Читать книгу: «Pralinen unter Palmen», страница 2

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„Kurz vor der Hochzeit“, jammerte ich. „Mit meiner besten Freundin. Auf meinem Esstisch. Wir wollten doch in ein paar Tagen in den Urlaub fliegen.“

Die Worte strömten jetzt unaufhörlich aus meinem Mund. Ich merkte, wie die Tränen, die ich so tapfer zurückgehalten hatte, warm über meine Wangen und hinunter zu meinen hängenden Mundwinkeln liefen. Sie schmeckten salzig.

Ich hätte Mike schlagen sollen, ging es mir durch den Kopf. Ich hätte Anna schubsen sollen. Schreien, eine Szene machen und mit Geschirr um mich werfen. Die guten Möbel zertrümmern, mir Luft machen. Ich hätte zumindest irgendetwas tun sollen außer Verschwinden. Aber vermutlich würde es mir dann auch nicht besser gehen.

Jedenfalls löste der Alkohol offenbar meine mittlerweile schwere Zunge und ich schüttete im Laufe der Nacht bei Kurti und Frank mein in tausend scharfe Teile zerbrochenes Herz aus. Kurti war der beste Zuhörer, nickte verständnisvoll an den richtigen Stellen, drückte meine Hand zur Aufmunterung, füllte mein Glas regelmäßig auf, seufzte hin und wieder und warf Schimpfwörter in den Raum, die mir vorher noch nie zu Ohren gekommen waren. Wäre ich nicht schon über den angetrunkenen Zustand hinaus, wäre ich bei einigen Ausdrücken mit Sicherheit dunkelrot bis in die Haarspitzen geworden.

Frank dagegen hörte still und regungslos zu.

Als ich erschöpft war vom vielen Erzählen, sackte ich auf dem Barhocker zusammen wie ein Häufchen Elend. So emotional ausgelaugt wie ich zu diesem Zeitpunkt war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ins warme Bett zu kriechen, die Decke über mein rotes Haupt zu ziehen und nie wieder hervorzukommen.

Ich wollte keine Gesellschaft, bloß niemanden sehen, um dann erklären zu müssen, was geschehen war. Ich wollte meinen Kopf ausschalten, am liebsten alle Erinnerungen an Mike, unsere gemeinsame Zeit und das Gesehene löschen. Wo war ein Vampir, wenn man ihn brauchte? Sie konnten einen doch angeblich so verzaubern, dass man vergaß und ein herzschmerzfreies Leben führen konnte.

Oh verdammt, ich war verrückter als verrückt geworden.

Ich würde mein weiteres Leben allein mit sieben Katzen, wirrem Haar und Tena Lady im Schlüpfer verbringen, weil ich vor lauter Trauer inkontinent geworden war.

Mein Kopf war ein Trümmerhaufen, doch plötzlich unterbrach Frank mein Gedankenkarussell.

Mit ruhiger Stimme ließ er verlauten: „Weißt du, Mädchen, ich bin nicht besser als dein Freund. Ich habe meine Frau vor vielen Jahren mit einer Arbeitskollegin betrogen und nicht mal ein Fünkchen schlechtes Gewissen gehabt. Ich war mir sicher, dass sie es sowieso nie herausbekommen würde.“

Er lächelte.

Mich regte seine Erzählung bis jetzt nicht zum Lächeln an.

„Natürlich hat sie es herausgefunden, schlau wie sie ist.“ Er griff in seine Jackentasche und zog ein zerknittertes Schwarz-Weiß-Foto hervor, das er mir reichte. Es zeigte eine junge Brünette mit Dauerwelle und dickem Lidstrich. Seine Frau? Oder seine Geliebte?

„Sie war zutiefst verletzt und erst als sie die Scheidung einreichte, habe ich kapiert, was ich ihr angetan habe.“

Ich gab ihm die Fotografie zurück.

Er strich mit dem Zeigefinger liebevoll über das abgebildete Gesicht, bevor er das Bild vorsichtig wieder wegsteckte. Es handelte sich also um seine Frau.

„Ich habe ihr Zeit gelassen, sauer auf mich zu sein und danach mit allen Mitteln gekämpft. Blumen, Parfüm, Schmuck… das ganze Programm eben.“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung und ich nickte als Zeichen, dass ich ihm folgen konnte. Was ich nicht tat.

„Und was soll ich sagen? Wir haben ein zweites Mal geheiratet. Und es hält. Bis heute.“

Er hob sein Glas und forderte mich zum Anstoßen auf.

Doch ich hob nur mühsam meinen schweren Kopf und schaute ihn verwirrt an. Er trank allein und lächelte, aber seine Augen wirkten abwesend. Ganz so, als ob er seine Geschichte, seinen Fehler, seinen Kampf und seinen Triumpf, erneut durchleben würde.

Sollte mir das Hoffnung geben? Mich aufbauen? Meine Gedanken beruhigen? Was wollte er mir damit erklären? Sollte ich mich nach der Story besser fühlen? Wenn das Franks Absicht war, war der Schuss ordentlich nach hinten los gegangen.

Doch als er sah, dass ich keinen Schimmer hatte, was er mir zu sagen versuchte, fuhr er mit fester Stimme fort: „Ich will nur sagen, dass es auch so ausgehen kann. Was du daraus machst, liegt allein bei dir. Entscheide aus dem Bauch heraus. Der Kopf ist oftmals zu stolz, um zu vergeben“.

Mit dieser Weisheit auf den Lippen zwinkerte Frank mir zu und stand auf. Mit Schal und Lederjacke in der Hand verabschiedete er sich mit einem kurzen Nicken von Kurti und ging.

Durch die geöffnete Kneipentür zog die kalte Nachtluft herein, aber ich nahm sie nicht wahr.

Frank hatte mir mehr als genug Gedankenfutter hinterlassen. Die Möglichkeit, Mike und Anna irgendwann zu vergeben, war mir nämlich noch gar nicht in den Sinn gekommen. Wollte ich das? Konnte ich das überhaupt?

„So Mädchen, ich werde jetzt dicht machen, was auch für dich heißt, dass es Zeit ist, zu gehen.“

Was? Nein, das konnte Kurti doch nicht machen? Wo sollte ich denn hingehen?

Ich rutschte langsam vom Barhocker, zuppelte mein Kleid gerade und streifte schwerfällig meinen Mantel über. Kurti weckte währenddessen die beiden Schlafenden, schaltete das Radio aus und kam zu mir zu Tür.

„Es wird schon werden, andere haben das auch überlebt. Du wirst sehen“, sagte er ernst. Und für die Dauer einer Sekunde glaubte ich ihm sogar. Mit seinen rot unterlaufenen Wangen und dem dicken Bauch wirkte er wahnsinnig vertrauensvoll. Ich war froh, in die Kneipe gekommen zu sein.

Nachdem Kurti die Verbliebenen abkassiert hatte und alle draußen waren, schaltete er das Licht aus und schloss die nun leere Kneipe ab, bevor er seines Weges ging.

Vermutlich hatte er keine Partnerin. Mir schien, als wäre Kurti mit seiner Kneipe verheiratet. Aber ich konnte mich auch irren. Vielleicht würde ich irgendwann wiederkommen und ihn genau das fragen.

28. Februar

Da stand ich nun planlos und unentschlossen mit hängenden Armen neben meinem Fahrrad.

Die Luft war klirrend kalt und klar. Der Himmel funkelte voller Sterne, keine Wolke trübte die Sicht.

Ich blickte erwartungsvoll nach oben, als ob dort irgendwo die Antworten auf alle Probleme zu finden wären. Aber es war vergebens. Ich bekam kein Zeichen. Ich wurde nicht erhellt. Mir wurde kein außerirdischer Helfer zugesandt.

Ich wünschte mir Herrn Nielsson herbei, aber den Affen hatte ich bei dem anderen Affen namens Mike zurückgelassen. Also ergab ich mich mit einem Schulterzucken meinem Schicksal und löste mein Fahrradschloss.

Ich schob einfach darauf los. Leicht betrunken, wie ich war, konnte ich nicht mehr fahren, dafür spürte ich aber auch die Kälte nicht auf meiner Haut und das Gedankenkarrussell hatte aufgehört, sich zu drehen. Mein Kopf war endlich angenehm leer.

Meine Füße trugen mich, ohne dass ich mir darüber im Klaren war, automatisch zum Haus meiner Eltern. Ich fummelte mit vor Kälte starren Fingern den Schlüssel für das Hoftor aus meiner Manteltasche. Erst beim dritten Versuch gelang es mir aufzuschließen. Ich ging einige Meter, bis ich schließlich vor der Haustür stehenblieb. Die Kraft hatte mich plötzlich verlassen und ich konnte es nicht über das Herz bringen, mich einzulassen. Meine Eltern schliefen und ich wollte ihnen doch keinen Kummer bereiten. Meine Geschichte nicht stotternd wiederholen und die grässlichen Bilder erneut vor Augen haben.

Im Schein des Bewegungsmelders betrachtete ich meine geringelten Kniestrümpfe und blieb ruhig stehen. Genauso stand ich auch noch dort, als das Licht bereits lange erloschen war.

Es mussten Stunden vergangen sein, denn im Flur ging irgendwann das Licht an.

Ich schrak aus dem Zustand innerer Ruhe auf. Plötzlich kam alles wieder hoch und Mikes nackter Hintern flimmerte in Zeitlupe vor meinem inneren Auge.

Ich musste die Geschichte dieses Mal meiner Familie erzählen. Hilfe in Form von alkoholischen Getränken konnte ich hier nicht erwarten.

Mit jeder weiteren Erwähnung würde das Geschehene greifbarer werden und ich damit verzweifelter, oder? Mein Traum von einer heilen Welt, meine Pläne für die Zukunft, alles war geplatzt. Einfach so. Innerhalb einer langen Schrecksekunde. Alles, wofür ich die vergangenen Jahre gearbeitet hatte und alles, worauf ich mich gefreut hatte, war für nichts und wieder nichts.

Meine Eltern würden sich um mich sorgen, dabei hatten sie sich für mein Glück wirklich gefreut. Nichts würde mich jetzt tiefer deprimieren als die Schonbehandlung, die sie mir fortan zuteilwerden werden lassen würden.

Gerade als ich im Begriff war, mich umzudrehen und lieber wieder zu gehen, öffnete sich die Haustür und meine Mutter trat heraus. Unter ihrer dicken Winterjacke trug sie den dunkelblauen Hosenanzug, in den sie, seit ich denken konnte, tagtäglich für den Job bei der Bank schlüpfte.

Durch ihre Bewegung sprang das Außenlicht an und tauchte mich und mein Pippi-Langstrumpf-Outfit in gleißendes Licht.

Es war zu spät, um wegzulaufen.

„Morgen, Mutti.“ Ich hob schwach die Hand zur Begrüßung und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen.

Das verfehlte allerdings seine Wirkung, denn meine Mutter ließ panisch ihren Autoschlüssel fallen, hielt sich die Brust und machte drei Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Garderobe krachte.

„Um Himmels Willen, Kati“, rief sie aus, als sie mich trotz des unkonventionellen Aufzugs erkannte. Da ich kein böser Einbrecher war, kam sie wieder aus dem Haus und las ihren Schlüssel vom Boden auf. „Hast du mich vielleicht erschreckt. Was treibst du denn hier im Dunkeln?“

Ich ließ mich zu keiner Antwort hinreißen.

Nachdem sie mich eingehend betrachtet hatte, fragte sie besorgt: „Wie siehst du überhaupt aus? Was ist das für ein Aufzug?“ Dann fiel langsam der Groschen und sie machte einen weiteren Schritt auf mich zu.

Ich sagte noch immer nichts.

„Ist was passiert?“ Ich sah, wie sich ihre Nase kräuselte, als sie dicht vor mir stand. „Hast du getrunken? Warum antwortest du nicht?“

Sie griff meinen Arm und ich ließ mich von ihr zur Haustür ziehen.

„Führ dich ruhig auf wie ein bizarrer Teenager, aber komm dazu bitte rein. Es ist viel zu kalt, um draußen herumzustehen.“ Typisch für meine Mutter war sie sofort von Null auf Hundert im Problemlösungsmodus. Sie scheuchte mich vor sich her und rein in die gute Stube.

„Leg dich ins Bett, schlaf deinen Rausch aus oder mach, was du willst. Ich muss erstmal zur Arbeit.“ Erneut begutachtete sie mich von Kopf bis Fuß.

Ich war das Ebenbild meiner Mutter. Von ihr hatte ich meine wilden roten Haare und die kleine Statur.

„Wenn ich wiederkomme und du nüchtern bist, reden wir“.

Es fehlte nur noch das Fräulein am Satzende, dachte ich im Stillen. Noch immer hatte ich keinen Laut von mir gegeben.

„Hast du überhaupt Klamotten dabei“, fragte sie mich in diesem Ton, der nichts Gutes bedeutete.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich schließlich und schluchzte, als ich verstand, was das hieß.

Darüber musste ich mir noch den Kopf zerbrechen! Ich musste meine Sachen holen. Als ob das alles nicht schon genug war für mich Sensibelchen! Irgendwie tat ich mir selbst unheimlich leid in diesem Moment.

Mutters strenge Miene entspannte sich. Ohne eine Antwort abzuwarten, entwarf sie bereits den ultimativen Raus-aus-der-Misere-Plan. Ihr Tonfall erinnerte mich jedenfalls sofort an einen Oberfeldwebel.

„Ich lege dir was von mir raus. Eine Zahnbürste müsste auch noch da sein.“ Forsch verschwand sie im Badezimmer und klapperte mit diversen Schranktüren. „Den Weg in dein altes Zimmer findest du hoffentlich auch sturzbetrunken.“ Sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und ließ mich dann im Flur stehen.

Als ihr kleines Auto vom Hof brummte, trottete ich leise ins Bad.

Der Blick in den Spiegel ließ mich zusammenzucken. Meine drahtverstärkten Zöpfe zeigten traurig nach unten und das Make-up war bis zur Unkenntlichkeit verschmiert. Meine Augen waren rot und geschwollen und auf meinem gelben Kleid entdeckte ich einen großen Fleck. Ich sah aus wie der Joker aus dem DC-Universum. So bekam ich nie wieder einen Mann! Ich würde als alte Jungfer sterben. An Mutters Stelle hätte ich nach meinem Auftauchen umgehend Polizei und Drogenfahndung gerufen.

Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, zog ich mich aus und putzte mir die Zähne. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, das Licht anzuschalten, als ich in Richtung meines Kinderzimmers wanderte, und kuschelte mich in völliger Dunkelheit in mein Jugendbett. Ich nahm noch wahr, dass die Bettwäsche herrlich nach Weichspüler roch, bevor ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Einige Stunden später erwachte ich durch Motorengeräusche.

Mein Schädel brummte wie nach einem schlechten Scooter-Konzert, meine Kehle war trocken wie die Wüste Afrikas und meine Füße schmerzten, als hätte ich einen Marathon absolviert. Ich blieb still liegen und zögerte es noch einen Moment hinaus, die Augen zu öffnen. Vielleicht konnte ich mich einfach in Luft auflösen.

Ich wollte meinen Problemen nicht gegenübertreten.

Ich streckte mich ein paar Mal, zappelte herum wie eine Wahnsinnige, bis mir schlecht wurde, und öffnete dann doch die Lider, die sich noch immer schwer und dick anfühlten. Durch das Fenster gegenüber schienen mir Sonnenstrahlen ins Gesicht und ich sah Staubflocken im Zimmer auf- und abtanzen. Ich drehte mich um, damit die Sonne nicht länger meine Nase kitzelte und blickte genau in die Augen von Britney Spears. Mit einem Ruck setzte ich mich auf und wurde sogleich mit einem dumpfen Hammerschlag auf die Schädeldecke bestraft. Dann war das wohl kein schlechter Traum?

Irgendwo in der Nähe fiel eine Tür ins Schloss und ich hörte die Stimme meiner Mutter. Mit einem Mal kamen alle Erinnerungen an gestern zurück. Alle Emotionen waren da – die Wut auf Mike und Anna, die Trauer um Verlorenes, Verzweiflung, wenn ich an die Zukunft dachte, und was ich alles würde bewältigen müssen sowie das betäubende Gefühl, zutiefst verletzt worden zu sein.

Und alles um hunderte Male schlimmer als zuvor.

Ich hörte meine Mutter im Erdgeschoss herumwirbeln, konnte aber weder die Kraft noch den Mut aufbringen, aufzustehen. Das Gedankenkarrussell kreiste schneller denn je.

Meine Klamotten waren alle zuhause, die musste ich irgendwie abholen. Was wurde aus dem Reihenhäuschen, das ich zusammen mit Mike bewohnte? Was wurde aus Moses? Ich wollte meinen Schmusekater auf jeden Fall bei mir behalten. Und, am allerschlimmsten, was wurde aus unserer gebuchten Reise? Die Hochzeit musste abgesagt werden! Wer übernahm die Kosten dafür?

Das überlebte ich nicht! Das wurde mir alles zu viel.

Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper, die Tränen flossen wieder unaufhörlich und meine Kopfschmerzen wurden davon auch nicht besser. In meiner Verzweiflung bemerkte ich das Klopfen an der Tür erst beim zweiten Versuch.

Meine Mutter musste schon umkommen vor Neugier.

„Kati, bist du wach“, fragte sie nicht so leise, wie ich es mir gewünscht hätte, und steckte den Kopf durch den Türspalt.

„Nein.“

Als sie sah, dass ich heulend auf dem Bett saß, kam sie mit zwei Tassen voll dampfendem, göttlichem Kakao herein.

„Es gibt doch nichts, was eine heiße Schokolade nicht richten kann, oder“, erkundigte sie sich, bevor sie mir eine Tasse reichte und sich zu mir auf das Bett setzte.

Ich fummelte an meiner alten Pferdebettwäsche herum und blickte hilfesuchend die unzähligen Britney-Poster an. Als wenn das Popsternchen mir die richtigen Worte für das Auszusprechende in den Mund legen würde. Mental gab ich mir einen Klaps auf den Hinterkopf und ermutigte mich, mich mal wieder zusammenzureißen. Mach es wie mit einem Pflaster. Rück raus mit der Sprache und gut ist.

„Als ich gestern nach Hause kam, waren Anna und Mike schon da“, brachte ich mühsam hervor.

„Aber das ist doch nicht weiter schlimm“, runzelte Mutti die Stirn. Sie konnte leider nicht zwischen den Zeilen lesen.

Nun fing ich erneut an, hemmungslos zu schluchzen. Zwischen dem Hicksen eines heftigen Schluckaufs und ohne Luft zu holen, presste ich hervor: „Ichhabesieinflagrantierwischt“.

Meine Mutter schlug erschrocken die Hand vor den Mund, besann sich dann eines Besseren und nahm mich steif in den Arm. Das war eine Prämiere.

„Bist du dir da sicher? Siehst du aus Angst vor der Hochzeit etwa Gespenster?“ Sie schaute mich lächelnd an. „Oder warst du gestern zu dem Zeitpunkt vielleicht schon betrunken?“

Ich starrte entgeistert zurück. Was war denn jetzt kaputt? Dachte sie etwa, ich würde fantasieren? Mir einbilden, dass mein Verlobter mich hinterging? Hatte sie jetzt einen mentalen Platten? Sollte sie jetzt nicht auf ihn schimpfen und behaupten, dass er mich sowieso nie verdient hatte?

„Ist das dein Ernst“, presste ich hervor und sah sie fassungslos an.

Ich glaubte es ja wohl nicht. Womit hatte ich das verdient? Ich wollte jetzt keinen Streit heraufbeschwören. Ich brauchte jetzt jemanden an meiner Seite, ermahnte ich mich im Stillen.

Als sie meine weit aufgerissenen Augen sah, kombiniert mit ungläubiger Miene und hoch erhobenen Händen, wurde ihr wohl doch irgendwie klar, dass ich es todernst meinte. Es war weder der erste April, noch war ich für meine überaus ausgeprägten Scherze bekannt. Ich konnte genau nachverfolgen, wie es in ihrem Kopf Klick machte und sie schließlich bereit war, mir zu glauben und sich auf das kommende Gespräch ernsthaft einzulassen.

„Fang von vorn an. Was hast du denn gesehen, Schatz“, hakte sie weiter nach.

Ich nahm einen großen Schluck Kakao, verbrannte mir die Zunge, hustete, kleckerte etwas von dem Getränk auf die Bettdecke, fluchte kurz und jammerte dann. Als ich mich wieder gefangen hatte, holte ich tief Luft, um fortzufahren. Währenddessen blickte meine Mutter mich erwartungsvoll an.

„Als ich reinkam, hing er über ihr auf unserem Esstisch“, begann ich und beendete meine Erzählung mit dem Augenblick, an dem sie mich heute Morgen vor der Haustür gefunden hatte. Ich musste alles loswerden, bevor mich der Mut verließ und die Trauer erneut überwältigte. Meine Augen waren mittlerweile sowieso furztrocken und die Tränenkanäle verstopft. Es war kein Wasser mehr da zum Vergießen. Darüber war ich heilfroh. Die Heulerei war wirklich sauanstrengend.

Mit versteinerter Miene und mucksmäuschenstill saß mir die Frau gegenüber, die mich zur Welt gebracht hatte.

„Das gibt’s doch nicht. So eine Sauerei“, schimpfte sie dann und rubbelte den Kakaofleck energisch mit einem Taschentuch aus der Decke. „Das hätte ich ja niemals von ihm gedacht. Mike war doch so ein Netter!“

Da mir ihr Gefühlsausbruch in keinster Weise weiterhalf, bemühte sich meine Mutter, ihre Fassung eilig wieder zurückzuerlangen. Plötzlich war die pragmatische Helferin zurück.

„Das ist alles gar kein Problem. Für jeden Mist gibt es eine Lösung.“ Zack, schon hatte sie die Hand erhoben und jeder nun folgende Punkt wurde einzeln an den Fingern abgezählt.

„Ich nehme mir morgen frei.“ Das war Finger Nummer eins.

„Du bleibst erstmal hier, wenn du Mike nicht sehen willst.“ Finger zwei.

„Wenn er morgen arbeiten ist, fahren wir rüber und holen deine Sachen ab.“ Handlungsschritt Nummer drei.

Der Plan stand also. Diese Frau war hochgradig faszinierend. Sie konnte Emotionen komplett ausblenden und sich nur auf die Problemlösung konzentrieren.

„Um die Hochzeit kümmerst du dich nicht sofort, es sind ja noch einige Monate Zeit. Wenn du dich beruhigt hast, kannst du das immer noch alles klären.“ Nun war der vierte Finger erhoben und dann ging es auch schon an der zweiten Hand weiter.

„Eure Traumreise trittst du selbstverständlich an. Und zwar allein.“

Wenn das mal so einfach wäre, dachte ich skeptisch.

Sie ließ die Hände sinken und lächelte zufrieden. In diesem einen Moment, ganz im Gegensatz zu früher, war ich froh, dass sie mir das Denken abnahm. Der Kater der vergangenen Nacht und mein Gefühlschaos ließen mir einfach keinen Spielraum, um lebenswichtige Entscheidungen zu treffen.

Erst, als es draußen schon dämmerte, hatte ich die Kraft, mich von meinem Bett zu trennen und aufzustehen. Ich fühlte mich krank. Trotzdem schwang ich mich in die Klamotten meiner Mutter, sammelte all meinen Mut zusammen und setzte ein gezwungenes Lächern auf, um meinem Vater gegenüber zu treten.

Die beiden saßen bei Schummerlicht am Küchentisch und waren in ihr Abendessen vertieft. Ich schaute ihnen eine Weile von meiner Beobachtungsposition am Türrahmen aus zu. Sie waren ganz ruhig, aber die Stille war nicht unangenehm. Niemand redete und hing stattdessen seinen eigenen Gedanken nach. Die beiden waren so vertraut miteinander.

Als mein Vater mich dann doch entdeckte, erkannte ich an seinem mitleidigen Blick, dass meine Mutter ihn bereits in das akute Drama um seine Tochter eingeweiht hatte.

„Hallo, mein Spatz. Mutti hat mir schon das Wichtigste erzählt.“ Er klopfte neben sich auf den Stuhl. „Ich dachte mir immer schon, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmt. Wenn ich ihn verhauen soll, musst du mir nur ein Zeichen geben.“ Seine Augen funkelten verschmitzt.

Papa sah ein bisschen aus wie George Clooney, wenn auch ein wenig stämmiger um die Körpermitte, und war mindestens genauso charmant. Seine dunklen Haare waren mittlerweile ziemlich grau und hingen ihm bis in die Stirn. Seine hellgrauen Augen ließen ihn immer hart wirken, was er aber nicht im Geringsten war.

Wortlos setzte ich mich zu meinen Eltern an den Tisch.

Mein Vater griff eine Schnitte vom Stapel neben sich, beschmierte sie mit einer mindestens fünf Zentimeter dicken Schicht Nutella und schob mir das Brot dann sanft lächelnd herüber. Er kannte mich und meinen süßen Zahn ganz genau.

Ich rechnete ihm diese Geste hoch an, weil es einfach seine leise Art war, mir sein Mitgefühl zu zeigen. Er war für mich da. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu bringen, das Essen anzurühren. Mein Magen fühlte sich an wie abgeschnürt. Würde ich einen Bissen essen, würde er vermutlich platzen oder alles oben wieder herauskommen.

„Ich habe keinen Hunger“, winkte ich ab und schob das Brot wieder von mir weg bis in die Tischmitte. Dabei hinterließ ich eine verschmierte Nutellaspur auf der hellen Holzoberfläche. Mein Vater schaute besorgt drein und zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts. Meine Mutter jedoch warf ihm einen warnenden Blick zu. Die beiden kommunizierten wortlos. Es war, als würden die beiden in meiner Anwesenheit über mich sprechen und das mochte ich gar nicht. Ich war doch anwesend. Man konnte auch mit mir reden.

„Spatz, du musst aber etwas essen“, versuchte er es noch einmal.

„Mir ist übel.“ Leider knurrte in diesem Augenblick mein verräterischer Magen. Da es so still war, bekamen es natürlich beide Elternteile mit.

„Du hast den ganzen Tag nichts gegessen. Los, wenigstens das eine Brot.“ Als er das sagte, schob Vater die Schnitte wieder zu mir zurück. Nun zierte den Tisch ein zweiter brauner Streifen. Es sah aus wie eine Autospur.

Ich zögerte.

„Soll ich dich füttern wie damals, als du ein Winzling warst“, erkundigte Vater sich mit einem Augenzwinkern.

Sollte ich jetzt erwähnen, dass ich noch immer ein Winzling war? Nää, beschloss ich. Und auf das Gefüttert werden hatte ich natürlich auch keine Lust. Also griff ich mir die Schnitte, die sich unter der dicken Schokoschicht regelrecht verbog.

„Nein, bloß nicht“, schaffte ich noch zu sagen, bevor ich zubiss. „Das war doch immer eine Sauerei.“ Wie jetzt, als das dunkelbraune Zeug an meinen Zähnen hing. Aber als die Süße meine Zunge traf, kam der Appetit rasch zurück.

Papa begann bereits, ein weiteres Brot zu bestreichen. „Hier, noch eine“. Glücklich betrachtete er mein Schmatzen. „Ich wusste doch, dass Süßes dir hilft. Mama hat bestimmt auch noch Schokoeis“, verriet mein Vater.

„Super“, freute ich mich auf eine große Portion Eis und fünf Kilo mehr auf den Hüften.

Nach dem Abendessen schauten wir im Wohnzimmer zusammen fern.

Ich blieb noch sitzen, als meine Eltern schon längst ins Bett verschwunden waren.

Im TV war viel wirres und irres Zeug los. Das glich beinah meinem Leben. Ich nahm die Bilder jedoch nur verschwommen wahr. Meine mittlerweile müden Augen blickten ins Leere. Die stundenlange Heulerei gestern tat definitiv nicht gut. Jetzt, da ich mit mir und meinen Gedanken erneut allein war, startete das Gedankenkarussell um das Warum und Wozu zum wiederholten Male und traf mich doch mit voller Wucht.

Darauf konnte man sich nicht vorbereiten. Gewöhnte man sich irgendwann daran? Die Verzweiflung über Mikes Tat, der Schmerz in allen Gliedern meines Körpers und das unerträgliche Gefühl des Verletztwordenseins gingen jedoch allmählich in rote, gleißende Wut über.

Warum suchte ich die Schuld ausschließlich bei mir? Ich hatte mir nichts vorzuwerfen! Ich hatte nichts falsch gemacht. Ich war nicht diejenige, die die erste sich bietende Gelegenheit nutzte, um über jemand anderen zu rutschen. Vor allem war ich nicht diejenige, die unseren Traum vom gemeinsamen Leben zerstört hatte, von unserer lang ersehnten Traumhochzeit. Ich war nicht diejenige, die auf den schweinteuren Urlaub im Indischen Ozean schiss!

Je länger ich darüber nachdachte, desto aggressiver wurde ich. Ich steigerte mich richtig rein in diese Emotion. Alles war besser als das gestrige Jammern. Mike war doch an allem schuld, er ganz allein. An der ganzen beschissenen Misere! Wegen ihm hatte ich flaschenweise Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50 gekauft und nun keine Verwendung dafür!

Es brodelte in mir und ich spürte das starke Verlangen, etwas zu schlagen, meine Wut herauszulassen und sie nicht zu unterdrücken, sodass ich auf den ersten Gegenstand in Reichweite einboxte und mir einbildete, es wäre Mikes Gesicht.

Muttis cremeweißes Spitzenkissen auf dem dunkelgrünen Sofa musste ziemlich viel einstecken.

„Nimm das, du Arschloch. Du hast es nicht anders verdient.“ Schlag Nummer eins.

„Du hast mich zutiefst verletzt. Was fällt dir ein?“ Schlag Nummer zwei.

„Anna, du bist die größte Schlampe überhaupt.“ Schlag Nummer drei, vier, fünf.

Danach prasselten die Schläge nur so auf das stille Kissen nieder. Es war ein prima Workout und machte sogar verhältnismäßig Spaß, was mich natürlich noch mehr anspornte.

Nach einer halben Ewigkeit entspannte ich mich etwas und die Schläge kamen in größeren Abständen, während mir wieder Tränen in die Augen stiegen. Ich fuhr fort, bis sich der Edelstein meines Verlobungsrings in die zarte Spitze des Kissens bohrte und hängenblieb.

„Scheiße, so eine Scheiße“, jammerte ich, als ich meinen Ring befreite.

Im Kissen blieb ein langer Zieher zurück. Meine Mutter würde nicht amüsiert sein.

Erneut wutentbrannt riss ich mir den elenden Ring vom Finger und machte mich stampfend auf den Weg in die Küche. Mein angepeiltes Ziel war der Abfalleimer.

Ich blickte für die nächsten zehn Minuten abwechselnd den Ring und den Mülleimer an. Dann fasste ich mir ein Herz und holte aus, um ihn wegzuschmeißen, aber mir kam eine zündende Idee.

Plötzlich die Ruhe selbst und lächelnd legte ich den Ring auf dem Küchentisch ab und kramte das Notebook meiner Mutter hervor. Ich wartete ungeduldig, bis sich die eBay-Website geöffnet hatte und trommelte mit den Fingern leise einen Rhythmus auf die Tischplatte.

Dann fiel mir ein, dass ich für mein Vorhaben ein Foto des Rings benötigte. Ich zückte mein Handy, erledigte sogleich diese Aufgabe und schickte mir das zugegebenermaßen gelungene Foto selbst per E-Mail. Dieser Ring konnte vermutlich auch nicht schlecht aussehen.

Dann starrte ich einen Augenblick auf die nun geöffnete Website und kramte fieberhaft nach der richtigen Formulierung. Als ich mir zurechtgelegt hatte, was ich schreiben wollte, tippte ich wie wild drauf los und begutachtete nach gut einer Stunde mein Werk.

Nach einigen Änderungen hier und da stellte mich der Entwurf tatsächlich zufrieden:

Ich biete:

Titel: Klassischer Damen-Brillantring aus 585er Weißgold

Kategorie: Mode & Beauty

Preis: 3499,00 € Verhandlungsbasis

Beschreibung:

Ich biete meinen weißgoldenen Verlobungsring mit vielen Brillanten aufgrund der geplatzten und seit Jahren sehnsüchtig erwarteten Strandhochzeit mit meinem untreuen Verlobten zum Verkauf an! 52er Ringgröße, weil ich für das Arschloch unentwegt Sport gemacht habe, um kein Gramm Fett zu viel am Körper zu haben und mein Traumkleid tragen zu können! Nur um ihn dann mit meiner dicken Freundin (Achtung: zweideutig) in flagranti zu erwischen!

Der Neupreis betrug 3.999,00 € – mein Freund hat sich den Arsch aufgerissen und unzählige Überstunden gemacht, um den fetten Klunker bezahlen zu können. Vielleicht wollte er so sein schlechtes Gewissen beruhigen, weil er schon seit einer Ewigkeit nach meiner besten Freundin lechzte? Dem Käufer wünsche ich jedenfalls mehr Glück in der Liebe, als ich es erfahren durfte!

Nicht optimal, aber auf jeden Fall aussagekräftig.

Genugtuung machte sich breit und ich grinste sogar zum ersten Mal seit der Sache herzlich über das ganze Gesicht. Es mochte eine Kurzschlussreaktion sein, aber es fühlte sich gut an und nur das zählte im Augenblick für mich. Ich wollte Mike mit der Aktion genauso verletzen, wie er mich getroffen hatte, als er auf Anna hing und ich das sehen musste.

Zufrieden und etwas leichter ums Herz machte ich mich bettfertig.

Als ich dann jedoch wie ein Rollmops in meine alte Pferdebettwäsche eingewickelt war, wollte der Schlaf nicht kommen. Die Schreiberei hatte einen Adrenalinstoß in mir ausgelöst und ich war viel zu aufgedreht, um einzunicken. Lange lag ich wach und prüfte im Laufe der Nacht immer mal wieder mein Handy.

399
477,45 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
340 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783754184394
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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