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»Ein Bruch. Bringt ihn zum Lager.«

Die Menschen aber keuchten hintereinander die schmalen Steige hinauf, rollten hinab, stiegen wieder hinauf, griffen wieder zu Schaufel und Karre.

Dann kam Genosse Moros. Dick, mit einer guten Papirossa im Mund, ging er von Grube zu Grube, stieß die Spitze seines glänzenden Chromlederstiefels gegen das Erdreich und sagte zu den Häftlingen:

»Nun, wie ist der Boden?«

oder:

»Ziemlich klein, deine Karre, Freundchen.«

oder:

»Denkt dran, nur durch ehrliche, selbstlose Arbeit könnt ihr euch von den Schandflecken des Verbrechens reinwaschen.«

In solchen Momenten ähnelte er Grischka Filon in erstaunlicher Weise; sogar sein Mund schien sich, wie bei Grischka, mit Speichel zu füllen.

Nach der kurzen Mittagspause weigerten sich an die hundert Mann aufzustehen. Die Wachsoldaten schrien umher, schossen in die Luft, aber vergeblich. Sie zwangen eine Gruppe von etwa zwanzig Mann irgendwie auf die Beine und trieben sie zum Karzer des Außen­lagers. Ich konnte sehen, wie sie, den Blicken der Obrigkeit kaum entschwunden, ihren Fäusten und Gewehrkolben freien Lauf ließen.

»Mein süßes Mägdelein,

das ist so hübsch und fein …«

Som kam für einen Augenblick aus der Höhle, zwinkerte mir zu, zeigte auf die Menschen, die da verprügelt wurden, und meinte fröhlich:

»Umerziehung!«

Die Aufschüttung wuchs sichtlich an. Das Orchester spielte ohne Unterbrechung. Mit eingefallenen Augen blickten die Häftlinge wütend zu den Musikern und schimpften:

»Hoffentlich hören die Hunde bald auf zu spielen! Ist doch auch so schon kaum zu ertragen!«

Mit schrecklichem Getöse stürzte die Höhle ein und begrub acht Mann, darunter auch Som. Ich schaffte es gerade noch, einem riesigen Erdklumpen zu entkommen, der auf mich zurollte.

»Mein süßes Mägdelein,

das ist so hübsch und fein …«

Genosse Moros gestattete, eine halbe Brigade für die Bergung der Leichen abzustellen.

Von der Brücke aber schrie in roten Lettern laut das Spruchband: »Arbeit ist in der UdSSR eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhms, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums! (Stalin).«

Der Zug überquerte die Brücke erst am Abend.

***

Drei Tage wälzte ich mich krank auf meiner Pritsche.

Grischka Filon kam und brachte mir einen Brief von meinem Vater aus Moskau. Er drehte den Umschlag lange in den Händen, zog den Brief dann heraus, gab ihn mir und steckte den Umschlag in seine Jackentasche.

»Gib mir den Umschlag auch«, bat ich.

»Geht nicht. Irgendwie suspekt, muss ich prüfen …« Er ging weg.

Bald darauf wurde Grischka Filon aufgrund »vorbildlicher Arbeit« vorzeitig entlassen. Er war, glaube ich, der Einzige, der für den Bau der Lun-Wosch-Brücke eine solche Auszeichnung erhielt.

Ein halbes Jahr später. Der Skorbut hatte mir die Beine gekrümmt, ich kam knapp aus der Baracke hinaus. Schon lange hatte ich keine Nachricht von Zuhause mehr erhalten, und als mir der neue Erzieher – Woizechowski, vordem ein großer Hochstapler – einen zweiten Brief aushändigte, weinte ich fast vor Freude. In dem Brief schrieb mein Vater unter anderem:

»Gestern war ein Freudentag: Wir hatten Besuch von Deinem früheren Erzieher Semjon Michailowitsch Ogurzow. Wir haben Tee getrunken, und er hat uns viel von Dir erzählt. Dann sagte er, dass er morgen wieder ins Lager fährt, als Vertragsbeschäftigter. Wir baten ihn, ob er nicht so liebenswürdig sein und etwas für Dich mitnehmen könne. Er war gern bereit und meinte, dass Du etwas Anständiges zum Anziehen brauchst. (Warum hast Du uns das nicht geschrieben?) Wir haben ihm zwei große Koffer für Dich mitgegeben, mit Kleidung und Lebensmitteln. Hast Du sie erhalten?«

Ich begriff sofort, wozu Grischka Filon den Briefumschlag an sich genommen hatte.

Die Koffer hatte ich natürlich nicht bekommen, und würde sie auch nie erhalten. Es ging auch gar nicht um die Koffer. Schließlich war Semjon Michailowitsch Ogurzow einmal der Erzieher Grischka Filon gewesen und wusste ganz genau, was Häftlinge eines sowjetischen Konzentrationslagers brauchen. Vor allem brauchen sie Umerziehung – alles andere ist zweitrangig.

Dafür war Grischka Filon auch Erzieher, um das zu wissen!

AUF TRANSPORT

Der tiefe Frachtraum eines Lastschiffs. Man hört das Plätschern der Wellen gegen die Bordwand. Im Frachtraum befinden sich dreitausend Menschen. Hier und da brennt eine Petroleumlampe der Marke »Fledermaus« und wirft ihr schwaches Licht auf die kreuz und quer liegenden schlafenden Häftlinge. Es ist stickig, dämmerig, der Gestank nimmt einem die Luft. Neben mir sitzt Vater Sergij auf einer ausgebreiteten Joppe und murmelt halblaut vor sich hin. Er murmelt schon lange, leise und ruhig, in der immer selben Stimmlage. Wir befinden uns auf einem Gefangenentransport per Schiff nach Ust-Vym.

Im Bereich nebenan, hinter den Balken, die das Deck stützen, spielen die Kriminellen Karten. Sie ereifern sich, schreien und fluchen unflätig. Einen von ihnen kann ich sehr gut sehen. Er sitzt, mit dem Gesicht zu mir, mit bloßem Oberkörper da, beugt sich über die Kiste, die als Tisch dient und auf der eine Kerze flackernd ihr schwaches Licht verbreitet. Auf dem linken Auge ist er blind, das Gesicht ist voller großer Pickel. Offenbar hat er kein Glück im Spiel, er regt sich auf und schiebt die schmierigen Karten nervös hin und her.

»Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«

»Schuss!«, ruft sein Spielpartner, der mit dem Rücken zu mir sitzt, leise. Ich kann nur seine breiten Schultern und sein krauses Haar sehen.

Der Einäugige springt auf und zieht hastig, unter dem brüllenden Gelächter der beim Spiel zuschauenden Kriminellen, seine Hose aus.

»Zwanzig Rubel! Okay?«, fragt der Einäugige seinen Mitspieler und reicht ihm die Hose.

»Okay.«

»He, Senjka, gib auf!«, empfiehlt ein älterer Gauner dem Einauge. »Du verlierst sowieso!«

Aber der einäugige Senjka hört nicht auf ihn. Er zieht seine rutschende Unterhose hoch, setzt sich wieder, und das Spiel geht weiter. Aber nicht lange. Fünf, sechs Minuten später erneut brüllendes Gelächter – die Hose scheint verloren.

»Die kriegt Senjka nicht wieder«, meint einer fröhlich.

»Wart’s ab«, kontert der einäugige Ganove mürrisch und blickt sich nach allen Seiten um.

»Ich setze ein neues Tschackett.«

»Zeig her!«

»Na das da!«, erwidert Senjka und weist mit der Hand in den Bereich gegenüber.

Ich recke mich und blicke in die Richtung, in die Senjkas Hand weist, kann aber kein Jackett sehen. In dem Abschnitt liegen dicht an dicht schlafende Häftlinge; es ist dunkel dort, nur neben einem der Balken brennt ein Kerzenstummel; dort sitzt ein alter Mann mit weißem Bart und trinkt heißes Wasser aus einer Blechtasse. Das Gesicht des Alten kommt mir erstaunlich bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, wo ich ihm begegnet sein könnte.

»Schuss – Einwender … Schuss – Einwender …«

»Los, Senjka, her mit dem Jackett!«

»Gleich gibt’s was zum Lachen!«

Senjka erhebt sich und steigt über die Schlafenden hinweg zu dem Alten. Ich spüre, dass da etwas Ungutes läuft, und spitze Ohren und Augen. Auch Vater Sergij hört auf zu murmeln.

»Was möchten Sie?«, fragt der Alte und hebt verwundert den Blick auf Senjka.

»Zieh dein Tschackett aus, Alterchen«, sagt Senjka und beugt sich zu dem alten Mann runter.

»Wieso das?«

»Was heißt hier wieso?«, wundert sich Senjka seinerseits. »Ich hab’s beim Kartenspiel verloren.«

»Ich bitte Sie! Dies ist mein Jackett!«

Die Schlafenden ringsum werden wach, heben die Köpfe, lauschen.

»Zieh’s aus, sag ich dir, Alter!«

»Na hören Sie mal … Das geht so nicht!«

»Los, du Scheusal! … Kontra dreckiger!«

Senjka holt aus und schlägt dem Alten mit vollem Schwung ins Gesicht, stößt ihn auf den nassen Holzrost und fängt an, ihm das Jackett vom Leib zu reißen. Alle sehen zu und schweigen; keiner will sich in die Sache einmischen.

»Nein … aber nein, das geht doch nicht, man kann doch nicht …«, sagt Vater Sergij und packt mich an der Schulter.

»Hilft mir denn keiner?«, schreit der Alte.

Wie auf Kommando springen etwa zwanzig Politische auf.

»Los, Kameraden! Das lassen wir nicht zu! Auf die Gauner!«

Wir stürzen zum Ort des Geschehens. Auch die Kriminellen springen auf. Matt blitzen in einigen Händen die Klingen. Gleich würde ein blutiges Handgemenge beginnen – doch die Kriminellen sind ein feiges Volk.

Als sie sahen, dass die Politischen in der Überzahl waren, räumten sie das Feld, ließen die Messer verschwinden und verzogen sich auf ihre Plätze. Der einäugige Senjka ließ von dem Alten ab, schwenkte eine Rasierklinge und trollte sich in seinen Bereich.

Der alte Mann lag schwer atmend auf dem Rücken und hielt die Augen geschlossen. Aus einer Wunde unterhalb seines Auges floss Blut: Senjka hatte ihm auf der Wange doch noch einen Schnitt versetzt. Ich half ihm, sich zu setzen, lehnte ihn gegen den Balken; jemand brachte Wasser. Die Wunde war nicht sehr tief, die Blutung konnte schnell gestoppt werden, und der Alte kam langsam wieder zu sich.

»Sie?!«, rief er verblüfft und blickte mich genau an. »Erkennen Sie mich denn nicht? Na ja, kann sein, ich hab ja jetzt einen Bart … Sacharow. Entsinnen Sie sich?«

***

Ich entsann mich sofort. Es war im Herbst gewesen, in Moskau, in der Butyrka. Die Untersuchung meines Falls war abgeschlossen und ich wurde aus der Untersuchungszelle in eine Gemeinschaftszelle verlegt. In der Zelle waren hundertsieben Menschen, obwohl sie für fünfundzwanzig ausgelegt war. Wir schliefen auf Doppelstockpritschen oder darunter oder auf speziellen »Nachttafeln« zwischen den Pritschen.

Am selben Tag brachte man gemeinsam mit mir, genauer gesagt ein paar Minuten nach mir, drei weitere Männer in die Zelle. Und so waren wir hundertelf Mann. Uns, die letzten vier, wies der Zellen-­Starosta die Schlafplätze unter den Pritschen neben der Tür zu; es gab eine Art Warteliste für die Pritschenplätze.

Ich freundete mich bald mit meinen neuen Bekannten an. Sie erwiesen sich als sehr interessante Menschen, vor allem zwei von ihnen: Oberst Duruntscha und Wesselowski. Beide waren frühere russische Emigranten aus Harbin. Nach dem Verkauf der Ostchinesischen Eisenbahn durch die Sowjetunion gingen sie jedoch gemeinsam mit zahlreichen »Rückkehrern« wieder nach Russland – zu ihrem Unglück, wie sich später herausstellte. In der ersten Zeit schien alles sehr gut zu laufen. Sie ließen sich an unterschiedlichen Orten nieder. Der Oberst der zaristischen Armee Duruntscha erhielt eine sehr anständige Arbeit in Woronesch: als Direktor eines großen Kinos. Dort in Woronesch fand auch sein Freund Wesselowski seinen sicheren Hafen (wo genau, weiß ich nicht mehr). Sie machten neue Bekanntschaften. Wesselowski freundete sich mit dem Mathematiklehrer Nikolai Nikolajewitsch Sacharow an, und zu dritt begannen sie, sich die langen Winterabende beim Préférence-­Spiel zu verkürzen.

Dann aber kam das Jahr 1936. Die erste Verhaftungswelle überrollte das Land im Frühjahr und ergriff neben vielen anderen alle »Harbiner«, darunter natürlich auch Duruntscha und Wesselowski. Ihnen folgte als »guter Bekannter« auch Lehrer Sacharow. ­Duruntscha und Wesselowski wurde § 58 Punkt 1 (Vaterlandsverrat), Punkt 4 (Verbindung zur Weltbourgeoisie), Punkt 10 (anti­sowjetische Agitation), und Punkt 11 (konterrevolutionäre Organisation) zur Last gelegt, Sacharow Punkte 10 und 11.

Die Untersuchung dauerte sieben Monate. Wesselowski und Sacharow ertrugen die qualvollen Verhöre nicht und unterschrieben alles, was der Untersuchungsrichter ihnen vorlegte. Duruntscha unterschrieb nur einen Teil, trotz der schrecklichen Folterungen und Misshandlungen. In der Gemeinschaftszelle trafen sie sich alle drei erstmals wieder. Bis dahin hatten sie in Einzelhaft gesessen.

Wir freundeten uns an. Ich erzählte ihnen von mir, sie mir von sich; oft berichteten sie von ihrer Zeit als Emigranten in Harbin und sprachen davon in den wärmsten Tönen. Sie berichteten auch über ihre »Strafsache«. Im Grunde genommen existierte gar keine Strafsache, wie bei uns allen. Ihr ganzes Vergehen beschränkte sich darauf, dass sie Emigranten gewesen waren. Und bei Wesselowski außerdem darauf, dass er irgendwo in Singapur oder Saigon einen Sohn hatte, der nicht in die UdSSR zurückkehren wollte. Diesen Sohn wollte der NKWD Wesselowski ganz und gar nicht verzeihen.

Der von Wuchs kleine, füllige, schon leicht ergraute Oberst Duruntscha war ein aufgeschlossener und gesprächiger Mensch, Wesselowski eher willensschwach. Er ertrug seine Haft nur schwer, dachte oft an seinen Sohn, und zweimal hörte ich ihn nachts weinen. Der gutmütige Sacharow ertrug alle Unbilden stoisch und ergeben.

Bald wurden wir wieder getrennt. Man verurteilte mich. Ich erhielt die mir vom Schicksal zugedachten fünf Jahre Freiheitsentzug und wurde direkt vom Gerichtsaal des Moskauer Stadtgerichts zum Durchgangsgefängnis gebracht. Dieses befand sich auf dem Innenhof der Butyrka, in der früheren Häftlingskirche.

Ich sah meine Harbiner Freunde nicht wieder, doch ihr Schicksal interessierte mich natürlich. Ich hatte mich oft bei »durchlaufenden« Häftlingen erkundigt, doch nie konnte mir einer etwas über sie sagen.

***

»Nikolai Nikolajewitsch! Mein Gott! Nicht zu fassen! Ich werde diesen Halunken zermalmen!«

»Gar nichts werden Sie! Lassen Sie es gut sein!«, winkte Sacharow ab und drückte sein blutiges Handtuch gegen die Wange.

»Tiere sind das, keine Menschen!« sagte ein intelligent aussehender Häftling. »Man sollte es der Wache melden!«

»Untersteh dich, du Aas!«, schrie der Partner des einäugigen Senjka. »Wir schlachten dich ab wie eine Kuh, du kommst im Lager nicht mehr an!«

»Das wollen wir doch mal sehen!«

»Hört auf … Was legt ihr euch mit ihm an!«, bat Sacharow leise.

Vater Sergij trat zu uns. Ich machte ihn mit Sacharow bekannte.

»Kommen Sie mit in unseren Bereich«, schlug Vater Sergij vor. »Bei uns ist es ruhig, die Leute sind alle in Ordnung.«

»Ja, mir ist es gleich … Aber vielleicht ist es wirklich besser so.«

Ich nahm Sacharows kleines Bündel und wir gingen hinüber zu uns. Die vom Lärm aufgewachten Häftlinge legten sich wieder schlafen. Die Gauner blickten uns böse nach und tuschelten.

»Was für ein niederträchtiges Volk«, schüttelte Sacharow deprimiert den Kopf. »Wie kommt solch ein Abschaum nur auf unsere russische Erde? Lesen Sie doch nur mal die ›Aufzeichnungen aus dem Totenhaus‹ oder andere Gefängniserinnerungen aus der Zeit vor der Revolution, solche Niedertracht findet man da nicht … Wie viel haben Sie gekriegt? Wie viele Jahre?«, fragte er plötzlich.

»Fünf. Und Sie?«

»Zehn …«

Mir fielen seine »Mittäter« wieder ein.

»Und wo sind Duruntscha und Wesselowski? Nicht hier auf dem Boot?«

»Nein … Nicht hier.«

»Hat man sie auf einen anderen Transport geschickt? Wie viel haben die beiden bekommen?«

»Die haben keinen Transport erwischt. Die hat es anders erwischt«, entgegnete Sacharow finster. »Man hat sie erschossen.«

Vater Sergij bekreuzigte sich. Der Kerzenstummel zischte kurz und erlosch. Es wurde völlig dunkel. Die Kriminellen hörten auf zu tuscheln und stimmten leise ein Gaunerlied an:

»Von weit her, aus Kolyma, Kolyma,

geht an dich, meine Liebste, ein Gruß …«

Das Wasser schlägt gegen die Bordwand, als wolle es uns in den Schlaf wiegen. Es ist feucht und finster, und es stinkt. Schweres, vielstimmiges Schnarchen … Im Herzen aber Trauer und Kälte.

EINE NACHT

Ich stehe vor einer kleinen Blockbaracke – dem Leichenhaus.

Es ist Herbst. Über mir hetzen zerzauste Wolken trübsinnig entlang und mir wird ganz beklommen zumute. Wie weiße Kerzen stehen kleine Birken da und lauschen der traurigen Totenmesse – dem leisen Rauschen der Taiga. In der Dämmerung schweben die letzten vereinzelten Blätter herab; trocken, gelb, fallen sie ohne Eile auf die feuchte Erde.

Das Leichenhaus befindet sich ganz am Ende des riesigen Außen­lagers, direkt neben dem Stacheldrahtzaun. Jeden Tag werden mehrere Leichen gebracht. Das aus dem Erdreich ausgehobene Leichenhaus erinnert an ein riesiges Massengrab. Die Leichen liegen Seite an Seite auf langen Holzrosten und warten teilnahmslos auf den Tag, an dem man sie auf ein klappriges Fuhrwerk wirft und das magere Pferdchen Sinotschka mit ihnen den Taigaweg entlang zum Fluss zuckelt, zur Sosnowaja Gorka, dem Kiefernhügel.

In eine zerschlissene Jacke gehüllt, werfe ich hin und wieder ­einen Blick auf die niedrige Tür des Leichenhauses und rauche Machorka. Hinter jener morschen Tür liegen Menschen, die ich noch vor ein paar Tagen lebend gesehen habe, wir haben miteinander geredet und von der Zukunft geträumt …

Rechts, vom Eingang aus gesehen als Dritter, liegt, völlig entkleidet, Maxim Sorokin, Student, mein alter Gefängniskumpel, ein flinker, lebenslustiger, kluger Bursche. Er ist am Skorbut verreckt. Direkt unter ihm, zusammengekrümmt, der alte Potapytsch, dessen Platz als Wächter des Leichenhauses ich heute eingenommen habe. Der Alte ist letzte Nacht auf den lehmigen Stufen vor der Tür zum Leichenhaus gestorben. Schwach war er, hat sich schon das neunte Jahr durch Gefängnisse und Lager geschleppt, jetzt hat sein Herz nicht mehr mitgemacht.

Es ist kalt. Fröstelnd setzte ich mich schlurfend in meinen alten Cordschuhen in Bewegung. Hunger quält mich. Ach, was gäbe ich für ein ordentliches Stück Brot! Schön mit Salz bestreut!

»Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir

knarrend mein zwölftes Stündlein an …«

Auch ich bin an der Grenze zur völligen Erschöpfung. Meine Augen sind eingefallen, die Arme hängen kraftlos herab. Schon seit Tagen war ich nicht mehr imstande, die Karre zu schieben, und sosehr die Zehnerführer und Vorarbeiter auch auf mich einschrien – ich konnte nur noch auf der Erde liegen, in den kalten Himmel starren und vom baldigen Ende träumen, mich innerlich von meinen Lieben verabschiedend, die ich fern von hier zurücklassen musste.

Aber, wie das Leben manchmal so spielt – in letzter Minute kam die Rettung. Unverhofft starb der alte Potapytsch, und sein Posten, von dem so einige Hundert Häftlinge träumen, wurde frei. Gottes Finger wies auf mich, und ein mitfühlender Vorarbeiter sorgte dafür, dass ich den Posten des Wächters bekam. Eine bessere Arbeit gibt es für einen Häftling nicht. Ich erhielt achthundert Gramm Brot täglich und wurde vor dem Schlimmsten bewahrt: der zermürbenden Arbeit mit der Schubkarre. Auch wenn für einen völlig ausgezehrten »Dochodjaga« wie mich achthundert Gramm Brot weiß Gott nicht viel sind. So eine Portion vertilgt man auf einen Schlag.

Die Taiga singt ihr seltsames Totenlied, die Nacht umgibt sie mit einem schwarzen Leichentuch, und eine nach der anderen erlöschen in der Dämmerung die weißen Birkenkerzen.

»Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir

knarrend mein zwölftes Stündlein an …«,

wiederhole ich für mich die immer selben Zeilen, während ich mich enger in meine löchrige Jacke wickle. Vor mir liegt eine lange Herbstnacht in Nachbarschaft zu den erstarrten Toten.

Ich höre im Lager, in einer der Baracken, die Gauner im Chor singen:

»Ach, einsam sitz ich in der Ze-elle,

schau aus dem Fenster meines Kna-asts …«

Ich kenne das Lied gut und fand es schon immer erschütternd, wie wenig Text und Melodie miteinander harmonieren. Der Text ist traurig, bedrückend, voller Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht, die Melodie aber fröhlich.

»Und heimlich fließen mir die Trä-änen

über die Wangen dü-ürr und bla-ass …«,

fliegt das Lied herüber, von fröhlichen Pfiffen begleitet.

Ich bleibe stehen und lausche. In das Lied stimmen hell klingende Frauenstimmen ein, offenbar hat die benachbarte Frauenbaracke es aufgegriffen.

»Die Wächter rufen mich noch a-an,

sie rufen einmal und noch ma-al,

dann drücken langsam sie den Abzu-ug,

und dann bin tot ich immerda-ar …«

Ein interessantes Volk, diese Gauner. Sie sind die Einzigen unter den Häftlingen, die im Lager ungefähr dieselbe Lebensweise beibehalten wie in der Freiheit. Sie versuchen sich möglichst gut zu kleiden, spielen Karten, klauen, trinken Kölnischwasser und denaturierten Sprit, lieben, sind eifersüchtig, streiten sich um die Frauen … Sie wissen genau, dass sie für Liebschaften in den Karzer kommen, und in was für einen! Einen Karzer, aus dem man kaum lebend herauskommt. Aber das hält sie nicht auf. Ich kann nicht recht begreifen, wie das zu werten ist: gut oder schlecht? Ist es »Liebe stärker als der Tod« oder ist es die Verzweiflung der Todgeweihten?

Das Lied verstummte, und es wurde völlig still – Friedhofsruhe. Hinter dem Stacheldraht ging trägen Schritts ein Wachposten vorbei und hustete leise. Ich hob ein paar trockene Zweige auf, packte sie auf den Erdboden und legte mich hin, um ein Nickerchen zu machen.

»Bald, schon bald sagt die hölzerne Uhr mir

knarrend mein zwölftes Stündlein an …«

Ich richtete mich auf und blieb sitzen. Tatsächlich, wer sagte denn, dass ich morgen nicht denselben Weg gehen würde, den Maxim Sorokin und Potapytsch gegangen waren? Man würde mich nackt ausziehen, meine Kleidung einem noch lebenden Häftling geben und mich neben die anderen Toten auf eines der glitschigen Gestelle legen.

Irgendwo in der Taiga rief eine Eule. Ich begann mir eine Zigarette zu drehen, doch ehe ich fertig war, vernahm ich an der Wand des Leichenhauses vorsichtige Schritte.

Ich hielt den Atem an und lauschte angespannt.

Ein paar Sekunden lang war es still, dann knackten wieder Zweige unter jemandes Schritten. Instinktiv ergriff ich meinen dicken Knüppel. Aus der Finsternis tauchten zwei diffuse Gestalten auf.

»Potapytsch!«, rief eine Männerstimme leise.

Ich erhob mich zu voller Größe.

Die Gestalten kamen schnell auf mich zu. Es waren ein Mann und eine Frau.

»Hier ist kein Potapytsch …«, erwiderte ich.

»Pst, leise!«, bat der Mann. »Wo ist er denn?«

»Gestorben, gestern.«

»Gestorben?«, fragte er verwundert. »Hörst du, Marussjka?«

»Schade um ihn … war ein guter Mensch, der Alte«, sagte die Frau gähnend.

Jetzt konnte ich sie genau sehen. Er – ein junger Bursche in weiter Hose, die er, wie bei den Dieben üblich, in die kurzen Stiefel gesteckt hatte. Sie – ein spitznasiges Mädchen in einer lagereigenen gesteppten Wattejacke. Unterm Arm trug sie etwas Großes, in Papier Gewickeltes. Ihn kannte ich flüchtig aus dem Lager. Ein Bahndieb, wegen seines hübschen Gesichts trug er den Spitznamen Petjka Krasjuk.

»Und – haben sie Potapytsch da reingelegt?« Marussja wies auf die Leichenkammer.

»Ja … Er liegt auch da.«

Jemand kam aus einer der Baracken, schlug die Tür hinter sich zu und ging laut fluchend weg. Meine Besucher duckten sich.

»Der Kommandant, der Lump, schnüffelt überall rum. Kaum zu glauben, sogar in Baracke drei.«

In dem Lichtstreifen zwischen den Baracken war die schwarze Silhouette eines Menschen vage zu erkennen. Als sie hinter der Ecke verschwunden war, erhob sich Petjka Krasjuk, schob seine Mütze nach hinten, kam ganz nahe an mich heran und flüsterte:

»Hör mal, du, äh, wie heißt du noch mal, jetzt bist du doch hier, für Potapytsch? Als Wächter?«

»Genau, als Wächter.«

»Dann hilf du uns … Die Sache ist die … Die Kommandanten fischen, nirgendwo kann man mal mit nem Weib hin … verstehst du … das ist so … in’n Karzer wegen so ’ner Gans hab ich keinen Bock … Und in der Baracke erwischen sie einen hundertpro. Also, du, äh, lass uns hier rein zu dir, verstehst du … Mit Potapytsch lief das wie geschmiert, und der hatte da auch sein Gutes von … Marussja, gib mal her.« Er nahm das Päckchen und schob es mir in die Hand. »Hier hast du ein Schwarzbrot, zwei Kilo … ja was glotzt du so? Verlier bloß nicht die Fassung …!«

Ich hatte begriffen, was sie von mir wollten, und konnte vor Verblüffung kein Wort herausbringen.

»Alles klar?«, fragte Petjka Krasjuk. »Abgemacht? Komm, Marussja.«

»Halt, stopp«, hielt ich sie zurück, »das kann ich nicht … gestatten.«

Drohend kam er mir näher und zückte das Messer, das er in der Tasche trug. Die Klinge blitzte schwach auf.

»Du willst nicht? Sei kein Dummkopf. Hier werde ich mich mit dir vielleicht nicht anlegen, aber morgen in der Baracke stech ich dich ab wie das letzte Stück Vieh. Klaro? Komm, Marussja!«

Leichtfüßig liefen sie die Lehmstufen hinab, öffneten die Tür und verschwanden im Leichenhaus.

Verwirrt stand ich da und hielt das Schwarzbrot; es brannte mir in der Hand.

Aus dem Leichenhaus erklangen das Kichern der Frau und Petjkas unterdrücktes Flüstern:

»Warte, ich zieh ihn an den Beinen weg, dann ist mehr Platz; hat sich breit gemacht, was!«

Ich setzte mich auf meinen Reisighaufen und schleuderte zum ersten Mal im Leben ein Brot auf die Erde.

Der Mond tauchte auf und erfüllte die Taiga mit schwachem, milchig-blauem Licht. Die Birken begannen wieder zu leuchten, als sei ein weiterer Toter hinzugekommen. Durchdringend wie ein Klageweib rief die Eule. Ein leichter Wind raschelte über das trockene Gras hinweg und trug die braunen Blätter mit sich; die hundertjährigen Fichten schwangen ihre zotteligen Zweige wie schwere Weihrauchwedel.

Die Geheimnisse von Leben und Tod verbanden sich zu einem dämonischen, disharmonischen Akkord.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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322 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783963114489
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