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Sandra Cisneros

Das Haus in der Mango Street

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Gerd Burger

Gatsby

A las mujeres

Für die Frauen

Ein Haus für sich allein Vorwort der Autorin


Die junge Frau auf dem Foto bin ich, während ich gerade Das Haus in der Mango Street schreibe. Sie sitzt in ihrem Arbeitszimmer, das vielleicht mal ein Kinderzimmer war, als noch Familien in dieser Wohnung lebten. Das Zimmer hat keine Tür und ist kaum größer als die begehbare Vorratskammer. Aber es ist lichtdurchflutet und befindet sich direkt über der Tür zum Hausflur, sodass sie die Nachbarn kommen und gehen hören kann. Sie posiert, als hätte sie gerade für einen Moment von der Arbeit aufgeblickt, aber in Wahrheit schreibt sie nie in diesem Arbeitszimmer. Sie schreibt in der Küche, dem einzigen Raum mit Heizung.

Wir befinden uns in Chicago, 1980, im heruntergekommenen Viertel Bucktown, bevor es von Leuten mit Geld entdeckt wurde. Die junge Frau wohnt in der 1814 North Paulina Street, zweiter Stock, nach vorne raus. Einst lief Nelson Algren durch diese Straßen. Saul Bellows Revier lag in der Division Street, nur einen Fußmarsch von hier entfernt. Ein Viertel, das nach Bier und Urin, Würstchen und Bohnen stinkt.

Die junge Frau füllt ihr »Arbeitszimmer« mit Dingen, die sie vom Flohmarkt in der Maxwell Street nach Hause schleppt. Antike Schreibmaschinen, Buchstabenblöcke, Zierspargel, Bücherregale, Keramikfiguren »made in Occupied Japan«, Weidenkörbe, Vogelkäfige, abgezeichnete Fotografien. Dinge, die sie sich gern anschaut. Es ist wichtig, so einen Ort zum Schauen und Denken zu haben. Als sie noch zu Hause wohnte, beschimpften sie die Dinge, die sie anschaute, und machten sie traurig. Sie sagten: »Wasch mich.« Sie sagten: »Faul.« Sie sagten: »Du solltest.« Die Dinge in ihrem Arbeitszimmer jedoch sind magisch und laden sie zum Spielen ein. Sie erfüllen sie mit Licht. In diesem Zimmer kann sie ruhig und still sein und ihren inneren Stimmen lauschen. Sie mag es, tagsüber allein zu sein.

Als Mädchen träumte sie davon, ein ruhiges Zuhause ganz für sich zu haben, so wie andere Frauen von ihren Hochzeiten träumten. Statt Spitze und Leinen für ihre Aussteuer zu horten, kauft die junge Frau alte Dinge aus den Secondhandläden in der schmuddeligen Milwaukee Avenue für ihr künftiges Haus-für-sich-allein – ausgeblichene Steppdecken, gesprungene Vasen, angeschlagene Untertassen, liebesbedürftige Lampen.

Nach ihrem Schulabschluss kehrte die junge Frau nach Chicago zurück und zog wieder zu ihrem Vater, 1754 North Keeler Avenue, zurück in ihr altes Kinderzimmer mit dem schmalen Bett und der Blumentapete. Sie war dreiundzwanzigeinhalb. Sie nahm allen Mut zusammen und sagte ihrem Vater, dass sie wieder allein leben wollte, wie vorher, als sie zur Schule ging. Er sah sie an wie ein Hahn kurz vor dem Angriff, aber sie hatte keine Angst. Sie kannte diesen Blick von ihm und wusste, dass ihr Vater harmlos war. Sie war sein Lieblingskind und musste nur Geduld haben.

Die Tochter behauptete, man habe ihr beigebracht, dass eine Schriftstellerin zum Schreiben Ruhe, Ungestörtheit und lange Phasen der Einsamkeit brauche, um zu denken. Der Vater entschied, dass zu viel College und zu viele Gringo-Freunde sie verdorben hätten. Auf gewisse Weise hatte er recht. Auf gewisse Weise hatte sie recht. In der Sprache ihres Vaters gedacht, verlassen Söhne und Töchter das Haus ihrer Eltern erst, wenn sie heiraten, das wusste sie. Auf Englisch gedacht, hätte sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr allein leben sollen.

Eine Zeit lang herrschte Waffenstillstand zwischen Vater und Tochter. Sie willigte ein, in den Keller des Hauses zu ziehen, in dem der älteste ihrer sechs Brüder mit seiner Frau wohnte, 4832 West Homer Street. Aber nach einigen Monaten, als sich der große Bruder über ihr als Big Brother herausstellte, stieg sie auf ihr Fahrrad und fuhr so lange durch das Viertel ihrer Highschool-Zeit, bis sie eine Wohnung mit frisch gestrichenen Wänden und Malerkrepp an den Fenstern entdeckte. Dann klopfte sie an die Ladentür im Erdgeschoss. Und so überzeugte sie den Hausbesitzer, dass sie seine neue Mieterin sei.

Ihr Vater kann nicht verstehen, warum sie in einem jahrhundertealten Haus mit großen Fenstern wohnen will, die Kälte hereinlassen. Sie weiß, ihre Wohnung ist sauber, aber der Hausflur ist marode und unheimlich, obwohl sie und die Frau, die über ihr wohnt, ihn regelmäßig abwechselnd feucht wischen. Der Flur braucht einen neuen Anstrich, aber daran können sie nichts ändern. Wenn ihr Vater zu Besuch kommt, steigt er angeekelt murrend die Treppe herauf. In der Wohnung angekommen, beäugt er ihre in Plastikkisten gestapelten Bücher, ihren Futon auf dem Boden eines Schlafzimmers ohne Tür und murmelt »Hippie«, genau wie er Jungs, die in seinem Viertel herumhängen, beäugt und »Drogas« sagt. Wenn er den kleinen Heizofen in der Küche sieht, schüttelt der Vater den Kopf und seufzt: »Warum habe ich so hart gearbeitet, um mir ein Haus mit Ofen leisten zu können, nur damit sie so rückschrittlich lebt?«

Wenn sie allein ist, genießt sie ihre Wohnung mit den hohen Decken und den großen Fenstern, die den Himmel hereinlassen, mit dem neuen Teppich und den Wänden, weiß wie Papier, der begehbaren Vorratskammer mit den leeren Regalen, ihrem Schlafzimmer ohne Tür, ihrem Arbeitszimmer mit der Schreibmaschine und den großen Fenstern im Vorderzimmer mit Blick auf eine Straße, Dächer, Bäume und den schwindelerregenden Verkehr auf dem Kennedy Expressway.

Zwischen ihrem Haus und der Backsteinwand des nächsten liegt ein ordentlich angelegter Senkgarten. Die Einzigen, die den Garten je betreten, sind Mitglieder einer Familie, deren Stimmen klingen wie Gitarren, eine Familie mit Südstaatenakzent. In der Abenddämmerung tauchen sie mit einem kleinen Affen in einem Käfig auf, sitzen auf einer grünen Bank und reden und lachen. Sie beobachtet die Familie durch ihre Schlafzimmervorhänge und fragt sich, woher sie den Affen haben.

Ihr Vater ruft jede Woche an, um sie zu fragen: »Mija, wann kommst du nach Hause?« Was sagt ihre Mutter zu alledem? Sie stemmt die Hände in die Hüften und prahlt: »Das hat sie von mir.« Wenn der Vater im Zimmer ist, zuckt die Mutter nur mit den Schultern und sagt: »Was soll ich tun?« Die Mutter erhebt keine Einwände. Sie weiß, was es bedeutet, ein Leben voller Reue zu führen, und für ihre Tochter wünscht sie sich etwas anderes. Sie hat die Projekte der Tochter immer unterstützt, solange die noch zur Schule ging. Die Mutter, die die Wände ihrer Chicagoer Wohnungen in blumigen Farben strich, Tomaten und Rosen in ihrem Garten pflanzte, Arien sang, Solos auf dem Schlagzeug ihres Sohnes übte, zusammen mit den Soul-Train-Tänzern Boogie tanzte, mit Maissirup Reiseposter an die Küchenwand klebte, ihre Kinder jede Woche in die Bücherei scheuchte, zu Konzerten oder ins Museum, die einen Button mit der Aufschrift »Feed the People Not the Pentagon« am Revers trug, die es nie über die neunte Klasse hinaus geschafft hat. Diese Mutter. Sie stupst ihre Tochter an und sagt: »Zum Glück hast du studiert.«

Der Vater hätte gern, dass seine Tochter eine Wetterfee im Fernsehen wäre oder dass sie heiratet und Kinder bekommt. Sie will keine Fernseh-Wetterfee sein. Und auch nicht heiraten und Kinder bekommen. Noch nicht. Vielleicht irgendwann, aber es gibt noch so viele andere Dinge, die sie in ihrem Leben vorher machen muss. Reisen. Tango lernen. Ein Buch veröffentlichen. In anderen Städten leben. Einen National Endowment for the Arts-Award gewinnen. Die Nordlichter sehen. Aus einem Kuchen springen.

Sie starrt an die Decke und Wände ihrer Wohnung, wie sie früher an die Decke und Wände der Wohnungen gestarrt hat, in denen sie aufgewachsen ist, zeichnet imaginäre Bilder in die Risse im Putz und denkt sich dazu Geschichten aus. Nachts sitzt sie mit Block und Stift im Lichtkegel einer billigen Metalllampe, die an den Küchentisch geklemmt ist, und tut so, als hätte sie keine Angst. Sie versucht, wie eine Schriftstellerin zu leben.

Woher diese Idee kommt, wie eine Schriftstellerin zu leben, weiß sie nicht. Sie hat noch nicht Virginia Woolf gelesen. Sie kennt weder Rosario Castellanos noch Sor Juana Inés de la Cruz. Gloria Anzaldúa und Cherríe Moraga schlagen sich auf ihren eigenen Wegen durch die Welt, aber von denen weiß sie nichts. Sie weiß überhaupt gar nichts. Sie erfindet das Nötige im Vorbeigehen.

Als das Foto der jungen Frau, die ich war, aufgenommen wurde, bezeichnete ich mich selbst noch immer als Dichterin, obwohl ich seit der Grundschule Geschichten geschrieben habe. Der Belletristik habe ich mich wieder zugewandt, während ich im Iowa Writers’ Workshop Lyrik studierte. Dichtung, wie sie an der University of Iowa gelehrt wird, ist ein Kartenhaus, ein Ideenturm, aber ich kann eine Idee nur als Geschichte vermitteln.

Die Frau, die ich auf dem Foto bin, arbeitete neben ihren Gedichten gerade Schritt für Schritt an einer Serie von Textvignetten. Der Titel stand bereits fest: Das Haus in der Mango Street. Fünfzig Seiten hatte ich schon geschrieben, aber ich sah es noch nicht als Roman. Bloß ein Glas voll Knöpfe, genau wie die bestickten Kopfkissenbezüge, die alle nicht zusammenpassten, und die mit Monogrammen versehenen Taschentücher von den Wühltischen bei Goodwill. Ich schrieb diese Textchen und betrachtete sie als »kleine Geschichten«, obwohl ich spürte, dass sie alle miteinander verbunden waren. Ich hatte noch nicht von Erzählzyklen gehört. Ich hatte noch nicht Ermilo Abreu Gómez’ Canek, Elena Poniatowskas Lilus Kikus, Gwendolyn Brooks’ Maud Martha oder Nellie Campobellos My Mother’s Hands gelesen. Das kam später, als ich mehr Zeit und Alleinsein zum Lesen hatte.

Die Frau, die ich einmal war, schrieb die ersten drei Geschichten von Das Haus in der Mango Street an einem einzigen Wochenende in Iowa. Aber weil ich nicht den Kurs für fiktionales Schreiben belegt hatte, wurden mir die Geschichten nicht für meine Masterarbeit anerkannt. Ich habe nicht widersprochen, mein Professor erinnerte mich zu sehr an meinen Vater. Ich arbeitete nebenbei an diesen Geschichten, zum Trost, wenn ich gerade nicht an Gedichten für die Uni schrieb. Ich zeigte sie meinen Mitstudierenden wie der Dichterin Joy Harjo, die ebenfalls Schwierigkeiten im Lyrikkurs hatte, und dem Schriftsteller Dennis Mathis, der aus einer Kleinstadt in Illinois kam, dessen Taschenbuchbibliothek aber die ganze Welt umfasste.

Kurz- und Kürzestgeschichten waren damals, in den siebziger Jahren, literarisch en vogue. Dennis erzählte mir von den minimalistischen Handtellergeschichten des japanischen Nobelpreisträgers Kawabata. Wir brieten uns Omelette zum Abendessen und lasen uns gegenseitig García Márquez und Heinrich Böll vor. Wir hatten beide einen Hang für experimentelle Erzähler – alles Männer damals, mit Ausnahme von Grace Paley –, Rebellen wie wir. Dennis würde mein lebenslanger Lektor werden, ein Verbündeter und die Stimme am Telefon, wenn einer von uns beiden den Mut verlor.

Die junge Frau auf dem Foto schreibt ihr Buch nach dem Vorbild von Borges und ich von Jorge Luis Borges – ein Schriftsteller, den sie seit der Highschool liest. Fragmentarische Geschichten, die wie Hans Christian Andersen, Ovid oder Enzyklopädieeinträge klingen. Sie will Geschichten schreiben, die Grenzen überschreiten, Grenzen zwischen Genres, zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort, zwischen anspruchsvoller Literatur und Kindergartenreimen, zwischen New York und dem imaginären Dorf Macondo, zwischen den USA und Mexico. Natürlich möchte sie, dass die von ihr bewunderten Schriftsteller ihre Arbeiten würdigen, aber genauso möchte sie, dass auch Leute, die normalerweise keine Bücher lesen, ihre Geschichten genießen. Sie will kein Buch schreiben, das vom Leser nicht verstanden wird, der sich womöglich noch dafür schämen würde, es nicht zu verstehen.

Sie findet, Geschichten haben mit Schönheit zu tun. Schönheit, die von allen bewundert werden soll, wie eine Wolkenherde, die am Himmel grast. Sie findet, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten, um zu überleben, schöne kleine Geschichten verdient haben, weil sie wenig Zeit haben und oft übermüdet sind. Sie hat ein Buch vor Augen, das man auf einer beliebigen Seite aufschlagen kann und das trotzdem Sinn ergibt, auch wenn der Leser nicht weiß, was davor oder danach passiert.

Sie experimentiert und erschafft einen Text, der so knapp und flexibel ist wie ein Gedicht, sie zerbricht Sätze in Fragmente, sodass der Leser innehalten muss, sodass jeder Satz ihr dient und nicht andersherum, sie verbannt Anführungszeichen, um die Typographie zu straffen und die Seiten so einfach und lesbar zu machen wie möglich. Sodass die Sätze biegsam sind wie Zweige und auf mehr als eine Weise gelesen werden können.

Manchmal geht die Frau, die ich einst war, am Wochenende aus, um sich mit anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu treffen. Manchmal lade ich diese Freunde in meine Wohnung ein, um dort gemeinsam an unseren Texten zu arbeiten. Wir sind Schwarze, Weiße und Latinos. Wir sind Männer, und wir sind Frauen. Was uns verbindet, ist die Überzeugung, dass Kunst unseren Communitys dienen sollte. Gemeinsam veröffentlichen wir eine Anthologie – Emergency Tacos –, denn unsere Arbeitstreffen enden nie vor dem Morgengrauen, und dann versammeln wir uns immer in derselben taquería auf der Belmont Avenue, die rund um die Uhr geöffnet hat, wie eine Multikulti-Version von Hoppers Gemälde Nachtschwärmer. Die Autoren von Emergency Tacos organisieren jeden Monat Kunstveranstaltungen in der Wohnung meines Bruders Keek – Galeria Quique. Wir tun das gänzlich ohne finanzielle Mittel, abgesehen von unserer wertvollen Zeit. Wir tun das, weil die Welt – das Haus, in dem wir leben – in Flammen steht und die Menschen, die wir lieben, zu verbrennen drohen.

Die junge Frau auf dem Foto steht morgens auf, um zu der Arbeit zu fahren, mit der sie ihre Wohnung in der Paulina Street finanziert. Sie ist Lehrerin an einer Schule in Pilsen, einem Viertel im Süden Chicagos, in dem ihre Mutter früher gewohnt hat, ein mexikanisches Viertel mit niedrigen Mieten, wo viele Familien auf engem Raum wohnen. Weder Vermieter noch die Stadt sehen sich verantwortlich, etwas gegen die Ratten zu unternehmen, gegen den Müll, der zu selten abgeholt wird, gegen morsche Veranden und Wohnungen ohne Feuertreppen, bis ein Unglück geschieht und Menschen sterben. Dann ermittelt sie eine Weile, aber die Probleme bestehen weiter, bis zum nächsten Todesfall, zu den nächsten Ermittlungen, zum nächsten Kampf ums Vergessen.

Die junge Frau unterrichtet Schüler, die die Highschool geschmissen haben und ihren Abschluss nachholen wollen. Sie lernt, dass deren Lebensumstände allesamt prekärer sind, als sie es sich in ihren kühnsten Schriftstellerinnen-Vorstellungen ausmalen kann. Verglichen mit ihren Schülern hat sie ein komfortables und privilegiertes Leben geführt. Nie hat sie morgens vor der Schule erst ein Kind stillen müssen. Nie hat ihr Vater oder ein Freund sie nachts grün und blau geschlagen. Nie hat sie einen Umweg machen müssen, um einer Gang im Schulflur aus dem Weg zu gehen. Nie haben ihre Eltern sie angefleht, die Schule sausen zu lassen, um stattdessen Geld zu verdienen.

Wie kann Kunst die Welt verändern? Diese Frage wurde in Iowa nie gestellt. Sollte sie ihren Schülern etwa beibringen, wie man Gedichte schreibt, wenn sie doch lernen mussten, sich selbst zu verteidigen, um nicht verprügelt zu werden? Kann ein Memoir von Malcom X oder ein Roman von García Márquez sie vor täglicher Prügel schützen? Und was ist mit denen, die solche Lernschwierigkeiten haben, dass sie nicht mal ein Kinderbuch lesen, aber eine Geschichte so wunderbar erzählen können, dass sie sich am liebsten Notizen gemacht hätte. Sollte sie das Schreiben aufgeben und etwas Nützliches wie Medizin studieren? Wie kann sie ihren Schülern beibringen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Sie liebt diese Schüler. Was kann sie tun, um ihre Leben zu retten?

Eins führt zum anderen, und bald ist die junge Frau nicht mehr Lehrerin, sondern Personalreferentin an ihrer früheren Universität, der Loyola University in Rogers Park im Norden Chicagos. Ich habe eine Krankenversicherung. Ich nehme keine Arbeit mehr mit nach Hause. Mein Arbeitstag endet um 17 Uhr. Jetzt habe ich abends frei, um zu schreiben. Ich fühle mich wie eine echte Schriftstellerin.

An der Universität arbeite ich für ein Programm, das es inzwischen nicht mehr gibt, das Educational Opportunity Program zur Unterstützung »benachteiligter« Schüler. Die Arbeit entspricht meinen Überzeugungen, und ich kann weiterhin meinen ehemaligen Schülern helfen. Aber als meine klügste Schülerin angenommen wird, sie sich einschreibt und kurz darauf, noch im ersten Semester, hinschmeißt, breche ich vor Trauer und Erschöpfung über meinem Schreibtisch zusammen und würde am liebsten selbst alles hinschmeißen.

Ich schreibe über meine Schüler, weil ich nicht weiß, wohin sonst mit ihren Geschichten. Sie aufzuschreiben bedeutet, nachts schlafen zu können.

Wenn ich es schaffe die Schuldgefühle zu ignorieren und die Einladung meines Vaters, sonntags zum Abendessen vorbeizukommen, auszuschlagen, kann ich am Wochenende zu Hause bleiben und schreiben. Ich habe das Gefühl, eine schlechte Tochter zu sein, wenn ich meinem Vater nicht gehorche, aber wenn ich nicht schreibe, fühle ich mich noch schlechter. Egal wie, vollkommen glücklich bin ich nie.

Eines Samstags nimmt die Frau an der Schreibmaschine eine Einladung zu einem Literaturabend an. Aber als sie dort ankommt, merkt sie, dass es ein schwerer Fehler war. Die anwesenden Schriftsteller sind ausnahmslos alte Männer. Sie war von Leon Forrest eingeladen worden, einem schwarzen Autor, der höflich sein und mehr Schriftstellerinnen und People of Color einladen wollte, aber bisher war sie die einzige Frau, und sie beide waren die einzigen Nicht-Weißen.

Sie ist hier als Autorin des neuen Gedichtbands Bad Boys, erschienen bei Mango Press, der literarischen Bestrebungen von Gary Soto und Lorna Dee Cervantes. Ihr Buch ist vier Seiten lang und wurde mit Hilfe eines Tackers und eines Löffels auf einem Küchentisch gebunden. Wie sie schnell feststellt, haben die meisten anderen Gäste echte Bücher geschrieben, Hardcover bei großen New Yorker Verlagen, die in Auflagen von Hunderten oder Tausenden in echten Druckereien gedruckt worden waren. Ist sie wirklich eine Schriftstellerin, oder tut sie nur so?

Der Ehrengast ist ein berühmter Autor, der einige Jahre vor ihr auch am Iowa Writers’ Workshop teilgenommen hat. Sein neuestes Buch ist gerade nach Hollywood verkauft worden. Er spricht und gibt sich, als sei er der Herrscher über Alles.

Am Ende des Abends sucht sie nach einer Mitfahrgelegenheit. Gekommen ist sie mit dem Bus, und der Herrscher bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren. Aber sie will nicht nach Hause. Sie ist fest entschlossen, sich einen Film anzusehen, der nur heute Abend läuft. Sie hat Angst, allein ins Kino zu gehen, und genau deshalb hat sie beschlossen hinzugehen. Weil sie sich davor fürchtet.

Der berühmte Autor fährt einen Sportwagen. Die Sitze riechen nach Leder, und das Armaturenbrett sieht aus wie ein Flugzeugcockpit. Ihr eigenes Auto springt nicht immer an und hat neben dem Gaspedal ein Loch im Boden, durch das Regen und Schnee spritzt, deshalb muss sie beim Fahren immer Stiefel tragen. Der berühmte Autor redet ununterbrochen, aber sie hört kein Wort von dem, was er sagt, denn ihre eigenen Gedanken übertönen ihn wie Wind. Sie sagt nichts, muss es auch gar nicht. Sie ist jung und hübsch genug, um dem Ego des berühmten Autors zu schmeicheln, indem sie zu allem, was er sagt, zustimmend nickt, bis er sie vor dem Kino absetzt. Sie hofft, dass der berühmte Autor zur Kenntnis nimmt, dass sie sich allein Blondinen bevorzugt ansehen will. Um die Wahrheit zu sagen: Ihr ist elend zumute, als sie allein zum Ticketschalter geht, aber sie zwingt sich, eine Karte zu kaufen und reinzugehen, weil sie diesen Film liebt.

Das Kino ist gerammelt voll. Die Frau hat den Eindruck, als sei jeder der Anwesenden in Begleitung da, nur sie nicht. Endlich die Szene, in der Marilyn Monroe »Diamonds Are a Girl’s Best Friend« singt. Die Farben so prächtig wie in einem Cartoon, das Set herrlich kitschig, der Liedtext klug, die ganze Nummer versprüht Old-Style-Glamour. Marilyn ist sensationell. Als ihr Song vorbei ist, applaudieren die Kinobesucher, als stünde sie live auf der Bühne, aber leider ist die arme Marilyn schon seit Jahren tot.

Die Frau, die ich bin, geht stolz nach Hause, weil sie allein ins Kino gegangen ist. Siehst du? War doch gar nicht so schwer. Aber als sie die Tür ihrer Wohnung hinter sich verriegelt, bricht sie in Tränen aus. »Ich hab keine Diamanten«, schluchzt sie, obwohl sie nicht weiß, was das bedeuten soll, allerdings weiß sie bereits, dass es gar nicht um Diamanten geht. Alle paar Wochen hat sie einen unschönen Heulkrampf wie diesen und fühlt sich danach jedes Mal hilflos und wie gescheitert. Es passiert so regelmäßig, dass sie denkt, diese Depressionsstürme wären so normal wie Regenschauer.

Wovor hat die Frau auf dem Foto Angst? Sie hat Angst, im Dunkeln vom Parkplatz in ihre Wohnung zu laufen. Sie hat Angst vor den polternden Geräuschen in den Wänden. Sie hat Angst, sich zu verlieben und sich deshalb für den Rest ihres Lebens an Chicago zu binden. Sie hat Angst vor Geistern, tiefem Wasser, Nagetieren, der Nacht, vor Dingen, die sich zu schnell bewegen – Autos, Flugzeuge, ihr Leben. Sie hat Angst, wieder bei ihren Eltern einziehen zu müssen, wenn sie nicht mutig genug ist, allein zu leben.

Und während alledem schreibe ich Geschichten unter dem Titel Das Haus in der Mango Street. Manchmal schreibe ich über Menschen, an die ich mich erinnere, manchmal schreibe ich über Menschen, die ich gerade erst getroffen habe, oft vermische ich beides. Meine Schülerinnen in Pilsen, die während des Unterrichts vor mir saßen, mit Mädchen, die zehn Jahre früher in einem ganz anderen Klassenzimmer in der Highschool neben mir saßen. Ich nehme Bruchstücke aus Bucktown, wie den Affengarten nebenan, und versetze ihn in den Häuserblock am Humboldt Park, in dem ich während meiner Schulzeit wohnte – 1525 North Campbell Street.

Oft habe ich nur einen Titel ohne Geschichte – »Die Familie mit den kleinen Füßen« –, und ich muss mir selbst in den Hintern treten, damit ich anfange zu schreiben. Manchmal habe ich auch nur den ersten Satz – »Man kann nie zu viel Himmel haben«. Eine meiner Schülerinnen in Pilsen behauptete, ich hätte das einmal gesagt und sie habe es nie vergessen. Zum Glück hat sie sich den Satz gemerkt und ihn mir gegenüber noch mal zitiert. »Sie kamen mit dem Augustwind …« Diese Zeile fiel mir im Traum ein. Die besten Ideen kommen manchmal im Traum. Und die schlechtesten auch!

Egal ob die Idee von einem Satz stammt, den ich irgendwo aufgeschnappt und mir gemerkt habe, oder von einem Titel, den ich gefunden und eingesackt habe, die Geschichten schreiben mir immer vor, wie sie enden wollen. Oft überraschen sie mich mit einem abrupten Schluss, wenn ich doch vorhatte, auf ihnen noch ein ganzes Stück weiterzugaloppieren. Sie sind stur. Sie wissen am besten, wann es nichts mehr zu sagen gibt. Der letzte Satz muss in den Ohren klingeln wie die letzte Note eines Mariachi-Lieds – tan-tán –, damit man weiß, dass es vorbei ist.

Die Leute, über die ich geschrieben habe, waren größtenteils real, sie waren von hier und dort, heute und damals, aber manchmal habe ich drei echte Personen zu einer fiktiven zusammengeflochten. Wenn ich der Meinung war, mir eine Figur auszudenken, stellte sich für gewöhnlich heraus, dass es sich um eine Person handelte, an die ich lange nicht gedacht hatte, oder um eine, die mir so nahestand, dass ich die Ähnlichkeit gar nicht bemerkte.

Ich trennte Ereignisse auf und knüpfte sie neu zusammen, um die Geschichte maßzuschneidern, gab ihr Form durch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, denn echte Lebensgeschichten kommen selten als abgeschlossene Einheit daher. Aber Gefühle können nicht erfunden oder entliehen werden. Alle Emotionen, die meine Figuren empfinden, schöne wie schreckliche, sind meine eigenen.

Ich treffe Norma Alarcón. Sie wird eine meiner ersten Verlegerinnen und eine lebenslange Freundin werden. Als sie das erste Mal durch die Zimmer meiner Wohnung in der North Paulina Avenue schleicht, nimmt sie die stillen Räume, die Schreibmaschinensammlung, die Bücher und Porzellanfiguren, die Fenster mit Blick auf Autobahn und Himmel zur Kenntnis. Sie läuft wie auf Zehenspitzen und lugt in jeden einzelnen Raum, sogar in die Vorratskammer und den Wandschrank, als würde sie nach etwas suchen. »Du lebst hier …«, fragt sie, »allein?«

»Ja.«

»Und …« Sie hält inne. »Wie hast du das geschafft?«

Norma, ich habe es geschafft, indem ich mich Dingen gestellt habe, die mir Angst machten, damit ich keine Angst mehr vor ihnen zu haben brauchte. Wegziehen, um einen Schulabschluss zu machen. Allein ins Ausland reisen. Mein eigenes Geld verdienen und allein wohnen. So tun, als sei ich eine Schriftstellerin, obwohl ich mich davor fürchtete, genau wie in dem Foto, dass du auf das erste Cover von Third Woman gedruckt hast.

Und schließlich, nachdem ich jahrelang bei professionellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in die Lehre gegangen bin und endlich bereit war, indem ich die richtige Agentin fand. Mein Vater, der immerzu seufzte und sich wünschte, ich möge heiraten, war am Ende seiner Tage froh, dass mein Lebensunterhalt nicht von einem Ehemann, sondern von meiner Agentin Susan Bergholz gesichert wurde. ¿Ha llamado Susan?, fragte er täglich, denn wenn Susan anrief, hatte sie immer gute Nachrichten. Diamanten mögen für ein Mädchen das Richtige sein, aber eine Agentin ist die beste Freundin einer Schriftstellerin.

Ich konnte meiner eigenen Stimme nicht trauen, Norma. Die Leute sahen ein kleines Mädchen, wenn sie mich anschauten, und hörten die Stimme eines kleinen Mädchens, wenn ich sprach. Weil ich meiner erwachsenen Stimme selbst nicht traute und mir oft den Mund verbat, habe ich eine andere Stimme erfunden, Esperanzas Stimme, die für mich Fragen stellte, auf die ich Antworten brauchte: »Wo lang?« Das wusste ich nämlich nicht so genau, aber ich wusste, welche Wege ich nicht nehmen wollte – Sallys, Rafaelas, Ruthies –, Frauen, deren Leben weiße Kreuze am Straßenrand waren.

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