnt hatte. Wenigstens ein erwachsener Mensch in diesem Haus war auf ihrer Seite. Florence wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sie haben recht, Adele. Ich muss nach vorn blicken.« Und sie drückte die Hand der jungen Frau, die vor Scham kaum wusste, wo sie hinsehen sollte. Dieser Händedruck war mehr wert als ein teures Umschlagtuch und ein neuer Hut zu Weihnachten. Dieser Händedruck war ein Vertrauensbeweis. Und Adele wollte die gnädige Frau nicht enttäuschen.

2. Teil

8. Dr. Zumpe

Dresden, 05. Oktober 1881, am Morgen

Das Schlafzimmer lag im Dunkeln. Die dicken Samtvorhänge ließen keine Sonnenstrahlen durchdringen. Zwei Tauben gurrten in der Linde vor dem Haus. Einer der Vögel schlug mit den Flügeln, sodass sich ein paar welke Blätter von den Zweigen lösten. Ein Blatt schwebte auf die Hutkrempe von Julius Zumpe. Ärgerlich wischte er es davon. Er war müde. Diese Abende bei Henri de Meli zehrten an ihm. Jedes Mal nach solch einer nicht enden wollenden Besprechung fühlte er sich matt und ausgelaugt. Dabei trank er selbst höchstens zwei, drei Gläser Bier und ließ sich so gut wie nie auf die weiteren alkoholischen Offerten des Gastgebers ein. Der Absinth widerte ihn an. De Meli trank das Zeug wie Kinder ein Glas Fassbrause. Es schüttelte ihn. Sein Hals kratzte.

Wahrscheinlich waren es die Zigarren. Henri rauchte meistens mehrere an einem Abend. Er selbst vertrug sie nicht, paffte nur ein paar Züge, ließ sie ausgehen, behielt sie aber zwischen den Fingern. Es machte sich so gut, wenn er erklärte und ausholte, und dann so eine teure Zigarre dabei hielt, fand Julius Zumpe. Bei de Meli gab es immer teure Havannas. Überhaupt war alles sehr teuer in dem Herrenzimmer. Die Wohnung selbst war riesig. Ausgestattet mit den feinsten Tapeten, edlen Möbeln und dicken, leuchtenden Orientteppichen. Zumpe gefiel es bei den de Melis. Zu gern hätte er selbst so gelebt. Doch sein mageres Arztsalär reichte dafür vorn und hinten nicht. All die unbezahlten Rechnungen! Wenn die Patienten vor ihm saßen oder lagen – mit wässrigen Augen, blasser Haut und schwacher Stimme. Dann hatten sie Angst und waren bereit, alles zu tun, um schnell wieder auf die Beine zu kommen. Auch sein Honorar zu zahlen. Doch kaum ging es ihnen wieder besser, vergaßen sie Dr. Zumpe und die offenen Abrechnungen. Es war eine Last! Mit welcher Unverfrorenheit einige aus den feinsten Familien darauf hofften, dass auch er sie vergaß. Ein schönes Schlückchen Cognac oder eine Flasche französischer Rotwein sollten doch wohl genug sein, schienen manche zu denken. Julius Zumpe spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

Er hatte noch nicht gefrühstückt. War gleich nach einer starken Tasse Kaffee aufgebrochen, um pünktlich hier zu sein – in der Räcknitzstraße. Bei seinen zahlungskräftigsten und zahlungswilligsten Patienten, der Familie de Meli. Er zog die Taschenuhr hervor. Noch vier Minuten, dann war es sieben Uhr. Er sah die Fassade hinauf. Ein Fenster in der zweiten Etage war erleuchtet. Vermutlich das Schlafzimmer von Henri. Gott sei Dank. Er war aus dem Bett gekommen. Bei den Mengen dieser grünen Grässlichkeit gestern Abend war Zumpe sich darüber nicht so sicher gewesen. Aber umso besser. Er schloss für einen Moment die Augen, hörte die Tauben. Ihr Gurren beruhigte ihn. Er dachte an Florence. Er mochte sie. Im Grunde ihres Herzens war sie eine liebenswürdige Person, überlegte er. Aber sie hatte den falschen Mann geheiratet. Dieses ewige Aufbegehren, dieses Reizen, ihre Unvernunft. Warum nur? Wäre sie besonnener und reifer, dann hätte sie längst die Vorzüge dieser Ehe erkannt und wäre ihrem Mann eine ebenbürtige Partnerin. Würde seine Trunksucht vielleicht zu beschwichtigen wissen, würde ihn stärken und ihm ein guter Kamerad sein. Aber so? Sie zündelte immer wieder mit neuen Feuerchen, die ihren Mann rasend machten. Der Arzt beobachtete mit Sorge, dass Henris Griff zu starken Alkoholika zugenommen hatte. Ebenso die Momente seiner Unbeherrschtheit.

Er seufzte. Zwei Minuten vor sieben. Zum Glück war die alte Frau de Meli noch so rüstig. Sie liebte ihre Enkelkinder sehr, vor allem das kleine Mädchen. Sie würde sich um die beiden kümmern und ihren Sohn entlasten, wenn Florence fort war. Fort in Pirna Sonnenstein. Zumpe spürte wieder dieses Ziehen in der Magengegend. Zweimal war er dort gewesen in der ehemaligen Festung. Selbst für ihn als erfahrenen Mediziner war es eine ganz eigene Welt – eine Welt, in der er sich nicht länger als unbedingt nötig aufhalten wollte. Er bewunderte die Kollegen Psychiater, die Nervenärzte, die tagein, tagaus zwischen all diesen … Patienten tätig waren. Nein, diese geistigen Krankheiten, diese Verrücktheiten, dieser Wahnsinn – damit konnte Zumpe nicht umgehen. Sein Stethoskop und das alte, liebgewonnene Hörrohr aus Buchenholz waren dort nutzlos. Julius Zumpe streckte sich und setzte den Zylinder noch einmal fest auf den Kopf. Aber wenn es doch nicht anders ging? Wenn es doch hier zu Hause keine Heilung gab? Florence de Meli würde ein Aufenthalt dort guttun, beruhigte er sich. In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Sieben Uhr. Er schritt zum Eingang und wartete, bis Henri de Meli persönlich zur Tür kam und ihn hineinließ. Die Türklingel hätte nur für Unruhe gesorgt. Und die gab es im Haushalt de Meli schon so genug.

Florence hatte die halbe Nacht wach gelegen. Sie hatte viel geweint. Die Reisetasche war gepackt, die blaue Truhe auch, dazu hatte sie zwei Briefe an ihre Kinder geschrieben, die Adele im Fall der Fälle an sich nehmen und später Henry und Minnie vorlesen sollte. Die zwei mussten wissen, dass ihre Mutter sich nicht wortlos aus ihrem Leben gestohlen hatte. Florence weinte und weinte. Sie fühlte sich hilflos und gedemütigt. So ausgeliefert, wenn es stimmte, was Adele ihr aus dem Herrenzimmer zugetragen hatte. Dann wieder packte sie die Wut. So würde sie nicht mit sich umspringen lassen! Einfach wegsperren, und dann ist Ruhe. Das hatte sich Henri ja fein überlegt. Aber dahinter steckte ihre Schwiegermutter. Henri war viel zu schwach. Eines Tages würde sie es dieser alten, missgünstigen Hexe heimzahlen. Doch jetzt? Was jetzt? So ging es die halbe Nacht, als Florence tränenblind über ihren Habseligkeiten saß und Fluchtpläne schmiedete. Sie durfte keine Zeit verlieren. Noch morgen musste sie fort. Nicht länger warten, bis es vielleicht schon zu spät war. Wieder kamen ihr die Tränen, und mit nassem Gesicht schlief sie endlich ein.

Die Klinke wurde heruntergedrückt. Geräuschlos öffnete sich die Tür. Dr. Zumpe lugte ins Zimmer. Zylinder und Mantel hatte er abgelegt. Seine Arzttasche stand gleich neben der Garderobe. Jetzt hielt er nur eine Spritze in der Hand. Sie war aufgezogen – randvoll mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Er sah sich um. Im Halbdunkel sah er die hastig gepackte Reisetasche vor dem Schrank, daneben die blaue Reisetruhe. Auf der gepolsterten Bank am Fußende des Bettes stapelten sich mehrere Kleider, Nähutensilien lagen verstreut auf dem Boden. Langsam ging er zum Bett. Florence schlief. Ihr dunkles Haar breitete sich auf dem Kopfkissen aus. Sie macht sich vor dem Schlafengehen keine Zöpfe, wunderte er sich. Schönes, lockiges Haar. Im Schlaf sah sie noch jünger aus, beinahe wie ein Mädchen. Sie schien zu träumen, ihr Gesichtsausdruck wirkte gequält. Sie stöhnte im Schlaf, dann wälzte sie sich zur Seite. Zumpe drehte sich um. Henri stand im Türrahmen; bereit, zur Hilfe zu eilen, wenn es nottat. Er sah schrecklich aus. Der riesige Vollbart lag wie ein struppiges Kissen auf seiner Brust. Die wenigen Haare auf seinem Kopf standen ab. Man sah ihm an, dass er nicht die Zeit gefunden hatte, sich zu waschen. Julius Zumpe empfand einen kurzen Moment des Widerwillens. Warum begab er sich und seine hoffnungsvolle Karriere in die Hände eines solchen Mannes? Die Antwort hatte er sich selbst in den vergangenen Tagen immer und immer wieder gegeben: Weil er zahlte, weil er sehr gut zahlte. Und weil Henri dafür sorgte, dass Dr. Carl Julius Zumpe zu einer medizinischen Instanz in der amerikanischen Gemeinde wurde.

Er würde jetzt diese junge Frau, die so unschuldig in ihrem Bett lag, von ihrem Ehemann befreien. Wenigstens eine Zeit lang. So hatte Zumpe es sich zurechtgelegt, bis es für ihn selbst Sinn ergab. Und dann griff er blitzschnell nach dem rechten Arm von Florence, Henri sprang hinzu und hielt ihn fest, sodass die Nadel der Spritze die Vene problemlos fand. Florence machte ein Geräusch, es klang wie ein Seufzen. Dann riss sie die Augen auf, sah die Männer direkt vor sich, spürte den Schmerz in ihrem Unterarm. Sie versuchte, ihren Arm fortzureißen, wollte sich wegdrehen, wollte schreien. Ein klagender Katzenlaut. Ein Blutstropfen fiel hinab. Zumpe ließ den Arm los.

»Frau de Meli, es ist besser so. Glauben Sie mir!«, sagte er und blickte ihr fest in die Augen.

»Nein! Lassen Sie mich! Lassen Sie mich!« Florence schrie und versuchte, aus dem Bett zu kommen. Doch die Beine gehorchten ihr nicht. Auch die Zunge fühlte sich mit einem Mal schwer und taub an. Ihr ganzer Körper sackte langsam zusammen. Noch einmal sah sie den Arzt an, fiel zurück und lag dann beinahe so friedlich da, wie Dr. Zumpe sie vor wenigen Minuten vorgefunden hatte. Der Arzt war erleichtert.

Als Adele wenig später in das Zimmer ihrer Herrschaft kam, ahnte sie nicht, dass der tiefe Schlaf, in den Florence gefallen war, das Werk von Dr. Zumpe war. Erst als Henri sie anwies, Florence anzukleiden und reisefertig zu machen, begriff sie, dass der schäbige Plan der beiden Männer nach dem Gespräch am Abend schon jetzt in die Tat umgesetzt wurde. Zumpe und Henri zogen sich in das Herrenzimmer zurück und nippten an ihren Tassen mit starkem Mokka. Während Adele mit Tränen in den Augen vor der betäubten Florence stand und versuchte, sie anzukleiden, zog der Duft von frischem Rührei mit Speck durch die Wohnung.

»Lieber Doktor, sicher hatten Sie heute Morgen noch keine Gelegenheit für ein Frühstück«, befand Henri und wies auf die großen Portionen Eier zusammen mit einer Auswahl an Räucherfisch und eingelegten Heringen. »Wissen Sie, ich habe einmal gelesen, dass salzige Speisen dem Organismus guttun, gerade wenn es am Abend zuvor etwas später geworden ist«, fuhr er fort.

Dr. Zumpe nickte fahrig.

Die häusliche Situation schlug Henri nicht auf den Magen. Im Gegenteil – beherzt füllte er sich seinen Teller schon zum zweiten Mal. »Köstlich! Und dann das Brot, Dr. Zumpe, das müssen Sie probieren! Wir haben eine neue Köchin. Sie kann auch sehr gut backen, hervorragend!« Er strich sich ein paar Krümel aus dem Bart und läutete nach dem Dienstmädchen.

Adele kam angehastet.

»Die Köchin soll kommen. Ich möchte sie persönlich sprechen.«

Wenig später stand die neue Köchin im Türrahmen und wischte sich verlegen die Hände an der Schürze ab. Sie war sehr jung, wohl Anfang 20, und kräftig für ihr Alter. Ihr Gesicht war gerötet. Vielleicht aus Verlegenheit. Vielleicht von der Arbeit am Herd.

»Gnädiger Herr, Sie wünschen?«

Henri betrachtete sie interessiert. »Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Selma. Selma Fischer, gnädiger Herr.« Sie wagte nicht aufzusehen, sie war erst seit ein paar Tagen im Haus und fürchtete das vorzeitige Ende ihrer Anstellung.

Henri gefiel, was er sah. »Ich wollte es Ihnen gern persönlich sagen. Ganz köstlich, dieses Frühstück hier. Hervorragend.«

Erleichtert blickte die Köchin auf. »Danke sehr. Ich freue mich.« Sie knetete ihre Hände.

»Weiter so, Fräulein Fischer!« Henri nickte noch einmal in ihre Richtung und beglückwünschte sich im Stillen doppelt zu dieser Personalentscheidung. Die Frau verstand ihr Handwerk, und sie hatte so etwas an sich …

Die Wirkung des Chloralhydrats würde zwei oder drei Stunden anhalten, erklärte Zumpe. Bis dahin musste Florence in der Festung Sonnenstein sein.

Henri nickte. »Ja, ja, richtig. Die Zeit drängt.« Er nahm sich noch einen Löffel von dem Rührei und aß hastig. »Sie machen das, nicht wahr? Adele kann Sie begleiten. Dann hat Florence wenigstens jemand Vertrautes bei sich.«

Etwas Rührei hatte sich in seinem Bart verfangen. Dr. Zumpe starrte auf den gelben Klecks. »Ja, das ist eine gute Idee. So machen wir es.« Ihm wollte das Rührei nicht schmecken. Er roch noch den kalten Rauch vom Vorabend im Zimmer. Sein Magen war empfindlich.

Bald darauf saß der Doktor in einer Droschke. Ihm gegenüber eine zusammengesunkene Florence, die mühsam von ihrem Dienstmädchen gestützt wurde. Adele beobachtete den Arzt, während sie die Hand der bewusstlosen Florence hielt. »Sie sollten erst einmal bei Ihrer Herrschaft bleiben«, sagte Zumpe und vermied es, der jungen Frau in die Augen zu sehen.

Adele nickte. »Natürlich, ich kann sie doch in diesem Zustand nicht allein lassen.«

»Richtig, richtig. Natürlich nicht.« Zumpe strich vorsichtig über sein Revers. Auch in eher unschönen Momenten wie diesem hier sollte der Anblick eines Arztes immer frei von Tadel sein. Das war sein Standpunkt, und auf sein Äußeres wollte er nichts kommen lassen. Selbst wenn bloß ein Dienstmädchen vor ihm saß.

Die Fahrt dauerte rund eineinhalb Stunden. Mit der Eisenbahn wären sie schneller gewesen, dachte Zumpe. Aber mit Pferd und Wagen war es wesentlich diskreter. Zum wiederholten Mal klappte er seine lederne Tasche auf und vergewisserte sich, dass alle Unterlagen zusammen waren. Das von ihm selbst ausgestellte Attest, dazu die Aussagen von Henri, von dessen Mutter und der Witwe Clarkson. Alle hatten eindeutig bezeugt, dass Florence de Meli aufgrund ihrer Abgeschlagenheit und Melancholie gepaart mit Ausbrüchen beinahe feindseliger Art nicht mehr in der Lage war, ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau gerecht zu werden. Ein klarer Fall von weiblicher Hysterie, befand der Arzt, der dennoch unruhig war, weil ihm der Stempel eines Amtsarztes fehlte. Doch diesen offiziellen Teil würde man sicher in Sonnenstein nachholen können, beruhigte er sich.

Er hörte die Peitsche knallen. Der Anstieg hoch zur ehemaligen Festung verlangte den beiden Pferden einiges ab. Das Gefährt rumpelte die Straße hinauf. Endlich waren sie angekommen. Zumpe riss die Tür auf und meldete sie an. Nur ein paar Minuten später kamen zwei muskulöse Wärter mit einer Krankenwiege, auf die die bewusstlose Florence gehievt wurde. Adele ließ es sich nicht nehmen, direkt neben der Wiege zu gehen und ihrer Herrin weiterhin die Hand zu streicheln, auch wenn die Wärter dafür kein Verständnis hatten, sondern sich – ganz im Gegenteil – über die Anhänglichkeit lustig machten. »Na, ist deine Herrschaft wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf, was?«

»Dann ist sie bei uns genau richtig. Bei uns kommen alle an – von der feinen Dame bis zur Hausiererin. Verrückt ist verrückt, da ist es ganz egal, wie viel Geld die Leute haben«, pflichtete ihm sein Kollege bei und lachte verächtlich.

Adele schoss das Blut in den Kopf. Eine solche Gemeinheit! Doch was sollte sie gegen die Männer sagen? Nachher ließen sie Frau de Meli noch herunterfallen. Ihr war zum Weinen zumute, als sie den Frauentrakt betrat, der zu der alten Festung gehörte, und die schwere Eichentür hinter ihnen ins Schloss fiel.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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484 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839268063
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