Читать книгу: «Unser Haus dem Himmel so nah», страница 4

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Für die Ingenieure, Direktoren und selbst die Arbeiter in den Entwicklungsprojekten war Ingenieur Suhail ein Feudalherr, ein Verbündeter der kapitalistischen Kultur, da er in ihren bedeutendsten Zentren studiert hatte. Sie sahen höhere Bildung als Vergehen an, während ihrer Meinung nach nur die praktischen Erfahrungen aus den sozialistischen Staaten etwas taugten. Kaum jedoch hatten die 80er Jahre begonnen, standen sie im Rauda-Viertel von Damaskus vor einem kleinen Schalter in einem riesigen weißen Gebäude, über dem die amerikanische Flagge wehte, mit ihren Söhnen Schlange. In den Händen hielten sie Empfehlungsschreiben und Bürgschaften von Ingenieur Suhail Badran, die ihren Söhnen erfolgreiche Gespräche mit dem amerikanischen Konsul und ein Visum für die USA garantieren sollten.

Das erste Gebäude, das Suhail nach seiner Rückkehr aus Amerika restaurierte, war die Villa, in der ich geboren wurde und meine Kindheit und Jugend verbrachte. Sie war mehr als einhundertfünfzig Jahre alt. Mein Großvater hatte sie von seinem Vater geerbt, später hatte mein Vater im Austausch für das Gebäude seinen Geschwistern einen Teil seines Erbes überlassen. Er hatte ein feines Gespür für alles, was der Restaurierung bedurfte. Er bewahrte den Charakter des Hauses und fügte die Anbauten so harmonisch an, dass sie weder das Auge noch die Seele verletzten. Dabei war ihm meine Mutter eine große Hilfe, denn ihre Perspektive war ganz anders, städtischer, denn sie hatte sich intensiv mit Philosophie, Kunst und Französischer Literatur beschäftigt. Mein Vater hatte sie über den Bruder ihrer Mutter kennengelernt, der mit ihm zusammen in Boston studiert und ihn zu seiner Hochzeitsparty im Saad-Klub in Aleppo eingeladen hatte. Dort verliebte er sich sofort in sie. Davor war sie mit einem Kapitän zur See verheiratet gewesen, dem Spross einer großbürgerlichen Familie aus Aleppo, hatte sich aber nach weniger als einem Jahr Ehe wieder von ihm getrennt, weil er darauf bestanden hatte, sie auf all seine Seereisen mitzunehmen. Monatelang war sie seekrank gewesen. Während er sie so sehr liebte, dass er sich nicht eine Nacht von ihr trennen konnte, sah sie in ihm nur einen Egoisten ohne Verständnis für ihre Leiden, verließ ihn und heiratete wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung meinen Vater.

Meine Großmutter hielt überhaupt nichts von einer Heirat mit einer geschiedenen Frau, aber meine Tante Laila, die sie in ihren letzten Tagen umsorgte, hatte großen Einfluss auf sie und beschwichtigte sie: »So etwas kommt in den besten Familien vor.« Sogar Jacqueline Kennedy sei schließlich vor ihrer Ehe mit Onassis mit John F. Kennedy verheiratet gewesen. Sie war bestens informiert, denn sobald Tante Laila eine Zeitschrift wie al-Mau’id, al-Schabaka oder Rose al-Yussuf in die Finger bekam, konnte sie nicht mehr davon lassen und verschlang den Klatsch über die Prominenten.

In unserem Haus entstanden zwei Flügel: zunächst der altorientalische, ein restaurierter Ziegelbau, der aussah, als hätte ihm ein Maurer des 18. Jahrhunderts erst am Vortag den letzten Schliff gegeben und sich dann zufrieden den Staub von den Kleidern geklopft. Kuppeln und Stalaktitengewölbe im Abbasiden-Stil bildeten die Decken. In ihm waren ein Büro, zwei Empfangssalons und ein großes Esszimmer untergebracht, das sich zum Innenhof hin öffnete. Im Hof wuchsen Limonen- und Zitronenbäume sowie Rosenstöcke rings um ein Wasserbecken mit einem Boden aus blauem Granit, das sieben Meter lang, drei Meter breit und einen bis anderthalb Meter tief war. Der andere, westliche, Flügel war modern, in ihm lagen, auf zwei Ebenen verteilt, die Schlafzimmer. Beide Stockwerke waren durch eine kleine Innentreppe verbunden, die oben in einem kleinen Zimmer und unten an der Haupteingangstür endete, die in den äußeren Garten führte. Dieser war einfach bepflanzt mit Jasmin, Geißblatt, Basilikum und roten Rosen. Dort standen Korbstühle, deren Sitze mit der Zeit mit bunten Plastiksträngen geflickt wurden, der eine Stuhl blau, der zweite rot, der dritte grün …

Die gesamte Einrichtung war kostbar, sorgfältig ausgewählt und voller Erinnerungen. Der Salon war im Louis-quinze-Stil eingerichtet, die Wohnzimmer kopierten Harrods, alles stammte von dem Möbelmacher Leon Masabaki aus Aleppo. Die Kronleuchter in den Salons, die mein Vater aus Österreich mitgebracht hatte, waren aus echtem Kristall, die in den anderen Räumen waren aus Bronze, drei davon ehemalige Petroleumlampen, die noch aus der Zeit meines Urgroßvaters stammten. Meine Mutter hatte sie im Keller des alten Hauses gefunden und im Antiquitätengeschäft al-Hamawi elektrisch umarbeiten lassen. Die Teppiche waren natürlich alle Perser, unsere Familie wollte keine aus China oder Deutschland, wie alt und vornehm sie auch sein mochten. Mein Vater hatte seine Teppiche von meinem Großvater geerbt, der sie seinerseits von seinem Vater und Großvater erhalten hatte, und so fort … Zwei der Teppiche waren zwölf Meter lang, drei andere genau die Hälfte, und fünf kleinere waren aus Kaschan-Stücken zusammengesetzt. Die Vasen, Gläser und Aschenbecher aus Silber oder weißem und farbigem Kristall waren mit Bedacht auf den Konsolen, Tischen und in den Vitrinen arrangiert. Meine Eltern hatten sie auf ihren zahlreichen Reisen nach Polen, Bulgarien und in die Tschechoslowakei gefunden. Auch die Gemälde waren durchweg Originale und sorgfältig gehängt. Sie stammten von syrischen und arabischen Künstlern, die meist mit meinem Vater befreundet waren und von denen er bei ihren Ausstellungen in Damaskus, Aleppo und Beirut gerne Bilder erwarb: Louay Kayali, Fateh al-Moudarres, Saad Yagan, Wahid al-Maghariba, Scharif al-Muharram, Tamam al-Akhal und der aus Raqqa stammende Fawwaz Yunis.

Das wertvollste Stück, ein Walnussholz-Schrank aus den 30er Jahren, der den großen Salon im alten Flügel zierte, war eineinhalb Meter hoch, einen Meter breit und einen halben Meter tief und hatte unten zwei Türflügel und oben sechs Schubladen, auf jeder Seite drei. Als mein Großvater Repräsentant des Nationalen Blocks für die Region war, hatte er die politischen Dokumente dort deponiert, und so betrachtete mein Vater den Schrank später als Augenzeugen der politischen Geschichte unserer Familie. Nach seiner Rückkehr aus Amerika war der Schrank nur noch ein Stück Sperrmüll gewesen, meine Tante Laila hatte alte Zeitungen und Staubtücher darin verstaut. Leon Musabaki restaurierte ihn, beizte ihn mit dunkler Holzlasur, zeichnete die Ornamente mit Goldstift nach, befestigte neue Bronzegriffe an den Schubladen und legte eine kostbare Platte aus weißem, grau und schwarz geädertem Marmor auf. Er brachte auch drei antike Messingschlösser in Tierform an, eine Schildkröte, eine Eidechse und eine Schlange, die mein Vater im alten Suk von Maskat in Oman gekauft hatte. Darauf stand eine Dose aus rotem Samt mit einer Münze aus reinem, 24-karätigem Gold, die jeder bewunderte. Man hatte den Namen »Suhail Badran« eingraviert, mit Hinweis an den Ersten Preis der »Organisation der arabischen Städte« im Jahre 1984 für den Wiederaufbau der alten Stadtmauer von Raqqa.

Obwohl wir immer genug Dienstboten im Haus hatten, fiel die Aufgabe, diese Raritäten zu polieren und die Teppiche zu reinigen, meiner Schwester und mir zu. Meine Mutter war der Meinung, dass wir uns den großartigen Geist dieser Stücke vor Augen halten sollten, aus dem sie entstanden waren. Wir hinterließen unsere Fingerabdrücke darauf, gaben ein bisschen Wasser auf das Kristall und dann rieben wir es mit einem trockenen Tuch ab. Silber und Messing hingegen putzten wir mit einem speziellen Präparat aus Beirut, das man auf ein Stück feuchten Baumwollstoff gab. Die Ölgemälde durfte man, um die Farben zu erhalten, nur mit einem Federwedel entstauben.

Von außen verriet das Haus nichts von der Pracht im Inneren. Dies entsprach den architektonischen Vorstellungen meines Vaters, er wollte, dass es sich harmonisch zwischen die einfachen Häuser der Verwandten und Nachbarn im Viertel einfügte. Das Anwesen meines Onkels, des Ministers, dagegen, nur fünf Häuser weiter, glich einem Palast, an dessen Tor die Passanten nicht gerne vorbeigingen und lieber die Straßenseite wechselten. Am vertrautesten war uns das Haus Faisals, meines jüngsten Onkels, des Sohnes von Hagar, der Nebenfrau meiner Großmutter. Es war voller Leben, dafür sorgten seine italienische Frau und seine drei Söhne. Onkel Faisal hatte in Rom bildende Kunst studiert und schon von Jugend an den Mädchen nachgejagt. Nach dem Tod seiner Mutter war er von den Hausmädchen aufgezogen worden, und mit siebzehn Jahren erwischte ihn meine Großmutter im Keller des Hauses mit ihrem Dienstmädchen Rahima. Und wie diese eingestand, war es nicht das erste Mal. Deshalb schickte man ihn nach Rom, und Rahimas Angehörige holten das Mädchen zurück nach Afrin, wo sie, wie wir später erfuhren, von ihrer Familie getötet wurde. Mein Vater sagte, das Blut des Feudalherrn sei der Grund für Faisals Lüstgernheit, doch meine Großmutter protestierte: »Er hat das Blut seiner gemeinen Mutter geerbt.« Sie hegte immer noch einen Groll gegen die verstorbene Nebenfrau. Meine Tante Laila erinnerte sie daran, dass sie meinen Onkel Yusuf als Kind ebenfalls dabei ertappt hatten, wie er eins der Dienstmädchen ausgezogen und auf die Terrasse gebettet hatte. Er hatte ihre Umrisse mit einem Kohlestift nachgezeichnet und erklärt, er werde sie operieren. Aber er sei damals doch erst zehn Jahre alt und bereits entschlossen gewesen, Arzt zu werden, erwiderte meine Großmutter in vollem Ernst. All das habe rein wissenschaftlichen Zwecken gedient.

Die Italienerin Natalia war wie mein Onkel Faisal ein Freigeist. In den wenigen Jahren, die sie in Raqqa wohnte, verbrachte sie die meiste Zeit damit, ihren Söhnen, die immer etwas ausheckten, hinterherzurennen und ihnen, was immer ihr in die Finger kam, nachzuwerfen: einen Schuh, einen Pantoffel oder irgendwas aus der Küche, um in gebrochenem Arabisch »Badran ist ein Gangster!« hinterherzurufen. Tante Souaida, die in einem der Nachbarhäuser wohnte und unverheiratet war, wachte jedes Mal von dem Geschrei auf und lief in dem kurzen Unterkleid, das die Frauen in Raqqa unter dem langen Obergewand tragen, hinaus. Da sie keinen BH trug, schwangen ihre Brüste auf und ab, als kündigten sie eine Schlacht an, während sie versuchte, ihr Kopftuch festzubinden, das ihr allerdings immer wieder aus den Fingern glitt, und rief: »Haltet diese Verrückte auf, sonst bringt sie ihre Kinder noch um!« Die drei Jungen flüchteten sich zu ihr und suchten Schutz in ihrem Haus, das eher einer Höhle glich. »Souaida ist auch ein Gangster!«, war Natalias Kommentar dazu.

*

Tante Souaida war sehr hellhäutig, klein und dick und hatte einen gewaltigen Hintern, den ihre traditionellen, weiten Unterkleider nicht verbergen konnten. Ihr Haar hatte sie in zwei kurze Zöpfe geflochten. Jeden Morgen, wenn sie den Gehweg vor dem Haus fegte, rutschte der Stoff ihres Gewandes zwischen ihre Gesäßbacken und zog die Blicke von Groß und Klein, Anwohnern und Passanten, auf sich. Später stellte sich heraus, dass ihr Unterhosen zu sehr ins Fleisch schnitten, und so hatte sie beschlossen, darauf zu verzichten. Dies gab sie auch allen bekannt. Meine Mutter missbilligte dieses Benehmen sehr und sagte, es gehöre sich nicht und Tante Souaida lebe wie eine Ungläubige. Aber sie bete und faste doch und lese im Koran, entgegnete ich. Und Onkel Faisal erhob sie sogar zu einem Muster an revolutionärer Gesinnung, einem modernen Exemplar der Sansculotten während der Französischen Revolution in Paris. Unter ihnen seien auch Arbeiterinnen gewesen, in denen man heute eine der Wurzeln der internationalen Frauenbewegung sehe, die gegen aristokratische Gepflogenheiten aufbegehrten, indem sie keine Kniebundhosen, sondern lange Hosen trugen.

Tante Souaidas Erscheinung und revolutionäre Autorität erfüllten mich stets mit Bewunderung und Freude, und so setzte ich mich gerne auf die Schwelle des Nachbarhauses, um ihren emsigen Bewegungen zuzusehen, für die ihr schwerer Körper kein Hindernis darstellte. »Sitz nicht auf der Schwelle, Djudju«, rief sie mir dann zu, »die Dschinn halten dort Hochzeit, und du störst sie!« Sie war die Einzige, die mich Djudju rief, denn Kosenamen waren in unserem Haus verboten. Ich erschauerte bei ihren Worten, setzte mich woandershin und dachte: ›Warum lassen die Dschinn eigentlich so viel Platz ungenutzt und tummeln sich nur auf den Türschwellen?‹

Irgendwann zog Onkel Faisal mit seiner Familie nach Bagdad, um an der Universität Kunst zu unterrichten. Er hatte von Freunden, die er von seinem Studium in Rom her kannte, ein verlockendes Angebot erhalten. Die Chance, an den Universitäten von Damaskus oder Aleppo eine Stelle zu bekommen, war für einen Nicht-Baathisten ohnehin gering. Er kämpfte zwar in einer seltsamen Mischung von Existenzialismus und Marxismus weiter gegen Privateigentum, Grundbesitz und die Reaktion, lebte aber von den Zinsen seiner Erbschaft, auch wenn von dem Land seines Vaters nur ein Bruchteil übriggeblieben war. Zum letzten Mal sahen wir ihn 1983, als er sich von uns verabschiedete, um nach Rom zu ziehen. Er hatte gerade eine einjährige Haftstrafe verbüßt, weil er trotz des vollständigen Abbruchs der Beziehungen zwischen Syrien und dem Irak Kontakt zu irakischen Staatsbürgern gehabt hatte. Von Rom ging er wieder nach Bagdad, wo er später promovierte. Trotz der Kriege im Irak verließ er das Land danach nicht mehr. Nachdem man ihn beschuldigt hatte, dem irakischen Flügel der Baath-Partei anzugehören, war es ihm auch gar nicht mehr möglich, zurückzukehren. Ihn plagte das Heimweh, bis er wenige Monate nach dem Einmarsch der Amerikaner starb.

Als ich im Jahr 2005 mit einer Alitalia-Maschine von Casablanca zu einer Tagung über mediterrane Frauenmythen nach Mailand reiste, sagte der Steward durch, Käpt’n Qais Badran lasse die Passagiere grüßen. In vier Sprachen wurde der Name bestätigt: Der Pilot war tatsächlich Qais, der Sohn meines Onkels Faisal. Ich bat darum, ihn sehen zu dürfen, und etwa auf halber Strecke besuchte er mich an meinem Platz. Wir hielten uns lange in den Armen. Er war attraktiv und stark. Wie mein Vater hatte er den glühenden Blick der Badrans. Ich verliebte mich sofort in ihn und wünschte mir, immer bei ihm bleiben zu können. In Mailand stellte er mir seine italienische Frau vor und berichtete, dass sie alle nach der amerikanischen Besatzung des Irak nach Italien gezogen seien und dass seine Mutter Natalia vor einem Jahr an einem Stromschlag gestorben sei, als sie den Weihnachtsbaum schmückte.

Ein Spross Karmelheims

Nasser reiste wieder zurück nach Abu Dhabi, doch ich war zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Ich ging ganz in meiner Arbeit auf, und wenn ich abends meine Akten schloss, spendete mir der Gedanke an ihn Licht und Wärme.

Wir hielten weder über Telefon, noch über E-Mail oder irgendeinen Messenger Kontakt. Die Frage nach unserer Beziehung sollte die Zeit für uns beantworten. Die Nähe, die er zugelassen hatte, war mir genug, und ihm reichte, wie er angedeutet hatte, der weibliche Trost, den ich ihm anbieten konnte. Aber die schmerzlichen Nachrichten aus meinem Land zerrissen das Wohlgefühl, in das er mich versetzt hatte, und ich stürzte erneut in einen Strudel düsterer Sorgen. Ich rief öfter bei meiner Familie in Raqqa an, um mich zu erkundigen, wie es ihnen gehe. Wenn die Verbindungen abbrachen, fragte ich meine Facebook-Freunde nach ihnen. Sie telefonierten mit ihren Angehörigen über die Satelliten der Kommunikationsfirma Thuraya, die in der Stadt mehrere Telecafés eröffnet hatte. Auf sie war man nun angewiesen, um seine Liebsten anzurufen oder von ihnen angerufen zu werden und sicher gehen zu können, dass sie wohlauf waren. Ich gab diesen Freunden meine Festnetznummer, und sie übermittelten mir daraufhin Nachrichten von meinem Vater oder einer meiner Schwestern, die dennoch beruhigend waren. Unser Leben war wirklich kompliziert geworden.

In dem eleganten Studio im Bezirk al-Rabieh im Westen Ammans, das für mich angemietet worden war, hatte ich mein breites Bett am Fenster stehen. Vom Bett aus hatte ich einen guten Blick in den Himmel und auf einen Garten an der anderen Straßenseite. Er war mit einem kleinen Wald bepflanzt und mit Stacheldraht umzäunt. An der gegenüberliegenden Wand, ging das Fenster zu einer Filiale der Arab Bank, dem Café al-Mawardy und ein Einkaufszentrum hinaus, doch weil von dieser Seite so viel Lärm kam, mochte ich dieses Fenster weniger. Nur ein Raum war in dieser an ein Loft erinnernden Wohnung durch eine Tür abgetrennt. Dort stand ein weiteres Bett und es gab ein eigenes kleines Bad. Den Rest der Wohnung trennten Möbel in einen Schlafbereich, einen Sitzbereich mit zwei kleinen Sofas und einer großen Bergère und ein kleines Büro mit Tisch, Stuhl und Aktenschrank, sowie eine amerikanische Küche und ein offenes Bad. Ursprünglich war die Wohnung mit vielen kleinen Bildern, Fotografien von Originalgemälden, und zwei Vasen mit künstlichen Blumen dekoriert. Doch meine erste Aktion beim Einzug in mein neues Heim hatte darin bestanden, all diesen Kram wegzuwerfen. Gerne hätte ich eigene Bilder – Originale – aufgehängt, denn wann immer ich Geld übrig hatte, erwarb ich ein Bild eines Künstlers, der gerade dabei war, sich seinen Weg in die Kunstwelt zu bahnen. Manche waren auch Geschenke von Künstlerfreunden, die ich auf meinen Reisen in ferne Länder kennengelernt hatte, wo ich als Anthropologin forschte, wie sich die Eigenheiten der Völker auf ihre Kunst auswirken.

Wegen meiner überstürzten Ausreise hatte ich das alles nicht mitnehmen können. So hatte ich mich mit einem Foto meiner Familie, einer antiken Öllampe und einem Foto von mir und dem früheren rumänischen Präsidenten Nicolae Ceaus¸escu begnügt, den man 1989 zusammen mit seiner Frau Elena durch Schüsse hingerichtet hatte.

Die Öllampe stammte den Archäologen zufolge noch aus der Abbasidenzeit. Wir hatten sie zusammen mit anderen Gegenständen gefunden, als wir das Wasserbecken im Garten ausgehoben hatten: mehrere Keramikfigürchen, Becher, Vasen und Essteller, von denen ein paar noch vollständig erhalten waren. Auch auf ein großes Becken aus weißem Marmor mit einem Relief von Ölzweigen am Fuß waren wir gestoßen. Mein Vater vermutete, dass es sich um ein Taufbecken aus byzantinischer Zeit handele und dass in alten Zeiten eine christliche Familie in unserem Haus gewohnt haben könne. Ein paar Verwandte verbreiteten das Gerücht, wir seien auf Gold gestoßen. Daraufhin ließ meine Schwester Djud die Grabungen nicht mehr aus den Augen und ging jeden Abend in der Erwartung zu Bett, am nächsten Morgen einen Schatz zu finden, der ihr gehören würde. Tatsächlich hätte jeder Bewohner unserer Gegend, wenn er unter seinem Haus gegraben hätte, ähnliche oder noch größere Funde gemacht. Durch die bewegten Zeiten sowie Beben und Erdrutsche hatten sich die Bodenschichten gegeneinander verschoben und die Hinterlassenschaften der Menschen verschiedener Epochen miteinander vermengt. Den Schatz, den wir gefunden hatten, beschlagnahmte der Forschungsausschuss für das Stadtmuseum. Wir behielten die Öllampe, die wie Aladins Wunderlampe aussah, und eines von zwei Gefäßen, in das wir Blumen pflanzten. Wir Kinder bettelten zwar, das Taufbecken behalten zu dürfen, weil wir gern einen Fischteich daraus gemacht hätten, aber Vater sagte das sei gegen das Gesetz.

Ich war zu jener Zeit sehr geschickt im Einsammeln von Spenden und trug ständig meine Quittungshefte mit mir herum. Dem Spender übergab ich eine Quittung über fünf, zehn oder fünfundzwanzig Lira, die ich zuvor aus dem Heft geschnitten hatte, und den Kontrollabschnitt des Blattes bewahrte ich als Eingangsbeleg auf. In Syrien boten sich immer und überall Gelegenheiten zum Spenden: Man spendete für die palästinensische Intifada, den Sudan oder den Südlibanon – und zwar unterwegs, auf dem Markt, bei den Gewerkschaften, in öffentlichen Ämtern. Wir zogen mit einer Genehmigung der Schule los, um das Geld einzukassieren, und mir entkam niemand, weder meine Mutter noch mein Vater, weder meine Onkel noch die Nachbarn, und sogar mein eigenes Taschengeld steuerte ich bei. Das Spendensammeln wurde zu meiner Dauerbeschäftigung, und ich brachte große Summen zusammen, einmal ganze zweitausend Lira. Diese außergewöhnlichen Erfolge erklärten, warum ich von meiner Schule für eine Reise nach Damaskus vorgeschlagen wurde, wo ich am Empfang Nicolae Ceaus¸escus teilnehmen sollte, der zu einem Staatsbesuch nach Syrien kam. Als ich mit Maya, der Tochter eines hohen Funktionärs, einer Mitschülerin, die man ebenfalls für den Empfang ausgewählt hatte, eintraf, erfuhr ich, dass man für das Protokoll ein hübsches Mädchen suchte, das Nicolae Ceaus¸escu Blumen überreichen solle. Ich frohlockte, meldete mich sofort und sagte, ich würde das übernehmen. Der Protokollbeamte musterte mich, wie ich mit meinen nicht einmal zehn Jahren in meinem kurzen, dunkelblauen Rock und weißer Bluse, den Strümpfen mit Seidenbändern, den neuen Schuhen und mit einem Haarknoten auf dem Kopf vor ihm stand. »Du überreichst ihm den Strauß«, sagte er zu mir, »komm ihm dabei aber nicht zu nahe, es sei denn, er gibt dir einen Kuss!« Maya war wie vor den Kopf gestoßen und schaute wütend zu mir herüber. Schließlich hatte niemand das Recht, in Anwesenheit der Tochter eines hohen Staatsfunktionärs in den Genuss irgendeiner Gunst zu kommen, geschweige denn der Ehre, dem Genossen Nicolae Ceaus¸escu einen Blumenstrauß zu überreichen. Der Aufseher, der uns begleitete, versuchte zu intervenieren, um die Rollen zu tauschen, aber der Beamte war sich seiner Sache sicher. Der Blumenstrauß war groß und duftete, er bestand aus roten und weißen Blumen, eingerahmt von üppigem Blattgrün. Selbst nach all den Jahren sehe ich sie noch vor mir leuchten. Der hohe Gast kam auf die Bühne des Offiziersklubs, und bevor er sich auf seinem Platz niederließ, trat ich vor ihn hin und reckte mich zu ihm hinauf, denn er war sehr hochgewachsen. Mit seinem weißen Haar und seinen beinahe siebzig Jahren beugte er sich zu mir herab, und ich erinnere mich noch an die vielen Flecken auf seiner Hand, die er auf meine legte, als er die Blumen entgegennahm. Er kam mir vor wie mein Opa, und ich ignorierte die Worte des Beamten und schob mich ganz nah an ihn heran. Ein frischer Duft wehte mir von seinem Hals entgegen, und wir tauschten jeweils einen Kuss.

Vier Jahre nach dieser Begegnung mit Nicolae Ceaus¸escu lud mich Maya ein, sie zu besuchen. Sie schaltete das Videogerät ein und zeigte mir einen Film von der improvisierten Gerichtsverhandlung, der damals nicht öffentlich gezeigt werden durfte. Ceaus¸escu und seine Frau Elena standen vor dem Militärtribunal. Es war mir unmöglich, all die Anschuldigungen zu glauben, die man gegen diesen Mann erhob, der nach frischem Schnee auf hohen Buchen geduftet und mich so herzlich geküsst hatte. Jetzt saßen er und seine Frau zerzaust vor ihren Richtern, wie ein armes Elternpaar, das seinen einzigen Sohn ins Grab verabschiedet hat. Vehement kämpften sie um ihre letzten Momente, bestanden darauf, wenn sie denn sterben mussten, dann zumindest gemeinsam. Bis zum Ende der Gerichtsverhandlung konnten sie nicht verstehen, was ihnen geschah oder dass sie tatsächlich als Diktatoren angeklagt waren. Genauso wenig wie ich, vor allem wenn ich an die Flecken auf Ceaus¸escus weißer Hand dachte. »Fasst mich nicht an!«, schrie seine Frau Elena. »Warum fesselt ihr mich? Ich war doch eure Mutter, ich bin eure Mutter!« Ihre ohrenbetäubenden Schreie durchschnitten die Luft als wären sie wahr. Nicolae war gefasster. Ich weinte mir die Seele aus dem Leib., und ich glaube, der Wärter, der sie auf ihrem letzten Weg begleitete, hatte ebenfalls geweint. Wir hörten Schüsse, dann wurde die Kamera auf die leblosen Körper gehalten. Ein Arzt kam, schloss dem Präsidenten die Augen und erklärte ihn für tot.

Mayas Vater starb später in Damaskus, mehrere Jahre nachdem er dorthin entsandt worden war. Ich ging damals zu ihr, um ihr mein Beileid auszusprechen. Wir saßen in einem opulenten Salon der Villa auf einem Hügel außerhalb der Stadt. Als ich meine Handtasche auf einem Tisch neben meinem Platz ablegte, ließ ich den Blick über die prunkvollen Möbel schweifen. Die Basis dieses Tisches bildete das byzantinische Taufbecken, das wir an unserem Haus gefunden hatten. Auf der Tischplatte, einer kreisförmig zurechtgeschnittenen Glasscheibe mit abgerundeten Rändern, stand in einem Goldrahmen und mit einem schwarzen Band versehen das Bild des Verstorbenen, gleich daneben die Tasse mit bitterem Kaffee, den ich im nächsten Moment auf die Ruhe seiner Seele leeren würde.

*

Wenn sich die Nacht auf die Gegend von al-Rabieh herabsenkte, wurde der Garten vor meinem Bett zu einem Windkanal. Ich hörte kreischende Laute, ein Jammern von Katzen, und die Bäume verwandelten sich in eng umschlungen tanzende Gespenster. Dann rollte ich mich im Bett zusammen und floh mit meinem Blick zum Himmel, denn er wirkte vertraut. Je länger ich ihn anstarrte, desto näher kam er, und die Sterne erschienen mir wie Konfekt. Ich hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um mir eins zu greifen. Der Himmel hier glich dem über unserem Haus.

Doch seit ich Nasser kennengelernt hatte, war der Blick aus dem Fenster nur noch die Kulisse für meine Gedanken an ihn, während ich auf den Schlaf wartete. Er wanderte unkontrolliert durch meine Gedanken, war mal meine Zuflucht wie eine Höhle, mal fing er mich auf wie ein Kissen. Manchmal war er auch nur der kleine verwöhnte Junge von nebenan. Ich wusste, dass ich ins Träumen geriet. Aber wie damals die Wortfetzen der Passanten vor dem Fenster, waren jetzt Nassers Gesichtszüge und unsere Gespräche, die ich mir in Erinnerung rief, der Rohstoff für bildreicheTräumereien, die mich morgens glücklich aufwachen und nach unserer nächsten Begegnung sehnen ließen.

Nach weniger als einem Monat rief Nasser an, erklärte, sein Flugzeug sei gerade gelandet, wenn ich nichts anderes vorhätte, würde er gerne mit mir zu Abend essen. Als ich auflegte, biss ich mir überwältigt von dieser freudigen Überraschung heftig auf die Lippen. Es bedurfte weder weiser Worte noch rätselhafter Anspielungen, um in Aufregung zu geraten. Ein kleiner Anruf vom Flughafen genügte, denn er bedeutete, dass wir mutig genug waren, um unseren Gefühlen treu zu bleiben und stark genug, mit den möglichen Folgen umzugehen.

Um halb neun sahen wir uns wieder, Nasser erwartete mich in der Lobby des Intercontinental. Er umarmte mich wie ein Vater, der seine verlorene Tochter wiedergefunden hat. Zum Abendessen gingen wir dann gemeinsam in eins der Restaurants des Hotels Bourj al-Hamam hinüber. Wir tauchten sofort wieder in unsere Gespräche ein.

»Du hast mich gerettet!«, gestand ich ihm. »Wirklich, ich bin der Nachrichten so müde.«

»Ich weiß, sie sind furchtbar, Raqqa ist zerstört. Wie geht es deiner Familie?«

»Sie haben es schwer. Die Bomben schlagen ganz in der Nähe ein, und die Angehörigen der Milizen mischen sich unter die Zivilisten. Aber bis jetzt geht es ihnen noch besser als vielen anderen.«

»Werden sie nicht ausreisen?«

»Mein Vater will unbedingt bleiben.«

Nasser zog die Augenbrauen hoch, wollte etwas sagen, schwieg dann aber. Also redete ich weiter: »Als wir noch klein waren, hieß es immer, in fernen Ländern gebe es Krieg, Tod, Misshandlungen, Vertreibung, Krankheit, Zerstörung, Armut und Erniedrigung. Ich habe immer fest geglaubt, dass diese fernen Länder auch fernbleiben würden. Niemals wäre mir eingefallen, dass mein eigenes Land betroffen sein könnte!«

»Ich kenne Raqqa nicht, ich bin nie dort gewesen. Einmal haben wir auf einer Reise die Dschabar-Festung besucht, aber in der Stadt waren wir damals nicht. Es hieß, sie sei eine einzige archäologische Zone, und der Euphrat sei sehr schön dort.«

»Genau, seit 10.000 vor Christus baute sich eine Kultur auf die andere. Es stehen noch antike Bauwerke aus der Zeit der Römer, der Umayyaden, Abbasiden und Seldschuken. Selbst während der osmanischen Herrschaft und der französischen Besatzung spielte die Stadt noch eine aktive Rolle. Danach allerdings erinnerte sich niemand mehr an sie, jede Regierung hat sie vergessen. Sie war nur von Interesse, wenn man über eine Stellung für einen Funktionär nachdachte, dessen Taschen noch gefüllt werden mussten. Und jetzt hat ebendiese Regierungsclique die Stadt ganz aufgegeben, um sich von ihrer Last zu befreien, und sie den extremistischen Gruppierungen ausgeliefert. Und damit wurde sie zum Schauplatz von Schlachten und kranken Ideologien. Alle treffen dort aufeinander: die Freie Syrische Armee, die al-Nusra-Front, der Islamische Staat. Allerdings weigere ich mich, überhaupt einen Unterschied zwischen diesen Gruppen zu machen, für mich bedeuten sie alle nur Zerstörung. Die Schlimmsten sind die, die sich ISIS nennen. Selbst Al-Qaida hat sich wegen ihrer Brutalität von ihnen losgesagt. Wie soll Raqqa sie ertragen!«

»Vielleicht gibt es eine Strategie, um sie loszuwerden.«

»Egal welche Strategie, sie wird auf Raqqas Bürgern ausgetragen werden. Auch wenn sie hieße, ISIS mit einem Schlag zu vernichten, würden Zivilisten, meine Familie und Syrer getötet. Oder die Welt gibt Raqqa auf, wie unsere Regierung und ein einziger mit Mosul verbundener Korridor entstünde, was der Türkei in die Hände spielen würde.«

Von einem der Nachbartische drang lautes Gelächter herüber, und ich drehte mich um. Eine Gruppe von fünf Männern und zwei Frauen saß dort. Einen von ihnen erkannte ich wieder.

»Dieser Mann da ist ein Akademiker von der Universität Damaskus, der sich urplötzlich in einen ›erbitterten Regimegegner‹ verwandelt hat. Überall Syrer. Auch der Mann neben ihm, früher ein gefragter Star in Politsendungen. Heute schwafeln sie von Demokratie, Gleichheit und Freiheit in Syrien. Ich weiß gar nicht, warum sie hier sind. Und jetzt sitzen sie einfach hier im Intercontinental, während genau in diesem Augenblick ihretwegen Menschen sterben und Häuser zerstört werden. Auch ich bin wegen solcher Leute geflohen.«

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