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Via degli Emiri, viel zu viele Jahre später

Er kam sich vor wie in dieser alten Fernsehdokumentation, in der ein Chirurg das Gehirn eines nur lokal betäubten Mannes mit einer Sonde stimulierte, und sobald er einen bestimmten Punkt in der Gehirnrinde berührte, behauptete der Mann, eine grüne Wiese zu sehen, auf der er und seine Mutter wandelten. Die etwas monotone, abgehackte und doch durchdringende Stimme des Mannes schien aus weiter Ferne zu kommen, wie aus einer fremden Galaxie. Aber es war eine flüchtige Galaxie, denn die Sonde hatte Erinnerungen zu neuem Leben erweckt, die aus dem Bewusstsein des Mannes längst verschwunden waren.

Polizeiobermeister Puleo hatte fast die gleichen Worte benutzt wie damals der junge grau gekleidete Mann, am Tag der Ermordung von Signorina Lo Giudice, vor viel zu vielen Jahren, und Spotorno war es, als hätte ihm jemand eine Sonde ins Gehirn getrieben.

— Dottore, wir wären hier fertig, hatte Puleo gesagt.

Ob man noch immer Bimssteine findet?, fragte sich Spotorno unmittelbar, in einer Art unerbittlichem und grausamem Reflex. Er musste richtiggehend an sich halten, um nicht nach unten zu sehen und zu kontrollieren, ob Teer unter seinen Fußsohlen klebte. Seltsam war, dass ihn der Reflex nicht eine Stunde früher hinter der Zisa, in einer Seitenstraße der Via degli Emiri überkommen hatte, als er in einem der beiden Ermordeten im himmelblauen Fiat 127 Rosario Alamia erkannte.

Vielleicht war es seiner langjährigen Erfahrung mit Mordopfern zu verdanken, wenn sich aus dem zerschlagenen und entstellten Gesicht des Mannes mit dem vielen Blut doch noch Stück um Stück das Bild eines jungen rothaarigen Burschen zusammensetzte, das in Spotornos Erinnerungen aus der Kindheit nur noch in vagen Umrissen vorhanden war.

Der Erfahrung sei Dank, das ja, aber ohne vor Dankbarkeit Luftsprünge zu machen. Mordopfer hatte der Herr Kommissar bereits so einige gesehen, zu viele. Und auf den Doppelmord des heutigen Tages hätte er gerne verzichtet. Ein Fall von »Saturnismus Kaliber zwölf« hätte sein Freund Lorenzo konstatiert, mit anderen Worten: eine Bleivergiftung. Lorenzo, dieser scheinheilige Zyniker.

Es kam nicht von ungefähr, dass er an Lorenzo La Marca dachte. Vor knapp einer Stunde waren sie noch zusammen gewesen, als im Polizeifunk die Meldung von der tödlichen Schießerei bei der Zisa kam. Und sie waren nicht etwa wegen eines Ausflugs ins Grüne zusammengekommen. Die von der Zisa waren für Spotorno nämlich nicht die ersten Toten an jenem Samstag Ende Juni. Und am Vortag hatte ein Nachtwächter, als er seine Gattin am Telefon mit ihrem Liebhaber erwischt hatte, die Dienstpistole auf sie gerichtet und das Magazin leer geschossen.

So ist es immer, dachte er. Es gab Wochen, in denen nichts, absolut gar nichts geschah. Und plötzlich machte es zur selben Zeit Klick im Hirn seiner Mitbürger, der Schalter war umgelegt, und das Verbrechen hatte freie Bahn. Dann genügten nicht einmal Achtundvierzig-Stunden-Tage.

Mit einem gewissen Bedauern hatte er den ersten Toten des Vormittags zurückgelassen, einen Kerl, den sie im Wasserrosenteich in den Giardini Botanici Comunali in der Via Medina-Sidonia entdeckt hatten. Vermutlich Tod durch Ertrinken.

Ohne Zweifel Mord, auch wenn er sich gedreht und gewunden hatte, das vor La Marca zuzugeben. Wie üblich war es zwischen ihnen fast zum Streit gekommen, als sie von dem Funkspruch mit der Meldung der zwei Toten bei der Zisa unterbrochen wurden. Den Ertrunkenen hatte La Marca entdeckt. Nur ein paar Wochen zuvor hatte er hier einen weiteren Toten gefunden, dieses Mal aber an einem der Großblättrigen Feigenbäume in den Giardini Botanici hängend. Lorenzo arbeitete an der Universität im Institut für Biochemie*, und das Fenster seines Arbeitszimmers ging auf eben diese Giardini.

Die beiden Todesfälle mussten miteinander in Verbindung stehen, daran gab es nichts zu rütteln. Ein schön verzwicktes Schlamassel, ganz nach Spotornos Geschmack. Es hätte ihm gefallen, sich tiefer in den Fall zu versenken. Doch angesichts der Wahrscheinlichkeit eines neuen Mafiakriegs musste er sich das aus dem Kopf schlagen.

Puleo glaubte offenbar, sein Chef hätte ihn gar nicht gehört.

— Dottore, wir wären hier fertig, wiederholte er im Näherkommen.

Spotorno nickte.

Ein guter Kerl, dieser Polizeiobermeister Puleo. Neapolitaner bis ins Mark, höflich, wohlerzogen, einfühlsam, nur wenige Leute hätten ihn für einen Bullen gehalten. Puleo war gleich aufgefallen, dass im Kopf seines Chefs etwas nicht ganz richtig tickte und dieser sich manchmal in einem Zustand meditativer Entrücktheit, in einer wissentlich herbeigeführten Abwesenheit befand, die er in der Zwischenzeit zu erkennen wusste. Wieder einmal kam ihm der ungebührliche Gedanke, dass Kommissar Spotorno für seinen Beruf eigentlich nicht geschaffen war. Und das Bewusstsein, dass der Kommissar von ihm das Gleiche dachte, erschien ihm ungemein faszinierend. Auch deswegen schätzten sie einander, beschied er.

Spotorno hegte in der Tat eine Art fein ausgewogener Vorliebe für Polizeiobermeister Puleo, den er im Stillen in den Rang des zuverlässigsten Mitarbeiters erhoben hatte. Er erkannte in ihm ein Übermaß an Gelassenheit, einen besorgniserregenden Mangel an berufsbedingter Gereiztheit, was ihn früher oder später, wenn nicht rechtzeitig unter Kontrolle gebracht, in ernste Schwierigkeiten stürzen würde. Als Diagnose mehr als offensichtlich: In seinem jungen Mitarbeiter entdeckte der Kommissar nämlich Ähnlichkeiten mit dem jungen Spotorno.

Er nahm auf dem Rücksitz des kastanienbraunen, zufällig auf die Farbe seines Leinenanzugs abgestimmten Alfa Romeo Platz. Puleo setzte sich neben den Beamten, der an diesem Tag als Fahrer eingeteilt war und sofort die Reifen quietschen ließ.

Bei der Mordkommission bewegten sich alle immer so, als wüssten sie ganz genau, wohin sie zu gehen und was sie zu tun hatten. Die Zurschaustellung von Effizienz galt als moralisches Gewohnheitsrecht, wiewohl dies, besonders im Sommer, auch beträchtliche Energie kostete. Eine weitere Variante der viel diskutierten Dichotomie zwischen Sein und Schein. Spotorno fiel nicht darauf herein. Besonders nicht an Tagen wie diesem. Und es war wirklich wundersam, wie sich just an solchen Tagen dieses Missverhältnis so häufig in Form eines Berichts, eines ersten schriftlichen Überblicks materialisierte und bereits erwartungsvoll auf dem Schreibtisch des für die Ermittlung zuständigen Beamten lag.

Spotorno griff nach den Papieren, noch bevor er sich niedersetzte.

Im Leben von Rosario Alamia musste es, seitdem sie beide sich aus den Augen verloren hatten, nicht besonders toll gelaufen sein. Rosario hatte es nur bis zur Mittleren Reife gebracht, weiter nichts; die Handelsschule Duca degli Abruzzi hatte er nach mehrmaligem Sitzenbleiben aufgegeben. Das allerdings ging aus dem Polizeibericht nicht hervor.

Was im Übrigen auch nicht nötig war. Derlei Dinge waren bekannt, man sprach darüber unter den alten Freunden, die Spotorno von Zeit zu Zeit noch getroffen hatte, auch nachdem seine Familie in die Stadt, in die Via Venezia gezogen war. Und einmal hatte Rosarios Mutter ihn zu sich in die Schneiderwerkstatt rufen lassen, um mit ihm zu reden – um zu verstehen, hatte sie gesagt –, aber viel brachte sie nicht heraus, sie weinte nur, ausgiebig und still, und er verspürte eine Last auf dem Zwerchfell, als säße ihm jemand auf dem Brustkorb. Er war wieder gegangen, ohne auch nur zwei halbwegs vernünftige Worte herausgebracht zu haben.

Zu jener Zeit besuchte er das Vittorio-Emanuele-Gymnasium, aber noch heute reagierte er auf dieselbe Weise auf weinende Frauen, gleich welchen Alters. Amalia, seine Frau, hatte einmal gesagt, das sei der Grund, weshalb das Schicksal ihnen zwei Söhne beschert hatte. Doch das war eine dieser übertriebenen, verqueren Schuldzuweisungen, wie sie auch in weniger eingespielten Ehen von Zeit zu Zeit vorkommen.

Rosarios Mutter, Signora Rosa Brancato Alamia, musste jedenfalls noch am Leben sein.

Der Rest hingegen stand in der Polizeiakte. Nichts Gravierendes: Ausstellen ungedeckter Schecks über einige hunderttausend Lire, was schon fünf Jahre zurücklag, und eine Anzeige wegen Körperverletzung, die noch älteren Datums war. Auch das hatte ihm irgendjemand mal gesteckt.

Die Sache hatte sich folgendermaßen zugetragen: Rosario, Zigarette zwischen den Lippen, wollte ungestört seiner Wege gehen. Er hatte gerade eine jener sinnlosen Moralpredigten hinter sich, die ihm sein Vater regelmäßig, praktisch wie eine Beichtstuhlbuße angedeihen ließ, und wie immer war er danach zornig und gekränkt und zog eine finstere Miene. Da steuerte auf der Via Maqueda ein Typ auf ihn zu und bat ihn um Feuer. Mit einem einzigen Fausthieb hatte Rosario dem armen Kerl die Nase zerdeppert. Einfach so, eiskalt, ohne ein Wort zu sagen. Zu diesem Zeitpunkt war er achtzehn Jahre alt. Der Typ hatte ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel und war obendrein sehr viel kräftiger gebaut als er. Aber er war picobello gekleidet, blank gewienerte Schuhe, Krawatte, alles ohne Fehl und Tadel. Nur, dass es ihm an jeglicher Beobachtungsgabe fehlte.

Als Spotorno von der Sache hörte, war er keineswegs überrascht. So war Rosario immer schon gewesen. Unberechenbar. Impulsiv. Großherzig. Der großherzigste Mensch, den er je kennengelernt hatte. Aber auch der blauäugigste. Seine Naivität war so ausgeprägt, dass sie schon fast an Heiligkeit grenzte. Oder an Einfältigkeit, was häufiger zutraf.

Nach dem Fausthieb hatte Rosario mit dem eigenen Taschentuch das Blut bei seinem Gegenüber zu stoppen versucht und ihn persönlich zu Fuß in die Notaufnahme in der Via Roma begleitet. Einige Monate später hatte der Typ die Klage zurückgezogen.

Mehr wusste Spotorno nicht. Er und Rosario hatten sich nach den Sommerferien in der ersten Mittelschulklasse aus den Augen verloren, ohne dass irgendetwas darauf hingedeutet hätte. Seither waren sie sich nur ein einziges Mal noch begegnet. Wobei es sich dabei weniger um eine Begegnung als um einen Zusammenstoß handelte.

Spotorno war erst spät nach Unterrichtsschluss aus der Schule gekommen, da der Philosophielehrer ihn aufgehalten hatte, um mit ihm zu reden. Obwohl noch über ein Jahr Zeit bis zum Abi war, bekniete der Lehrer ihn jetzt schon, die Idee mit dem Jurastudium unter allen Umständen fallen zu lassen und sich stattdessen in Altphilologie einzuschreiben.

Danach trat er den Nachhauseweg alleine an. Er überquerte die Piazza Sett’Angeli, um dann über Schleichwege zur Via Candelai und von dort aus direkt nach Hause zu gelangen.

Es machte ihm nichts aus, ohne Begleitung zu sein. Wenn er mit den anderen nach Hause ging, kam hin und wieder einer mit dem Vorschlag, doch die Gran-Cancelliere-Gasse zu passieren, um die Huren zu sehen.

Einige Monate zuvor war eines dieser bedauernswerten Geschöpfe nebst einem jemenitischen Matrosen erstochen worden – »eine blutjunge Dame von Welt«, wie die Zeitungen mit heuchlerischer Prüderie geschrieben hatten. Man hatte sie noch ineinander verkeilt auf der blutgetränkten Matratze aufgefunden, so als hätten sie gar nichts mitbekommen. Zur größten Empörung der Kurienkreise hatte die Sicilia sogar noch eine Zeichnung des Tatorts mit den Umrissen der Körper veröffentlicht.

Bei der Vorstellung, Li Vigni, sein Philosophielehrer, könnte sie früher oder später in dieser Gegend entdecken, spürte er Schamröte aufsteigen.

Vittorio Spotorno galt bei den Lehrern, selbst bei dem für Sport, als Musterschüler. Und durch die Gran-Cancelliere-Gasse zu gehen, sorgte bei ihm stets für eine anhaltende, wenn auch nicht unangenehme Sinnesverwirrung. An jenem Tag hatte ihn zudem ein gewisses Selbstmitleid heimgesucht, das er lange auszukosten gedachte.

Das war auch der Grund, weshalb er nicht auf das Motorrad achtete, das in einer scharfen, ansteigenden Kurve wie aus dem Nichts hervorgeschossen kam und ihn um ein Haar auf die Pflastersteine der Via Sant’Isidoro alla Guilla geschleudert hätte. Es war ein silberfarbenes, schmales, schnittiges Motorrad, und der Fahrer hatte noch im Überholen, unmittelbar nachdem er ihn gestreift hatte, gebremst.

— Beinahe hätte ich meinen Freund Vittorio umgenietet, hatte eine tiefe Stimme gesagt, die in seinen Ohren unbekannt klang. Bis auf eine leicht schleifende Aussprache, und die knipste ein winziges Licht in seinem Kopf an. Dann hatte er sich umgedreht und die roten Haare gesehen. Lang, glatt, mit Pony. Aus dem Lichtlein war der Scheinwerfer eines Leuchtturms geworden.

Die Hormone hatten Rosarios Stimme verändert, doch eine Art Echo war wie eine Verlängerung der Kindheit zurückgeblieben. Haspelzunge. So hatten seine Kumpel ihn genannt. Aber nur, wenn er nicht zugegen war. Andernfalls hätte es was gesetzt, und nicht zu knapp, wie diejenigen am eigenen Leib erfahren mussten, die es mal gewagt hatten. Spotorno hatte das nie getan. Auch wenn er nicht anwesend war, hatte er ihn stets bei seinem richtigen Namen genannt. Außerdem tendierte er selbst zu einer weichen Aussprache des Rs, was er später mit größter Willensanstrengung fast immer in den Griff bekam. Bullen ohne markantes R gab es einfach nicht. Zumindest durfte es keine geben, dachte er.

Rosario war nicht einmal abgestiegen. Und er hatte ihn auch nicht dem Mädchen vorgestellt, das sich in einem offenkundigen Dauerreflex fest an seinen Rücken schmiegte. Schön war sie, blond, mit großen dunkelbraunen Augen und langen Beinen. Die Beine ragten unter einem schwarzen Minirock hervor und steckten in ebenfalls schwarzen Stiefeln. Sie machte kein einziges Mal den Mund auf, ja, nur dank Rosario schien sie überhaupt zu atmen. Auf den zweiten Blick entschied Spotorno, dass sie zwar attraktiv, aber keine echte Schönheit war.

Es war die Zeit der Beat-Mode, die mit Verspätung und in einer Softvariante die Stadt erreicht hatte und sich nun Zeit nahm, sie wieder zu verlassen, wie es immer in den Peripherien von Imperien der Fall ist. Auch Rosario und seine Sozia trugen diesen späten Beat-Look, der den kommenden Hippie-Kult schon anzudeuten schien. Aber es war ein Pseudo-Hippie-Look, wie man ihn in den Modeboutiquen finden konnte, in Pastelltönen, die eher an teures Kaschmir denken ließen.

Vittorio hingegen hielt sich stets fern von jeglichem Modediktat.

Sie hatten ein paar Sätze gewechselt, nichts von Bedeutung, die üblichen Banalitäten darüber, was sie so machten und was sie nicht machten. Und die einzige Wahrheit, die sich aus den dahingeworfenen Worten ableiten ließ, wenn man sie von jeder Ausschmückung befreit hatte, war folgende: Rosario trotzte dem Leben ab, was er nur konnte. Ansonsten tat er nichts.

Als das Motorrad wieder startete, blieb Spotorno in einem konfusen Zustand des Selbstbedauerns zurück, in einer zwiespältigen Empfindung, deren Bedeutung er erst nicht begreifen wollte und die er dann mit einem Gefühl der Verlegenheit verdrängt hatte. Es war wie die Hinnahme eines definitiven Abschieds von der Jugendzeit.

Wir damals waren wesentlich reifer als die jungen Leute heutzutage, dachte er, mit Blick auf den Polizeibericht. Das dachte er häufig, aber ohne Selbstgefälligkeit. Vielmehr verspürte er jetzt etwas Ähnliches wie damals. Ein Sehnen nach dem, was er nicht gewesen war, ein verspäteter Tadel für die überschwängliche Gedankenwelt jenes fernen, siebzehnjährigen Ichs.

Er dachte auch an all die Male zurück, da so manch einer Rosario ein schlimmes Ende prophezeit – es ihm zuweilen gar gewünscht – hatte: Im Malaspina* würde er enden. Und dann im Ucciardone**. Dort würde er sich die Hörner abstoßen. Erschießen würden sie ihn.

Aber am Ende war er nicht wegen etwas, das er getan hatte, erschossen worden. Und auch nicht wegen etwas, das er nicht getan hatte. Das zumindest stand für den stellvertretenden Staatsanwalt fest, der umgehend zum Tatort bei der Zisa geeilt war. Und das war auch Spotornos Ansicht, was er sich schweren Herzens eingestehen musste, denn es behagte ihm nicht sonderlich, mit Dottore De Vecchi einer Meinung zu sein.

Andererseits genügte diesbezüglich auch ein Blick in den zweiten Polizeibericht, der nicht sonderlich viel dem hinzufügte, was die Mordkommission schon am Tatort geschlussfolgert hatte, sobald die Identität des anderen Toten feststand: Das eigentliche Ziel des Anschlags war Gaspare Mancuso, genannt Asparino, gewesen.

Im Laufe seiner vierunddreißigjährigen, nicht sehr ehrbaren Existenz hatte Asparino dafür gesorgt, dass seine Verbrechensakte zu einem kleinen Faszikel angeschwollen war. Bei seiner ersten Verurteilung wegen versuchter Erpressung, im Alter von zwanzig, war unmittelbar Haftverschonung angeordnet worden. Die Strafe hatte er dann allerdings mit Zins und Zinseszins abgesessen, nachdem sie ihn bei einer Straßensperre im Auto mit einer Pistole am Leib geschnappt hatten.

Der ganze Rest, das waren lediglich Mutmaßungen, Ableitungen und Verdächtigungen. Material für Ermittlungsberichte, Polizeiwissen also, aus dem sich keine juristisch verwertbaren Beweise machen ließen. Was dann maximal die klassischen, wenig zielführenden Vorsichtsmaßnahmen gerechtfertigt hätte, wie man sie niemandem vorenthalten mochte: Zwangswohnsitz in einem Kuhdorf in Norditalien mit anschließender Rückkehr in den wachsamen Schoß der Familie und der dazugehörigen Tötung des fettesten Kalbs*.

Spotorno hätte anstelle von Mancusos Vaters nicht einmal ein Hühnchen* geschlachtet. Aber das Problem, und das wusste er bestens, waren nicht die Väter, sondern die Mütter, die Schwestern, die Ehefrauen, die Töchter.

Mancuso war allem Anschein nach seit damals nicht mehr auffällig geworden: keine zwielichtigen Geschäfte, aber auch nicht die Spur einer offiziellen Beschäftigung, abgesehen vom Wachehalten im Lebensmittelgeschäft seines Vaters. Einen Gutteil seines Tages verbrachte er auf dem Gehsteig vor der Ladentür oder bei schlechtem Wetter im Hinterzimmer. In beiden Fällen hatte er immer jemanden um sich, seine Altersgenossen oder jüngere Burschen.

Das Leben als freier Mann, ohne Verpflichtungen und Fesseln gleich welcher Natur, mit Ausnahme – zu gegebener Zeit – eben die der Ehe, hatte Mancuso und seine Familie nicht daran gehindert, einen nicht zu verachtenden, wenn auch nicht allzu auffälligen Lebensstil an den Tag zu legen.

Gelegentliche Kontrollen hatten nie etwas von Bedeutung ans Licht gebracht. In der Stadt gab es zu viele ähnliche Konstellationen, um sie allesamt dauerhaft unter Überwachung zu stellen oder um zu versuchen, einen V-Mann einzuschleusen. In den Annalen der Mordkommission mussten im Verlauf der Jahre Dutzende solcher Fälle gespeichert sein: Mancuso war der klassische, überaus ehrgeizige picciotto**, dem aus Mangel an Beweisen niemand etwas anhaben konnte.

Doch wer immer auf ihn geschossen hatte, musste Beweise haben, dachte Spotorno und nahm die Aufnahmen vom Tatort, die Puleo ihm gerade frisch aus dem Fotolabor auf den Schreibtisch gelegt hatte, gründlich unter die Lupe.

Trotz jahrelanger Berufserfahrung in einer Stadt, die mit Mordopfern reichlich gesegnet war, hatte Spotorno es nie geschafft, seine Abscheu gegenüber echtem Blut zu überwinden. Anhand von Fotos gelang es ihm einfach besser, die notwendige Distanz wiederherzustellen.

Rosario saß am Steuer des Fiat 127. Der Leichnam hatte eine ziemlich aufrechte Haltung bewahrt, nur der Kopf war über die niedrige Lehne des Sitzes nach hinten gekippt und leicht seitwärts zum Fenster gedreht, als hätte Rosario ein letztes Bild des Himmels über der Zisa einfangen wollen.

Bei eingehender Betrachtung der zusammengekniffenen Gesichtszüge war es für Spotorno nicht schwierig, die Spuren älterer Kontrakturen aus der Zeit vor dem tödlichen Überfall zu erkennen. Seelische Narben, nannte er sie insgeheim, und gestattete sich damit ganz ausnahmsweise einen melodramatischen Schlenker.

Selbst die Kleidung lieferte Indizien. Der Polizeiobermeister hatte von einem anständigen Outfit gesprochen. Rosario trug hellblaue Hosen aus Baumwollstoff, die zwar ein bisschen verknittert und ausgebleicht, aber von hervorragender Qualität waren, sowie ein dunkelblaues langärmliges Leinenhemd, mit breiten Kragenspitzen, die, wie selbst Spotorno wusste, seit Ewigkeiten aus der Mode waren. Seine Füße steckten in braunen Mokassins, die ein wenig an Form verloren hatten, aber immerhin Markenschuhe waren. Seine Armbanduhr war eine Casio mit Digitaluhrwerk und metallenem Gliederarmband.

Es war die Garderobe von einem, dem im Leben nicht alles in den Schoß fiel, der gleichwohl versuchte, sich auf den Beinen zu halten.

Ein Geschoss war in Rosarios rechte Schläfe eingedrungen und auf der anderen Seite des Schädels wieder ausgetreten. Auf den ersten Blick wies er keine weiteren Verletzungen auf. Auch eine oberflächliche Leichenbeschau am Tatort hatte nichts dergleichen zutage gefördert.

Mancuso hingegen war von Kugeln durchsiebt, und jede einzelne hätte ausgereicht, ihren Zweck zu erfüllen. Aus dem Blickwinkel einer Choreographie des Geschehens hatten aber diejenigen den meisten Schaden angerichtet, die man ihm in den Kopf geschossen hatte, vor allem jene Kugel, die durch die Stirn eingetreten und im Nacken wieder ausgetreten war. Es musste der erste Schuss gewesen sein. Mancuso hatte den Kopf seitwärts gedreht, um den Killer anzusehen, genau in dem Moment, da dieser den Abzug betätigte. Ein Ausdruck höchster Verwunderung, mehr als von Angst, war auf seinem Gesicht zurückgeblieben und wurde von der heruntergeklappten Kinnlade noch betont: Sein Mund stand offen wie bei der Figur des erschrockenen Hirten aus der Weihnachtskrippe, die Spotorno in seiner Kindheit auf dem Olivella-Markt gekauft hatte. Mancusos Leichnam lag quer, mit ungelenken Gliedmaßen da, so als hätte er vor dem Erstarren noch lange gezuckt und sich zusammengekrampft.

Das war nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden Männern. Mancuso war gediegen, aber nicht wirklich elegant gekleidet, und doch war es alles Markenware, vom gelben Polohemd bis zu den Mokassins, die er ohne Strümpfe trug. An den entsprechenden Stellen am Körper war er goldbehängt: Am rechten Handgelenk prangte ein Armband, am linken eine Uhr, um den Hals eine Kette aus bedachtsam ausgewähltem Massivgold, über dem Ehering ein weiterer Ring mit einem Opalstein.

Spotorno erinnerte sich daran, von Amalia gehört zu haben, ein Opal würde unabwendbares Unglück bringen. Das hier erschien geradezu als schlagender Beweis. Allerdings hatte das eigentliche Unglück ganz offensichtlich Rosario getroffen, der die Tatsache, dass er sich im falschen Moment mit der falschen Person im falschen Auto befand, mit dem Leben bezahlt hatte.

Was hatte er in jenem Fiat 127 mit einem wie Mancuso verloren?

* Siehe: Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia, Köln 1998.

* Jugendgefängnis in Palermo

** Berüchtigtes und größtes Gefängnis in Palermo, in den 80er Jahren auch »Grand Hotel dell’Ucciardone« genannt, da die dorthin verlegten Mafiosi ungehindert ihren Geschäften nachgehen konnten. Derzeit gilt das Ucciardone-Gefängnis wegen Überbelegung und schlechtem Bauzustand als eines der schlimmsten Gefängnisse Italiens.

* Siehe: Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lukasevangelium): Bei seiner reumütigen Rückkehr ins Haus des Vaters schlachtet dieser gleich das fetteste Kalb im Stall, ohne auf den anderen Sohn Rücksicht zu nehmen, der ihm stets treu gedient und nicht sein Erbteil verprasst hat.

* Pollastro, Hühnchen, bedeutet übertragen auch Einfaltspinsel – ein nicht abbildbares Wortspiel.

** Jungspund. Lehrling in der Mafia

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