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4. Kapitel

Am nächsten Morgen saß Haie ziemlich zerknautscht am Frühstückstisch und blätterte im Telefonbuch.

»Na, wie war dein Discoabend?«, fragte Tom in lästerlichem Ton, als er die Küche betrat.

»Es gibt außer mir noch weitere Leute, die Tatjana vermissen.«

»Echt?« Tom ging ans Fenster und blickte zum Nachbarhaus hinüber.

»Alles unverändert«, sagte Haie. »Daher rufe ich heute mal ihren Arbeitgeber an.«

»Also, das kannst du doch nicht machen.«

»Und ob, die Frau ist letzte Woche zum letzten Mal gesehen worden. Da kann man ja wohl mal auf ihrer Arbeitsstelle nachfragen.«

»Solltest du das nicht lieber Dirk überlassen?«

»Der macht nichts, hat er gesagt. Das ist eine erwachsene Frau, die kann tun und lassen, was sie will, war seine Begründung.«

»Womit er nicht ganz unrecht hat.« Tom goss sich einen Kaffee ein. »Hast du mal geklingelt bei ihr?«

»Mehrmals, aber da tut sich nichts, und durch die Fenster kann man nicht reinblicken, da die Jalousien unten sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zu Hause ist.«

»Vielleicht ist sie umgekippt und liegt jetzt da …« Tom schluckte. Er hatte bereits mehrere Artikel gelesen, in denen Menschen erst nach Wochen oder gar Monaten leblos in ihrer Wohnung aufgefunden wurden, ohne dass jemand ihren Tod bemerkt hatte.

»Hat sie denn Familie?«

Haie zuckte mit den Achseln. »Der Arbeitgeber ist auf jeden Fall jemand, der wissen sollte, wo seine Angestellte ist.« Er stand auf und ging ins Wohnzimmer, wo sich das Telefon befand. Langsam wählte er die Nummer, die er dem Telefonbuch entnahm.

»Planungsbüro Niemann, Werner am Apparat, was kann ich für Sie tun?«

Haie räusperte sich. »Ketelsen, ich möchte gerne Frau Tatjana Lieberknecht sprechen.« Es entstand eine kurze Pause, in der Haie glaubte, die Frau am anderen Ende Luft holen zu hören.

»Die ist nicht da. Kann ich weiterhelfen?«

»Nee, ich muss sie persönlich sprechen, wann ist sie denn wieder erreichbar?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, drang die leicht schnippische Stimme aus dem Hörer in sein Ohr.

Haie beschloss, dass es besser war, mit offenen Karten zu spielen. »Ich bin der Nachbar und mache mir Sorgen um Frau Lieberknecht, denn ich habe sie seit einigen Tagen nicht gesehen und das Haus ist verlassen. Da stimmt etwas nicht.«

»Also hier ist sie seit letztem Freitag nicht erschienen. Krank gemeldet hat sie sich auch nicht«, entgegnete Frau Werner und fügte flüsternd hinzu: »Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier los ist. Der Chef tobt vor Wut.«

»Wegen des Projektes, das Tatjana betreut?«

Er hörte ein Rascheln und nahm an, dass Frau Werner nickte. »Haben Sie denn Kontaktdaten von der Familie oder von irgendjemandem, der wissen könnte, wo sie ist?«

»Was glauben Sie, was ich in den letzten Tagen alles versucht habe, um herauszufinden, wo sie steckt? Die schlechte Laune vom Chef kriege schließlich ich ab.«

»Und?«

»Nichts, niemand hat sie gesehen oder etwas von ihr gehört. Dabei verstehe ich das nicht. Tatjana ist sonst so zuverlässig. Das passt gar nicht zu ihr.« Frau Werner seufzte.

»Gut, ja, dann …« Da die Frau anscheinend keine weiteren Infos hatte, wollte Haie auflegen, doch Frau Werner stoppte ihn.

»Wenn Sie der Nachbar sind, dann können Sie doch mal nachschauen.«

»Habe ich schon, da macht keiner auf.«

»Und wenn Sie, nun ja, ich meine …«

»Einbrechen?«

»So habe ich das nicht gemeint, aber es könnte doch etwas passiert sein. Wie nennt die Polizei so etwas noch?«

»Gefahr im Verzug?«

»Genau«, bestätigte Frau Werner mit fester Stimme, »vielleicht ist Gefahr im Verzug.«

Nachdem Haie aufgelegt hatte, rief er Dirk an.

»Ich wollte mal hören, ob ihr etwas reinbekommen habt wegen meiner Nachbarin?«

»Ist die immer noch nicht aufgetaucht?«

»Nein.«

»Also, ich habe nichts gehört, aber wenn es dir so wichtig ist, dann strecke ich mal meine Fühler aus«, sagte Thamsen. Zwar konnte er offiziell nichts veranlassen, aber er war Haie mehr als einen Gefallen schuldig.

»Das wäre gut, denn so langsam kommt mir das wirklich spanisch vor.«

»Gut, aber du unternimmst nichts, verstanden?«

»Jaja.«

Thamsen legte auf und verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er kannte Haie nur zu gut und wusste, dass der Freund sich kaum zurückhalten ließ. Im Prinzip war es gut, dass er ein so wachsamer Nachbar war, denn nichts schützte so sehr wie ein aufmerksames Auge der Mitbewohner, Leute, die sich umeinander kümmerten. Doch oftmals schoss Haie über das Ziel hinaus. Und da war er bei Weitem nicht der Einzige. Gerade in Risum mischten sich die Leute in Dinge ein, die sie im Grunde genommen gar nichts angingen. Das hatte seine guten Seiten, brachte jedoch auch Probleme mit sich.

Er scrollte durch die Polizeinachrichten, aber da war keine Meldung zu finden, die eine junge Frau betraf. Eventuell war nicht alles erfasst. Dirk stand auf und ging zu den Kollegen von der Bereitschaft.

»Habt ihr in den letzten Tagen einen Fall gehabt, in den eine junge Frau involviert war?«

»Involviert?« Der große dunkelhaarige Mann blickte ihn fragend an.

»Ja, Unfall, Überfall oder Ähnliches.«

»Nee, nicht soweit ich weiß.«

»Gut, danke«, seufzte Dirk. Haie würde wahrscheinlich keine Ruhe geben, bis die Nachbarin wieder aufgetaucht war, und die Gefahr, dass er sich selbst dabei in Schwierigkeiten brachte, war groß. Es wäre nicht das erste Mal.

Er setzte sich zurück an den Schreibtisch und wählte die Nummer des Krankenhauses. »Ja, hier Kommissar Thamsen. Ich bin auf der Suche nach Tatjana Lieberknecht«, erklärte er ohne Umschweife. »Haben Sie in den letzten Tagen eine Patientin mit diesem Namen aufgenommen?« Thamsen hörte am anderen Ende der Leitung jemanden tippen.

»Nein«, kam kurz darauf die Antwort. »Hier ist niemand mit diesem Namen aufgenommen worden. Tut mir sehr leid.«

»Und eine andere junge Frau, vielleicht ohne Papiere?«

Wieder war das Tippen auf einer Tastatur zu hören. »Nein, da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.«

Thamsen bedankte sich. Das war’s. Mehr konnte er nicht tun, dachte er und machte sich daran, die Berichte der letzten Tage durchzugehen und abzuzeichnen. Immer wieder schweiften seine Gedanken dabei ab. Er wusste, Haie würde keine Ruhe geben. Und vielleicht hatte er recht. Dirk stand auf, nahm seine Jacke und ging hinüber in das Büro seines Mitarbeiters Rolfs.

»Bin kurz weg.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Ansgar Rolfs, doch Dirk schüttelte den Kopf. »Nee, das kläre ich besser alleine.«

Haie hatte die Küche aufgeräumt und dabei immer wieder aus dem Fenster hinüber zum Nachbarhaus geblickt. Wo war Tatjana? Wieso blieb sie einfach von der Arbeit fern? Das passte nicht zu ihr. Er war sich sicher, da stimmte etwas nicht.

»Gefahr im Verzug«, murmelte er, während er seine Jacke nahm und das Haus verließ.

Sich nach allen Seiten umblickend schlich er durch ein Loch in der Hecke auf das Nachbargrundstück und steuerte zunächst die Haustür an. Auf sein Klingeln hin blieb auch heute wieder alles still. Er ging ums Haus herum. Alles wirkte unverändert seit seinem letzten Besuch.

»Gefahr im Verzug«, murmelte er wieder und schaute sich suchend um, als er plötzlich seinen Namen hörte.

»Haie? Was machst du da?«

Erschrocken fuhr er herum. Auf der Auffahrt stand Dirk und blickte ihn an.

»Dachte, ich hätte vorhin etwas gehört, und da habe ich noch mal geklingelt.«

»Hinter dem Haus?«

»Na, da habe ich geschaut, ob …« Haie wankte von einem Fuß auf den anderen.

»Du wolltest dir nicht zufällig Zutritt verschaffen?« Dirk blickte dem Freund in die Augen, der daraufhin den Blick senkte.

»Nun ja, schon. Es kann ja sein, dass sie verletzt im Haus liegt.« Er nickte zum Eingang.

»Haie«, stöhnte Dirk auf, »das ist eine junge Frau, wahrscheinlich ist sie verreist, besucht Freunde, vielleicht hat sie auch jemanden kennengelernt.«

»Nee, Urlaub hat sie definitiv nicht.«

»Woher willst du das denn wissen?« Dirk ahnte, dass er die Antwort auf seine Frage eigentlich nicht hören wollte.

»Habe in dem Büro, in dem sie arbeitet, angerufen. Sie hat keinen Urlaub und krankgemeldet hat sie sich auch nicht. Da ist etwas passiert.«

Thamsen rollte mit den Augen, trat vor die Tür und drückte den Klingelknopf. Im Haus war nichts zu hören.

Durch das geriffelte Glas der Eingangstür war nichts zu erkennen. Er rüttelte an der Klinke. »Hm«, überlegte er. »Hat sie denn mal erzählt, ob sie Probleme hat?«

Haie schüttelte den Kopf. »So eng war unser Verhältnis nicht. Wir sind lediglich Nachbarn.«

»Und was für einen Eindruck hat die Frau sonst auf dich gemacht?«

»Normal. Was soll sie für einen Eindruck gemacht haben?«

»Na, vielleicht ist sie depressiv, also, wenn sie suizidgefährdet wäre …« Er warf Haie einen Blick über die Schulter zu.

»Ausschließen kann ich das natürlich nicht. Man kann den Leuten ja immer nur bis vor den Kopf schauen.« Haie griente leicht.

Thamsen nickte und überlegte. Seltsam war das Ganze schon. In der Vergangenheit hatte sein Freund oft recht gehabt mit seinen Vermutungen. Jedenfalls war nicht von der Hand zu weisen, dass das Verschwinden der Frau merkwürdig war.

»Gut.« Er holte sein Handy aus der Jackentasche. Unter argwöhnischen Blicken Haies wählte er Ansgars Nummer und bat ihn, einen Schlüsseldienst zu ordern. Rolfs versprach, sich gleich darum zu kümmern. »Brauchst du denn Unterstützung?«

»Habe ich schon.«

5. Kapitel

Etwa eine Stunde später fuhr der Wagen des Schlüsseldienstes auf die Auffahrt zu Tatjana Lieberknechts Haus. In der Zwischenzeit hatte Haie mit Dirk zu Hause einen Kaffee getrunken. Als er den Handwerker durch das Küchenfenster sah, sprang er auf.

»Los, komm«, trieb er Thamsen an.

Zum Glück fragte der Mann vom Schlüsseldienst nicht nach einem Beschluss, denn den hätte Thamsen ohnehin nicht bekommen. Wie er das Vorgehen gegenüber seinem Vorgesetzten rechtfertigen sollte, hatte er sich noch nicht überlegt. Schließlich war es gut möglich, dass gar nichts passiert war und Frau Lieberknecht sich über das Eindringen in ihr Haus beschweren, ihn gar anzeigen würde.

»Hier ist ja eindeutig Gefahr im Verzug«, hatte Haie als Entschuldigung vorgebracht, während sie zum Nachbarhaus hinübergegangen waren.

Mit nur wenigen Handgriffen und keine zwei Minuten später hatte der Mann vom Schlüsseldienst die Tür geöffnet. Thamsen unterschrieb die Quittung und der Mann verabschiedete sich.

Haie trat im Eingang bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, bis Dirk schließlich so weit war und die Tür ganz öffnete.

»Hallo?«, erkundigte er sich, trat jedoch relativ schnell ins Haus ein. Er wies Haie an, hinter ihm zu bleiben, und arbeitete sich zunächst durch den Flur, in dem ihm nichts ungewöhnlich erschien. An der Garderobe hingen Jacken und Taschen, darunter standen auf einer Matte drei Paar Schuhe. Im Gegensatz zu seinem Zuhause, wo in jedem Raum Sachen von den Kindern herumlagen, sah es hier erstaunlich aufgeräumt aus.

Vom Flur aus gelangte er direkt in die Küche. Haie folgte ihm. Auch hier fanden sie keinen Hinweis auf Tatjana Lieberknecht. Alles wirkte sauber und ordentlich. Lediglich das Obst, das in einer Schale auf dem Esstisch stand, war verdorben. Etliche Fruchtfliegen schwirrten um die Schüssel.

Haie blickte sich neugierig um, während Thamsen weiter durch das Haus lief. Im Wohnzimmer und Bad sowie im Schlafzimmer ergab sich ein ähnliches Bild. Alles wirkte sehr aufgeräumt. Von Tatjana Lieberknecht keine Spur.

»Wenn man verreist, lässt man doch das Obst nicht rumliegen. Ich habe eher den Eindruck, dass sie lediglich kurz fortgegangen ist und vorhatte, bald zurück zu sein«, versuchte Haie den vorgefundenen Zustand im Haus zu erklären.

Thamsen musste dem Freund recht geben. Nach einer längeren Abwesenheit sah es hier nicht aus. Aber wo steckte Tatjana Lieberknecht?

Niklas hatte sich mit seinem besten Freund Ole verabredet. Haie hatte ihm erlaubt, mit Ole direkt von der Schule nach Maasbüll zu fahren und bei seinem Freund zu Mittag zu essen.

»Aber ihr macht Hausaufgaben«, hatte Haie gefordert. Niklas hatte artig genickt. Er hätte allem zugestimmt, was Haie gefordert hätte; wusste er doch, dass Oles Mutter kochte, was bei ihnen zu Hause selten oder gar nicht auf den Tisch kam. Haie achtete sehr auf die Ernährung des Jungen und kochte viel Gemüse. Niklas hingegen liebte – wie viele Kinder in seinem Alter – Pommes, Pizza und Chicken Nuggets. Lauter Sachen, die Haie geradezu verteufelte.

Nach dem Fast-Food-Mittagessen machten sich die Jungen natürlich nicht an die Hausaufgaben, sondern spielten zunächst einmal mit der Playstation.

Oles Mutter steckte den Kopf ins Zimmer, warf einen Blick auf den Bildschirm, auf dem lediglich ein altes Dorf zu sehen war, und nickte. »Schaltet ruhig erst einmal ein wenig ab«, sagte sie.

Niklas und Ole grinsten und widmeten sich dem Spiel, in dem es darum ging, ein Dorf von der Herrschaft eines bösen Königs zu befreien und anschließend neu zu besiedeln. Niklas’ Figur kontrollierte gerade ein altes Haus, als Ole plötzlich sagte: »Hier in der Nähe gibt es auch so ein verlassenes Haus.«

»Echt?«, fragte Niklas, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.

»Ja, da hat wohl ein alter Mann drin gewohnt, und nun will das Haus keiner kaufen, weil er angeblich darin herumgeistert.«

Niklas hielt inne und überlegte. »Das ist doch Quatsch«, gab er zurück.

»Nee, ich habe selbst gehört, wie mein Vater darüber mit Harry Ingwers gesprochen hat. Ich glaube, die dachten, ich kriege das nicht mit. Hab ich aber doch.« Ole griente Niklas an.

»Vielleicht haben die das aber auch nur erzählt, weil du dabei warst. Wollten dir bestimmt Angst machen.«

»Ha, ich lass mir keine Angst machen.«

»Warst du denn schon mal da?«

Ole nickte.

»Und?«

Ole musste eingestehen, dass er zwar zu dem Haus gefahren war, sich jedoch nicht hineingetraut hatte.

»Wieso nicht?«

Ole zuckte mit den Schultern.

»Du hast dich also nicht getraut. Hattest wohl doch Schiss.« Nun war es Niklas, der grinste.

»Nee, aber …«

»Aber was?« Niklas blickte Ole herausfordernd an. »Lass uns jetzt hinfahren und wir gehen da rein.«

Kurz wies der Freund auf das Computerspiel, aber Niklas hatte schon die Pause-Taste gedrückt.

»Bestimmt darf man das nicht«, versuchte Ole noch einen Rückzieher zu machen.

»Aber wer soll das denn merken, wenn da keiner wohnt?« Niklas sprang auf und wartete auf den Freund, der sich nur langsam in Bewegung setzte.

»Wir gehen ein wenig Fahrradfahren«, erklärte Ole seiner Mutter, die zustimmend nickte.

»Zieht euch aber warm an, es ist kalt draußen.«

Niklas lief schnell zu seinem Fahrrad. Er wartete, bis Ole sein Rad aus dem Schuppen geholt hatte und vorfuhr. Der Weg führte an der Wehle vorbei Richtung Bahndamm. Hier standen nur wenige Häuser und das alte verlassene Reetdachhaus wirkte seltsam in der Landschaft. Niklas fröstelte, als sie die Räder stoppten und zunächst vom Weg aus zum Haus hinübersahen.

»Das ist es«, sagte Ole, obwohl es offensichtlich war, dass das besagte Haus sich vor ihnen befand.

»Dann komm«, forderte Niklas den Freund auf. Er spürte eine Aufregung in sich, die ihn schwitzen ließ. Ungeduldig blickte er auf Ole.

»Ich weiß nicht, lass uns lieber nach Hause fahren. Mir ist kalt und Hausaufgaben müssen wir auch noch machen.«

Niklas traute seinen Ohren nicht. Was konnte aufregender sein als ein Haus, in dem ein Geist sein Unwesen trieb? Matheaufgaben ganz sicher nicht. Spukgeschichten übten auf ihn einen enormen Reiz aus. Er fand solche Geschichten zwar ein wenig angsteinflößend, aber dennoch zu spannend. Außerdem war helllichter Tag – Geister kamen doch erst in der Nacht, beruhigte er sich und schob das Rad die Auffahrt hinauf. Ole folgte ihm zögernd.

Niklas lehnte sein Rad an die Wand neben der Haustür und blickte sich um. Alles wirkte ruhig. Hier war niemand. Trotzdem klopfte er gegen die Eingangstür, die leicht nachgab, da sie nicht verschlossen war. Niklas holte tief Luft und gab Ole ein Zeichen, ihm zu folgen.

Der Freund legte sein Fahrrad in den Sand auf dem Vorplatz und ging zum Eingang, doch als er die Tür erreichte, war Niklas schon im Haus verschwunden.

»Nik?«, rief er von der Schwelle her. Als er keine Antwort erhielt, betrat er den schummrigen Flur. Es roch muffig und nach irgendetwas, das Ole nicht kannte. Ihm fröstelte.

»Nik?«

Weiter hinten im Haus hörte er ein Knirschen. Langsam, Schritt für Schritt, traute er sich weiter in den Flur. Rechter Hand ging eine Küche ab. Die Einrichtung war alt, verdreckt und größtenteils kaputt.

Ole fragte sich, wer hier wohl gewohnt haben mochte. Er erinnerte sich nicht. Ob es wirklich dieser Mann gewesen war, dessen Geist hier herumspukte? Er ging weiter und wollte gerade durch die Tür treten, die sich am Ende des schummrigen Ganges befand, als er mit Niklas zusammenstieß. Ein erschrockenes »Ah« löste sich aus seiner Kehle, das Niklas zusammenzucken ließ. Er war leichenblass und an seinen Augen erkannte Ole sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Er nahm automatisch Niklas’ Hand und rannte los Richtung Haustür. Draußen blieb er keuchend stehen und blickte zu seinem Freund.

»Was ist los? Was hast du gesehen?«

Niklas würgte das Mittagessen auf den Vorplatz, ansonsten war nichts aus ihm herauszubekommen.

6. Kapitel

Im gesamten Haus hatte es keinen Hinweis auf Tatjana Lieberknechts Verbleib gegeben. Haie hatte in einigen Ordnern gewühlt, aber nicht wirklich herausgefunden, ob es weitere Verwandte gab. Auch hatte er keine Fotos gefunden, die darauf hindeuteten.

»Da müsste ich mich im Dorf mal umhören. Helene weiß vielleicht, wer die Eltern sind«, sagte er, nachdem Thamsen die Tür versiegelt hatte. Anschließend waren sie zurück zum Haus des Freundes gegangen, wo sie nun in der Küche den restlichen Kaffee tranken.

Im Grunde genommen waren Thamsen Leute, die anderen viele Fragen stellten, zuwider. Aber in diesem Fall wäre wenigstens einer sehr nützlich, musste er sich eingestehen. Schon so manches Mal waren sie durch Informationen von Dorfbewohnern – insbesondere der klatschfreudigen Kaufmannsfrau – in ihren Ermittlungen vorangekommen; nur von Ermittlungen konnte man in diesem Fall nicht sprechen. Und von Fall eigentlich auch nicht. Denn es lag bisher kein Hinweis auf ein Verbrechen vor. Er hatte dem Freund lediglich einen Gefallen getan und sich dabei eigentlich schon zu weit aus dem Fenster gelehnt. Wie er seinem Chef die aufgebrochene Tür und die Rechnung vom Schlüsseldienst erklären sollte, wusste er jedenfalls noch nicht. Am besten, er übernahm selbst die Kosten.

»Kannst du ja mal machen, vielleicht weiß die was oder …« Thamsens Handy klingelte und unterbrach die beiden. »Ansgar, was gibt’s?«, nahm er das Gespräch an. »Waaaas?«

Haie konnte genau sehen, wie Dirk sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er fragte sich, was passiert sein mochte. Ob etwas mit Dörte …?

»Und wer hat sie … Oh, mein Gott. Ja, gut, ich komme.« Er beendete das Gespräch und blickte zu Haie, der sich beinahe sicher war, dass Dirks Lebensgefährtin etwas zugestoßen war. Oder den Kindern?

»Was ist los?«

»Also, ja, nun, es ist … Niklas hat …«

»Was ist mit Niklas?« Haie sprang von seinem Stuhl auf. Wenn es um seinen Patensohn ging, kannte er kein Halten. Der Junge bedeutete ihm alles. In dem Kind lebte für ihn ein Teil seiner Freundin weiter, die er auf so dramatische Art und Weise verloren hatte.

»Nichts, es geht ihm gut«, bemühte sich Dirk, ihn zu beruhigen. »Er hat nur … also, die Kinder haben wohl deine Nachbarin gefunden.«

»Was, wo denn?«

»Ich muss jetzt los.« Dirk stand ebenfalls auf, Haie eilte in den Flur. Es war zwecklos, ihn aufzuhalten. Daher unternahm Thamsen auch nichts. Gemeinsam verließen sie das Haus und fuhren nach Maasbüll.

Als sie in Deezbülleck vom Deich abbogen, sah Dirk schon Ansgars Auto und einen Rettungswagen. »Oh mein Gott«, entfuhr es Haie, der bisher entgegen seiner Art die Fahrt über geschwiegen hatte. Thamsen hatte noch nicht gestoppt, da riss der Freund bereits die Tür auf und sprang aus dem Auto, eilte auf den Eingang des Hauses zu.

»Haie, warte!«

An der Tür stand Ansgar und hielt Haie auf.

»Wo ist Niklas?«, schrie er mit schriller Stimme und versuchte sich an dem Polizisten vorbeizudrängen.

Rolfs warf Thamsen einen Blick zu, dann bemühte er sich, Haie zu beruhigen. »Er ist nicht mehr hier. Die Mutter von Ole kümmert sich um die Jungs. Sie hat uns angerufen.«

»Aber warum denn? Was ist passiert?« Haie war völlig kopflos.

Thamsen trat nun neben den Freund und schob ihn ein Stück zur Seite. »Du wartest hier«, sagte er in einem Ton, der Haie tatsächlich verstummen ließ.

Ob er sich daran halten würde, wusste Dirk nicht, doch er hatte zunächst anderes zu tun. Er verschwand im Haus und folgte den Stimmen, die aus einem der hinteren Räume zu hören waren. Als er durch die Tür in das ehemalige Wohnzimmer trat, sah er, wie der Notarzt gerade seinen Koffer anhob.

»Da ist nichts mehr zu machen«, sagte er recht trocken und zuckte mit den Schultern.

Thamsens Blick fiel auf den leblosen Körper der jungen Frau, der in der Ecke unter dem Fenster lag. Die Augen starrten ins Leere, die Haut wirkte wächsern. Über den Leichnam krabbelte Getier und ein stetiges Summen war zu hören.

»Oh mein Gott«, entfuhr es ihm. Er kniete sich neben die Frau, die im Gesicht einige Hämatome aufwies. »Was ist … Wie ist sie …?«, stotterte er.

Der Arzt zuckte nochmals mit den Schultern. »Nach einem natürlichen Tod sieht es nicht aus, aber Näheres muss ein Rechtsmediziner herausfinden.« Sein Job war erledigt, er verließ den Raum.

»Ich habe die Kollegen von der Spusi informiert.« Ansgar war hinter seinen Chef getreten und blickte nun ebenfalls auf den Leichnam.

Thamsen nickte. »Hast du den Bestatter …?«

»Ja.«

Es war nicht die erste Leiche, die die beiden vor sich hatten. Sie verstanden sich blind, wussten, was zu tun war. Und nach einem Verbrechen sah das hier für ihn auf den ersten Blick aus. Obwohl außer den Hämatomen im Gesicht keine sichtbaren Verletzungen zu erkennen waren. Das musste nichts heißen, die Frau konnte vergiftet oder erstickt worden sein, oder aber sie war schlichtweg verdurstet, denn so wie es aussah, hatte sie hier irgendjemand gefangen gehalten. Sie war mit Kabelbinder an das Heizungsrohr gefesselt. Den Mund hatte man ihr mit Isolierband verklebt, welches der Notarzt bereits entfernt hatte. Die Lippen wirkten spröde und rissig. Neben dem Leichnam lag eine leere Wasserflasche. Verdursten als Todesursache erschien ihm als Laien am wahrscheinlichsten, aber ob das stimmte, war Aufgabe des Rechtsmediziners.

»Gut, du bleibst hier, bis die Kollegen von der Spurensicherung eintreffen. Ich muss jetzt erst einmal mit Haie zu der Mutter und Niklas abholen.« Thamsen stemmte sich aus der Hocke hoch.

Ansgar nickte. »Geht klar. Soll ich die Kollegen in Husum anrufen?«

Das Informieren der Kripo war Chefsache. Gerne hätte er die Aufgabe abgegeben, aber das ging nicht. »Das erledige ich später«, entgegnete er, ehe er einen letzten Blick auf die Tote warf, sich kopfschüttelnd umdrehte und zum Eingang zurückging. Dort stand Haie und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Was ist denn los?«

»Es scheint so, als hättest du recht gehabt. Deine Nachbarin liegt tot in diesem Haus.«

Haies Augen weiteten sich. »Was? Hier? Wie?«

Thamsen zuckte mit den Schultern. »Das kann man noch nicht sagen.«

»Aber dann … Ich meine, das Haus steht seit Jahren leer, soweit ich weiß.«

»Wer ist denn der Eigentümer?«

»Keine Ahnung, wahrscheinlich die Kinder von Fiete Sönksen. Erinnerst du dich nicht an den Fall?«

Thamsen fuhr sich durch das blonde kurze Haar. Ganz dunkel konnte er sich an eine Tragödie erinnern, die sich vor einigen Jahren in der Gegend abgespielt hatte. »Ist dies das Haus, wo es den erweiterten Suizid gab?«

Haie nickte. »Genau, ist zwar schon etliche Jahre her, aber Fiete Sönksen hat damals erst seine Frau und dann sich selbst erschossen.«

»Stimmt.« Langsam kehrten Details zum Fall in Thamsens Erinnerung zurück. Er war damals noch Oberkommissar gewesen und sein Chef hatte die Ermittlungen geführt. Er war nur am Rande einbezogen gewesen, wusste aber, dass es ein schreckliches Familiendrama gewesen war.

»Weißt du noch, warum er das getan hat?«

»Helene hat mal erzählt, dass Fiete Sönksen wohl total überschuldet gewesen ist. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Kennst ja Helene.«

»Und seitdem steht das Haus leer?« Thamsen betrachtete das verfallene Reetdachhaus. Wenn es wirklich mehrere Jahre unbewohnt war, dann war es natürlich ein ideales Versteck für eine Leiche oder ein Entführungsopfer. Vielleicht hatte der oder die Täterin Tatjana gar nicht ermorden wollen, sondern ihr Tod war versehentlich eingetreten. Er versuchte sich zu erinnern, ob er im Haus der Toten irgendwelche Arzneimittel gesehen hatte.

»Litt deine Nachbarin unter einer Krankheit?«

»Wie?« Haie konnte Dirks Gedankengang nicht folgen.

»War sie chronisch krank oder hatte Herzprobleme, nahm sie regelmäßig Medikamente?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Na, man unterhält sich doch auch mal über Krankheiten.«

»Doch nicht in dem Alter.«

»Wieso, wie alt war Tatjana?«

Haie hob abschätzend die Hand. »So Ende zwanzig?«

»War nur so eine Idee«, murmelte Thamsen und sah eine Menge Arbeit auf sich zukommen. Selbst wenn er die Kripo über den Fall informierte, würde er sicher keine Unterstützung erhalten. Niemand aus Husum würde sich hier blicken lassen – zumindest nicht, um ihn bei den Ermittlungen zu unterstützen. Das war in den letzten Fällen so. Das würde sich auch jetzt nicht ändern. Die Kollegen in Husum hatten angeblich immer Dringenderes zu erledigen. Da konnte er den Anruf auch noch etwas hinausschieben.

»Komm«, sagte er daher zu Haie, »wir holen jetzt erst einmal Niklas ab und dann bringe ich euch nach Hause.«

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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235 стр. 9 иллюстраций
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9783839267448
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