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Kapitel 4

Am nächsten Morgen, nachdem wir gemeinsam gefrühstückt hatten und Nick zur Arbeit gefahren war, machte ich mich mit Pepper auf den Weg. Ich wollte mir das Grundstück meiner ersten Auftraggeber in Kampen ansehen. Dort wurde zwar am Haus gebaut, aber es konnte nicht schaden, wenn ich mir ein grobes Bild machen würde, wie der Garten im Verhältnis zum Haus geplant war. Bislang waren mir nur wenige Details bekannt. Bei der Gestaltung war es nicht unerheblich zu wissen, wie die Nachbargrundstücke gelegen und gestaltet waren. Schließlich sollte alles zueinander passen und sich gefällig ins Landschaftsbild einfügen. Das Grundstück grenzte unmittelbar an eine freie Heidefläche, daher wollte ich die Übergänge nicht zu abrupt und hart, sondern fließend gestalten. Zäune im klassischen Stil, wie man es vom Festland her kannte, gab es auf Sylt selten. Meistens waren die Grundstücke von einem Steinwall umgeben, der sogenannten Sylter Mauer, oder sie waren überhaupt nicht eingezäunt. Die Sylter Mauer war meistens mit Heckenrosen oder kleinen Kiefernbüschen bepflanzt.

Ich fuhr mit meinem Wagen die Hauptstraße in Morsum entlang nach Archsum und weiter in Richtung Keitum. Als ich den Bahnübergang kurz vor Keitum erreicht hatte, schaltete die Ampel auf Rot und die Bahnschranken schlossen sich. Ich hielt direkt an dritter Stelle hinter einem anderen Auto und stellte den Motor ab. Nach höchstens einer Minute Wartezeit fuhr ein Autozug aus Richtung Niebüll mit lautem Scheppern an uns vorbei. Er war mit wenigen Pkw und einigen Kleintransportern besetzt. Für die vielen Urlauber, die täglich auf die Insel kamen, war es zu früh am Morgen. Der große Ansturm begann um die Mittagszeit, da erst dann die allermeisten Fahrzeuge in Niebüll an der Verladestation ankamen. Schließlich kamen die Gäste aus ganz Deutschland und hatten dementsprechend oft eine lange Anreise. Ab und zu sah man Wagen mit Kennzeichen aus der Schweiz, Frankreich und sogar Italien auf der Insel herumfahren. Ich sah im Rückspiegel, dass Pepper neugierig aus dem Fenster der Heckscheibe blickte, um zu prüfen, warum wir hielten. Während der Fahrt war von ihm meistens nichts zu sehen oder zu hören, und er tauchte erst auf, wenn sich die Geschwindigkeit verlangsamte oder das Auto zum Stehen kam. Behäbig öffneten sich die Schranken, die rote Warnleuchte erlosch, und die ersten Fahrzeuge rollten über den Bahnübergang. Ich beschloss, die Route nach Kampen über Munkmarsch und Braderup zu nehmen und bog entsprechend an der nächsten Abzweigung nach rechts ab. Damit wollte ich dem morgendlichen Berufsverkehr in und um Westerland herum entgehen. Außerdem gefiel mir die Strecke an der Wattseite der Insel entlang besser. Man konnte das Meer und dazwischen Weide- und Heidelandschaft sehen. Auf einigen Wiesen standen große Wasserlachen, die langsam versickerten. Bald würden hier Rinder und Schafe weiden. Der vergangene Winter hatte viel Schnee gebracht, was eher ungewöhnlich für die Nordseeküste war. Ich hatte es trotzdem sehr genossen, denn ich liebte schneereiche und kalte Winter. An der Nordsee rief eine verschneite Landschaft einen ganz besonderen Zauber hervor. Die verschneiten reetgedeckten Häuser wirkten besonders hübsch und behaglich und strahlten eine friedliche Ruhe aus. Man hatte das Gefühl, dass der Trubel und die Hektik völlig an ihnen abprallen würden. Auch der verschneite Strand war ein einmaliger Anblick und ließ mein Herz jedes Mal höher schlagen. An der Wattseite hatten sich in diesem Winter durch die lang anhaltende Kälte dicke Eisschollen gebildet und die Landschaft erstarren lassen. Am späten Nachmittag wurde alles von der untergehenden Sonne in ein bizarres rötliches Licht getaucht. Ich konnte mich an diesem Anblick gar nicht satt sehen. Doch jetzt Ende März war der Winter vorbei. Die Insel erwachte zu neuem Leben und wurde in zartes Grün gehüllt. Auf dem Deich und den Wiesen wurden die ersten Lämmer geboren und staksten auf ihren wackeligen Beinen ihren Müttern hinterher.

Mittlerweile hatte ich den Ortseingang von Kampen erreicht. Mein Navigationsgerät verriet mir, dass ich mein Ziel in weniger als zwei Minuten erreicht hatte. Ich bog gemäß Anweisung zweimal ab und stand vor einem großen Grundstück, umgeben von einem gitterartigen Bauzaun aus Metall. Einige Kleintransporter unterschiedlicher Baufirmen parkten davor, Handwerker liefen geschäftig hin und her. Die Dachdecker waren dabei, das halbfertige Haus mit einem Reetdach zu versehen. Auch im Inneren des Hauses wurde gehämmert und gesägt. Ich stellte meinen Wagen etwas abseits ab, stieg aus und öffnete die Heckklappe meines Geländewagens, um Pepper rauszulassen. Dann marschierte ich mit ihm zu der Baustelle.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, junge Frau?«, fragte mich einer der Männer in grauer Arbeitshose und schwarzem Fleecepullover, als ich das Grundstück über eine Bretterbohle betrat.

»Nein danke. Ich wollte mich nur umsehen«, sagte ich und bemerkte seinen misstrauischen Blick. Daher ergänzte ich schnell: »Ich bin die Landschaftsarchitektin, die den Garten anlegen soll, und wollte mir ein Bild von allem machen. Anna Bergmann ist mein Name.«

Ich reichte ihm meine Hand zur Begrüßung. Sein Händedruck war kräftig, und sein sonnengegerbtes Gesicht bekam einen freundlichen Ausdruck. Kleine Fältchen um Augen und Mund wurden beim Lächeln sichtbar.

»Okay, kein Problem! Ole Phillips, entschuldigen Sie bitte mein anfängliches Misstrauen, aber hier laufen manchmal Leute herum, die hier nichts zu suchen haben, da kann man nicht vorsichtig genug sein. Na, dann viel Spaß, Frau Bergmann! Sehen Sie sich in Ruhe um. Aber passen Sie auf, dass Sie nicht über irgendetwas stolpern«, sagte er und nickte mir zu.

Dann schulterte er mit Leichtigkeit einen großen Sack Mörtel von der Ladefläche eines der Kleintransporter und verschwand im Haus. Ich ging mit Pepper über das gesamte Grundstück. Bislang war von einer Gartenfläche nicht viel zu erkennen. Überall waren Sand- und Erdhügel aufgeschüttet und dazwischen Paletten mit Steinen und anderen Baumaterialien gestapelt. Pepper steckte neugierig seine Nase in einen schwarzen Eimer. Ich würde erst aktiv werden können, wenn alles komplett beseitigt war, dachte ich. In Gedanken stellte ich mir Gruppen von Hortensienbüschen auf der einen und den typischen Sylter Heckenrosen auf der anderen Seite vor. Ich liebte den betörenden Duft der Heckenrosen, den sie zur Blütezeit ab Mai überall auf der Insel verströmten. Im Herbst und Winter boten ihre dicken roten Hagebutten eine willkommene Nahrung für Vögel. Und zwischen alledem könnte man einzelne Gehölze, die nicht zu groß werden, aber dennoch einen gewissen Sichtschutz boten, pflanzen, überlegte ich. Das Grundstück sollte nach Aussage der Eigentümer möglichst pflegeleicht gestaltet werden. Das waren ohnehin die meisten Gärten auf der Insel. Das hatte in erster Linie den Grund, dass die meisten Häuser als Feriendomizil oder Zweitwohnsitz genutzt wurden, besonders hier in Kampen. Die Besitzer waren selten mehr als ein paar Wochen im Jahr vor Ort und konnten oder wollten sich nicht selbst um die Pflege ihrer Grundstücke kümmern. Aus diesem Grund gab es genügend Unternehmen auf der Insel, die eigens dafür ihre Dienste anboten und sich darauf spezialisiert hatten.

Nachdem ich das gesamte Grundstück ausgiebig inspiziert und Ole Phillips signalisiert hatte, dass ich gehen würde, schlenderte ich noch zu Fuß durch die Straßen von Kampen. Hier und da waren Gärtner dabei, die Gärten aus dem Winterschlaf zu befreien. Es wurde geschnitten, geharkt und gepflanzt. Ich sah zum Himmel, wo sich ein Sonnenstrahl den Weg durch die Wolkendecke freibahnte. Die Wolkenlücken wurden immer größer und die Sonne würde nicht mehr lange brauchen, um den Kampf gegen die Wolken zu gewinnen. Der Tag versprach, sonnig zu werden. Herrlich! Plötzlich hörte ich mein Handy in der Jackentasche klingeln. Ich blieb kurz stehen, um nachzusehen, wer mich anrief. Ein Blick auf das Display verriet mir, dass es Britta war.

»Hallo, Britta! Wie geht’s? Was kann ich für dich tun? Ich hatte schon befürchtet, meine Mutter ruft wieder an«, fragte ich gut gelaunt und ging währenddessen langsam weiter. Pepper schnüffelte intensiv an einem Laternenpfahl, der wahrscheinlich von einem seiner Kollegen markiert worden war. Er hob kurz das Bein, um es seinem Vorgänger gleichzutun.

»Hallo, Anna!«, hörte ich die Stimme meiner Freundin. Mir fiel sofort auf, dass sie nicht so unbeschwert wie gewöhnlich klang.

»Was ist los?«, wollte ich wissen.

»Wo bist du gerade? Können wir uns treffen? Gleich?«

»Ich laufe durch Kampen und habe eine Baustelle angesehen, aber ich habe Zeit. Ist etwas passiert?«

Ich war ernsthaft besorgt.

»Erzähle ich dir gleich, nicht am Telefon. Kannst du nach Westerland kommen? Sagen wir in 20 Minuten im ›Café Wien‹? Geht das?«

»Ja, kein Problem. Kann sein, dass ich etwas länger bei der Parkplatzsuche brauche. Aber ich fahre gleich los. Wartest du drinnen?«.

»Ach, Anna. Ja, ich gehe schon rein und warte auf dich. Bis gleich.«

Nachdenklich steckte ich das Handy in meine Tasche und machte mich mit Pepper auf den Weg zu meinem Auto. Ich setzte den Hund nach hinten und fuhr schleunigst nach Westerland. Dieses Mal nahm ich den schnellsten Weg und wählte in Wenningstedt am Kreisel die zweite Ausfahrt in Richtung Süden.

In Westerland angekommen, parkte ich in einer der Nebenstraßen. Dann zog ich ordnungsgemäß einen Parkschein an einem der Parkscheinautomaten und ging mit großen Schritten durch die Fußgängerzone dem verabredeten Treffpunkt entgegen, dem ›Café Wien‹ in der Strandstraße. Ich machte mir Sorgen um meine beste Freundin. Sie hatte am Telefon merkwürdig geklungen. Hoffentlich war niemandem etwas zugestoßen. So bedrückt hatte ich Britta selten erlebt. Ich betrat das Café mit unwohlem Gefühl und blickte mich nach ihr um. Heute hatte ich gar kein Auge für die herrlichen Torten, Kuchen und anderen Köstlichkeiten, die den Besucher beim Betreten des Cafés durch die gläserne Theke anlächelten. Ganz hinten an der Wand saß Britta an dem Tisch unter dem großen Bild mit der roten Mohnblüte. Ich erkannte sie sofort an ihrem hellblonden Haar. Sie winkte und lächelte, als sie mich näher kommen sah. Ich bahnte mir den Weg zwischen den anderen Stühlen und Tischen hindurch. Pepper hatte Britta ebenfalls entdeckt und begrüßte sie schwanzwedelnd. Dabei hätte er vor lauter Freude beinahe eine Serviette vom Nachbartisch gefegt. Das Ehepaar an dem Tisch amüsierte sich darüber. So viel Verständnis wurde einem nicht von jedem entgegengebracht.

»Danke, dass du gleich kommen konntest«, begrüßte mich Britta.

Anschließend streichelte sie Pepper flüchtig über den Kopf.

»Ja, klar. Was ist denn los?«, wollte ich endlich wissen, zog meine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne.

Dann nahm ich Britta gegenüber Platz und sah sie erwartungsvoll an. Bevor sie allerdings zu sprechen begann, stand eine Bedienung an unserem Tisch, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. Britta bestellte einen großen Milchkaffee und ich einen Earl Grey. Als absoluter Teeliebhaber war ich auf Sylt genau richtig. Überall gab es Teegeschäfte. Ein wahres Paradies für jeden Teefreund mit allem, was das Herz eines Teetrinkers höher schlagen ließ.

»Ich glaube, Jan hat eine andere«, sagte Britta geradeheraus und bekam nasse Augen.

Ich war zutiefst schockiert über ihre Worte, da ich mit allem gerechnet hatte, aber nicht damit. Ich wusste im ersten Augenblick überhaupt nicht, was ich sagen sollte.

»Aber Britta, wie kommst du darauf? Bist du dir sicher?«

»Nein, sicher nicht, aber er ist in letzter Zeit so komisch und tut so geheimnisvoll. Ich habe ihn darauf angesprochen, ob es irgendetwas gibt, was ihn bedrückt oder er mir sagen will.«

»Und? Was hat er geantwortet?«

»Er hat mich nur ungläubig angesehen und es rigoros abgestritten. Ich würde mir das alles einbilden, er wäre ganz normal. Wie immer eben. Ich solle mir keine Gedanken machen.«

»Und warum denkst du dann, dass der Grund für sein Verhalten eine andere Frau sein könnte? Das kann doch alles Mögliche sein. Vielleicht hat er sehr viel zu tun im Moment oder hat sich über irgendetwas sehr geärgert.«

Britta schüttelte verneinend mit gesenktem Blick den Kopf.

»Nein, das hätte er mir sicher erzählt. Das ist es nicht. Heute Morgen habe ich gehört, wie er ›das ist ja wunderbar‹ und ›ich freue mich drauf‹ gesagt hat. Er hat gedacht, ich sei im Badezimmer und könne ihn nicht hören, aber ich war auf dem Weg in die Küche.« Ich hörte ihr aufmerksam und zugleich fassungslos zu. »Du hättest ihn mal hören sollen, wie er gesäuselt hat. So spricht er nicht mit gewöhnlichen Geschäftspartnern oder Angestellten. Da steckt etwas anderes dahinter, das steht völlig außer Frage. Außerdem benutzt er ein neues Aftershave.«

Eine dicke Träne lief Britta über die Wange, doch sie wischte sie sofort energisch weg. Schwäche zu zeigen, war nicht ihre Art.

»Hast du irgendetwas von dem verstanden, was gesprochen wurde?«, wollte ich wissen.

»Nein, ich habe nur gehört, dass er sich sehr freuen würde. Das reicht ja wohl!«

»Aber Britta, das kann alles Mögliche gewesen sein! Vielleicht ging es um eine Angelegenheit, die das Hotel betrifft. Eine Bestellung zum Beispiel. Dahinter muss nicht gleich eine andere Frau stecken. Und was das neue Aftershave betrifft, da kann er was Neues ausprobieren. Du hast doch auch hin und wieder ein anderes Parfüm, oder?«

»Meinst du? Aber ich habe trotz allem so ein ungutes Gefühl. Dann hätte er doch klipp und klar sagen können, mit wem er gesprochen hat. Stattdessen tut er so, als wäre es nicht wichtig. Warum frage ich dich? Und das alles kurz vor unserem zehnten Hochzeitstag!«

Britta saß wie ein Häufchen Elend zusammengesunken auf ihrem Stuhl und legte die Hände in den Schoß. Die Kellnerin brachte unsere Getränke und wäre dabei beinahe auf Pepper getreten, der neben meinem Stuhl, halb unter dem Tisch schlief.

»Der Tee muss drei Minuten ziehen«, betonte sie, als sie die kleine Teekanne mit der Tasse vor mir abstellte.

Ich nickte dankend. Dann entfernte sie sich von unserem Tisch.

»Also, Britta«, fuhr ich fort, während ich nach einem Stück Kandis aus dem Schälchen auf unserem Tisch angelte, »ich weiß nicht. Sehr überzeugend klingt das alles nicht, wenn du mich fragst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jan dich betrügen sollte. Das passt so gar nicht zu ihm.«

»Das hast du von Marcus zu Beginn auch nicht gedacht, wenn ich dich erinnern darf, oder?«

»Marcus! Den kannst du unmöglich mit Jan vergleichen. Da prallen zwei völlig verschiedene Welten aufeinander. Marcus war sich immer selbst am nächsten. Die Worte Verantwortung und Treue gehören nicht in seinen Wortschatz. Ich wollte das nur von Anfang an nicht wahrhaben. Aber wo wir beim Thema sind. Stell dir vor: Marcus hat gestern bei meinen Eltern angerufen.«

Britta sah mich entgeistert an. Sie hätte sich fast an ihrem Kaffee verschluckt.

»Das ist nicht dein Ernst?«

»Doch, mein voller Ernst sogar.«

»Und was wollte er? Der ruft doch nicht an, um zu hören, wie es allen geht. Schon gar nicht nach so langer Zeit. Da steckt mit Sicherheit mehr dahinter. Da könnte ich wetten.«

»Natürlich nicht. Angeblich will er mir irgendwelche Erinnerungsstücke schicken, die er beim Aufräumen gefunden hat. Außerdem benötigt er dringend eine Unterschrift von mir eine Versicherungspolice betreffend.«

Britta setzte eine skeptische Miene auf und legte dabei die Stirn in tiefe Falten.

»Ja, mir ist eingefallen, dass wir seinerzeit eine Kapitallebensversicherung abgeschlossen hatten. Sie lief jedoch nur auf Marcus, ich war nur als Begünstigte eingetragen, falls ihm etwas zustoßen sollte. Es handelt sich dabei allerdings um eine geringe Summe, wenn ich mich richtig erinnere. Wahrscheinlich geht es darum. Ach, was weiß ich, wird schon nicht so wichtig sein«, ergänzte ich.

»Marcus und Geld. Da müssten bei dir alle Alarmglocken läuten, Anna!«, sagte Britta und verzog den Mund.

»Wie könnte ich das vergessen! Wir hatten ständig Sorgen, weil Marcus unser Geld für alles Mögliche ausgegeben hat, ohne es vorher mit mir abzusprechen. Viel schlimmer war, dass wir es gar nicht hatten. Aber ich habe mit ihm nicht mehr das Geringste zu tun. Es ist mir völlig egal, was Marcus jetzt macht. Das habe ich Nick gesagt.«

»Nick?« Britta zog überrascht eine Augenbraue hoch.

»Er war gestern komisch und hat wissen wollen, ob ich oft an Marcus denke. Scheinbar bringt der nahende Frühling unsere Männer etwas aus dem Konzept.«

Ich schüttelte lachend den Kopf und goss mir Tee in die Tasse. Der Kandis knisterte laut und zerfiel in viele kleine Stücke, bevor er sich gänzlich auflöste. Ein angenehmer Duft von Bergamotte stieg mir aus der dampfenden Tasse in die Nase.

»Nick liebt dich über alles, Anna, und will dich nicht verlieren. Das ist doch klar, dass er da hellhörig wird, wenn plötzlich der Ex zur Sprache kommt«, stellte Britta fest und sah auf ihre Armbanduhr.

»Ich weiß, aber Jan liebt dich doch auch. Sprich ganz in Ruhe mit ihm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da irgendetwas im Argen liegt. Es ist besser, du klärst das so schnell wie möglich, ehe sich die Fronten verhärten. Den Tipp hat mir übrigens vor Kurzem eine sehr gute Freundin gegeben.«

Ich zwinkerte ihr zu, und ein zaghaftes Lächeln erschien auf Brittas Gesicht. Sie holte tief Luft.

»Ich hoffe, du hast recht. Jetzt muss ich leider los. Die Jungs haben Hunger, wenn sie aus der Schule kommen, und der Kühlschrank ist fast leer. Ich muss schnell etwas einkaufen. Ich weiß noch nicht, was ich kochen soll. Zurzeit stehe ich ein bisschen neben mir.«

»Spaghetti oder Pizza gehen immer! Halte mich auf dem Laufenden, okay? Und melde dich jederzeit, wenn du mich brauchst oder reden willst«, fügte ich hinzu.

»Mach ich«, erwiderte Britta und zog sich die Jacke an.

»Das mache ich, lass mal«, sagte ich, als Britta in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie suchte.

»Danke, Anna. Also, bis später. Grüße an Nick!«

»Tschüss, Britta! Werde ich ausrichten.«

Ich sah ihr nach, als sie auf den Ausgang zusteuerte und um die Ecke verschwand. Pepper hatte nur leicht den Kopf gehoben und blickte zu mir hoch. Als er merkte, dass ich keine Anstalten machte aufzustehen, legte er sich wieder auf die Seite und schlief weiter. Brittas Verdacht machte mich traurig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr Mann eine Affäre haben sollte. Das passte überhaupt nicht zu ihm, und das traute ich ihm nicht zu. Er liebte Britta und seine Kinder. Er würde das alles nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Oder doch? Aber irgendetwas musste nicht stimmen, wenn Britta so niedergeschlagen war. Sie war sonst der reinste Sonnenschein und sah stets das Positive im Leben. Die Rolle der Skeptikerin wurde mir zuteil. Ich war misstrauisch und rechnete oft mit dem Schlimmsten. Aber nicht Britta. Ich fühlte mich hilflos und wünschte mir in diesem Augenblick, dass sie sich gründlich täuschen möge.

Kapitel 5

»Chef, könnten Sie bitte kommen? Hier ist Besuch für Sie«, sagte die junge Sprechstundenhilfe und steckte den Kopf durch den Türspalt des Behandlungszimmers.

»Jennifer, Sie sehen doch, dass ich zu tun habe. Hat das nicht bis später Zeit?«, antwortete Marcus verärgert, ohne sie anzusehen.

»Ich glaube, es wäre ratsam, wenn Sie gleich kommen könnten.« Sie lachte verlegen. »Die beiden Herren sind etwas ungehalten«, fügte Jennifer hinzu und zog eine Grimasse.

»Herr Gott, ja, meinetwegen, ich komme«, stöhnte Marcus. An seinen Patienten auf dem Behandlungsstuhl vor sich gerichtet fuhr er fort: »Einen Moment, Herr Münzer, es geht gleich weiter. In der Zwischenzeit können Sie in Ruhe Abschied von Ihrem Zahn nehmen. Die Betäubung braucht ohnehin noch ein paar Minuten.«

Der Mann, der nervös das Papiertaschentuch zwischen seinen Fingern knetete, sah Marcus mit weit aufgerissenen Augen ängstlich an. Kleine Schweißperlen waren an seinem Haaransatz zu erkennen, die sich in Richtung seiner Stirn auf den Weg machten. Mit panischem Blick sah er zu der Zahnarzthelferin, die ihm wohlwollend zunickte. Dann reichte sie dem Mann ein neues Papiertuch und schenkte gleichzeitig ihrem Chef einen mahnenden Blick. Aber Doktor Marcus Strecker zog sich davon unbeeindruckt die Gummihandschuhe aus, nahm den Mundschutz ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und verließ das Behandlungszimmer. Wer weiß, was für ein Notfall das war, überlegte er auf seinem Weg zum Empfang. Er kam am Wartezimmer vorbei. Ein Blick hinein bestätigte ihm, dass er noch einige Patienten bis zur Mittagspause zu behandeln hatte. Aus dem Augenwinkel konnte er eine junge blonde Frau erkennen, an der sein Blick kurz hängen blieb. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit allerdings gerade einem kleinen Kind, das auf dem Boden saß und die Kiste mit den Bauklötzen ausräumte. Uninteressant, dachte Marcus und ging weiter. Er mochte keine Kinder, denn seiner Meinung nach kosteten sie Geld, Zeit und vor allem Nerven. Außerdem hatte man sie sein Leben lang am Hals. Als er mit Anna zusammen war, hatte sie ihm ewig mit ihrem Kinderwunsch in den Ohren gelegen. Er hatte sie immer wieder mit neuen Ausreden vertrösten können. Marcus richtete jetzt seine Augen weiter zum Empfangstresen, und seine ohnehin üble Laune an diesem Vormittag verschlechterte sich schlagartig um ein Vielfaches. Dort standen zwei hünenhafte Gestalten in schwarzer Kleidung mit kurz rasierten Schädeln und sahen düster drein. Sie sahen aus, als ob sie vor lauter Kraft kaum zu gehen vermochten. Jedenfalls waren sie alles andere als Notfallpatienten. Daran bestand kein Zweifel. Auch wenn die beiden Hünen verkniffen umherblickten, Menschen mit Zahnschmerzen sahen anders aus. Und erschienen zumeist nicht im Doppelpack. Jedenfalls Kerle in dieser Größe. Bei Schulkindern mit ihren Eltern war das etwas anderes, aber darum handelte es sich hier definitiv nicht.

»Guten Tag, die Herren«, begrüßte Marcus sie und versuchte seine aufsteigende Nervosität zu überspielen. »Womit kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Er wusste, dass dies kein Freundschaftsbesuch war, obwohl er die beiden Männer persönlich nicht kannte. Pharmareferenten waren es ganz offensichtlich nicht. Die sahen für gewöhnlich anders aus und lächelten in aller Regel äußerst freundlich. Diese beiden Muskelpakete dagegen sahen ihn nur mit verächtlichen Mienen an und erwiderten zunächst nichts.

»Ich würde vorschlagen, wir gehen in mein Büro. Was meinen Sie?« Marcus räusperte sich. Dann ging er ein paar Schritte an den beiden vorbei und öffnete eine Tür. Er gab der Sprechstundenhilfe ein Zeichen, dass er unter keinen Umständen gestört werden wollte. Sie verstand und nickte. Die beiden Männer folgten ihm wortlos, und Marcus schloss sofort die Tür hinter ihnen. Bevor er irgendetwas sagen konnte, wurde er bereits mit dem Rücken gegen den Einbauschrank gepresst, und einer der beiden Männer hielt ihm dabei eine Hand fest an die Kehle. So fest, dass Marcus kaum Luft zum Atmen blieb. Mit solch einem tätlichen Angriff hatte er in keiner Weise gerechnet. Sein Rücken und sein Kopf schmerzten von dem heftigen Aufprall gegen das Möbelstück.

Der zweite Kerl stand genau neben ihm und sagte mit hartem osteuropäischen Akzent: »Jetzt pass mal gut auf, Doktor Strecker! Herr Karmakoff hat langsam die Nase voll von dir. Letzte Chance heute in einer Woche. Bis dahin hast du das Geld, verstanden? Sonst …«

Er griff mit einem süffisanten Grinsen nach der rechten Hand von Marcus und zog zeitgleich mit der anderen Hand ein Taschenmesser aus der Hosentasche. Marcus schielte mit panischem Blick auf die Waffe. Der Mann legte die blitzende Klinge an den Daumen von Marcus’ Hand und grinste noch breiter. Marcus konnte das kalte Metall an der Haut spüren. Er schluckte. Dann zog der Mann das Messer ganz langsam mit mäßigem Druck über Marcus’ Handballen. Marcus stöhnte leise auf und biss die Zähne zusammen, denn ein brennender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Ein kleines rotes Rinnsal lief über seine Hand. Blut tropfte zu Boden.

»Ist nicht gut, Zahnarzt ohne Daumen!«, bemerkte der andere der beiden, der Marcus die Hand an die Kehle drückte und ihn somit in seiner Gewalt hatte.

Er roch unangenehm nach billigem Aftershave, und Marcus konnte nur mit Mühe ein Niesen unterdrücken. Sein Kollege mit dem Messer gab ein glucksendes Geräusch von sich. Beide empfanden die Situation als äußerst erheiternd.

»Ich denke, wir haben uns verstanden, Strecker. Und keine Tricks! Das würde dir schlecht bekommen. Sehr schlecht.«

Der Mann ließ von Marcus ab, der sich sofort reflexartig an die Kehle griff und zu husten begann. Er war nicht in der Lage zu antworten, sondern nickte bloß. Schweiß lief ihm den Rücken hinunter, und in seinen Schläfen pochte das Blut. Der eine der beiden Männer wischte das Messer mit einem Papiertaschentuch ab, klappte es zusammen und ließ es in der Hosentasche verschwinden. Dann wandte er sich zur Tür. Sein Mitstreiter folgte ihm, nicht ohne vorher Marcus einen kräftigen Stoß gegen die Schulter zu geben, sodass dieser fast gestürzt wäre. Er taumelte und prallte erneut gegen den Schrank. Als die beiden endlich den Raum verlassen hatten, begutachtete Marcus seine Hand. Er griff nach einer Sprayflasche neben dem Waschbecken und desinfizierte als Erstes die Wunde. Anschließend klebte er ein Pflaster auf die verletzte Stelle. Die Blutung hatte jedoch nicht aufgehört, genauso wenig wie der brennende Schmerz. Wie sollte er damit vernünftig arbeiten? Er ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen und vergrub sein Gesicht für einen Augenblick in den Händen. Er hatte Mühe, seine Gedanken zu sortieren, und durfte unter keinen Umständen kopflos werden. Die Typen machten wirklich ernst. Jetzt hatte er ein gewaltiges Problem, denn er hatte das geforderte Geld nicht. Er brauchte dringend einen Plan B und zwar einen verdammt guten. Doch er hatte bereits eine Idee. Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte plötzlich und riss ihn aus seinen Überlegungen. Ungeachtet ließ er es klingeln.

Nach dem sechsten Klingeln griff er schließlich doch zum Hörer und sagte nur genervt: »Nicht jetzt!«

Und legte wieder auf. Dann stand er langsam auf, atmete tief durch und ging ins Behandlungszimmer. Auf dem Weg dorthin rief er seiner Sprechstundenhilfe zu: »Sagen Sie für heute und die nächsten zwei Wochen alle Termine ab und nehmen Urlaub. Das gilt für alle hier! Die Praxis ist ab sofort geschlossen.«

Die Sprechstundenhilfe hinter dem Tresen traute ihren Ohren kaum und sah ihren Chef ungläubig aus weit aufgerissenen Augen an.

»Alle?«, fragte sie zaghaft. Dann deutete sie auf Marcus’ Hand. Das Pflaster hatte sich dunkelrot verfärbt. »Oh mein Gott, Sie bluten ja, Doktor Strecker!«

»Ja, alle!« Marcus sah kurz zu seiner Hand. »Nun gucken Sie nicht so blöd, sondern machen Sie, was ich Ihnen gesagt habe! Ich wiederhole mich äußerst ungern. Das sollten selbst Sie mit Ihrem Spatzenhirn mittlerweile verstanden haben. Worauf warten Sie also?«

Der Sprechstundenhilfe fehlten die Worte. Sie schnappte nach Luft und sah ihm fassungslos hinterher, wie er an ihr vorbeistürmte und in einem der Sprechzimmer verschwand.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
276 стр. 11 иллюстраций
ISBN:
9783839253229
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