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Kapitel 4 – Der Schreiber

August 2008

Tobias Gielding war ein kreativer Mann. Er studierte Menschen, ihr Äußeres in Kombination mit ihrer Art, sich zu geben, und kreierte zu jeder Person, die er sah, umgehend eine kurze Lebensgeschichte. Einen möglichen Namen, Alter, Herkunft, Beruf und Interessen glaubte er aufgrund von Mimik und Gestik zu erraten, wenn er jemanden nur einige Zeit lang beobachtete. Wie oft er mit seinen Vermutungen richtig lag, war ihm unbekannt, doch für ihn stand außer Zweifel, zumindest mit einem Teil ins Schwarze zu treffen. Besonders intensiv musterte er Gesichter, in welchen ihn vor allem die Augen faszinierten, die auf stumme Art und Weise Geheimnisse verrieten.

Die Jahre vor seiner Zeit als Autor blendete er gänzlich aus. Er hatte nie etwas anderes tun wollen als schreiben. Während der Schulzeit ließ man ihn als Teil seiner Ausbildung gewähren. Doch als Erwachsener umgaben ihn immer mehr Menschen im Umfeld, die ihn in seinem Schöpferdrang nicht ernst nahmen und sein Talent weder erkannten noch förderten. Schlimmer sogar, die ihn von seiner Leidenschaft abzubringen versuchten. Wie er mit brotloser Kunst Geld verdienen wolle, pflegte man ihn zu fragen. Niemand verstand, dass er nicht anders konnte. Seine Gedanken, Eindrücke und Erlebnisse sowie sämtliche Geschichten, die ihm begegneten, niederzuschreiben, war wie ein Zwang. Tat er das nicht, fehlte ihm etwas, und zwar der wichtigste Teil in seinem Leben. Mittlerweile kannten die ihn umgebenden Menschen sein Faible, das Notieren sämtlicher Details stets allem anderen vorzuziehen. Seine Frau Lilo akzeptierte es, ohne zu verstehen, was in diesen Momenten in ihrem Mann vorging. Kein einziges Mal wollte sie mit ihm mehr über seine Besessenheit, wie sie es nannte, reden und lehnte weitere Erklärungsversuche seinerseits ab. Wenn sie ihn dann doch hin und wieder vom Schreiben abzuhalten versuchte, beispielsweise im Urlaub, ließ er sie spüren, was mit ihm passierte. Eine Leidenschaft zu unterdrücken, machte einen Menschen nur unglücklich, rechtfertigte sie mittlerweile sein Verhalten anderen Leuten gegenüber. Sie hatte keine Wahl.

Tobias Gielding war Beobachter. Bevor er mit jemandem ins Gespräch kam, musste er das Gefühl haben, die Person ein wenig zu kennen. Er observierte sie so lange, bis er meinte, zumindest ein bisschen was über sie zu wissen. Er hasste es, wenn man frontal auf ihn zuging und ihn einfach ansprach. Aktionen wie diese brachten ihn aus dem Konzept und konnten nie eine ähnlich qualitätsvolle Konversation zur Folge haben wie jene mit von ihm zuvor beobachteten Menschen.

Als er seinen Laptop einschaltete, schossen ihm in Gestalt eines pawlowschen Reflexes die Worte seiner Mutter durch den Kopf: „Mit deiner Schreiberei wirst du nie genug verdienen.“ Dabei hatte sie stets ihre Augen zusammengekniffen, als wäre ihre Aussage eine Drohung, die sie, wenn er nicht spurte, wahr werden ließ. Sie war nicht in der Lage gewesen zu verstehen, wie man ein Hobby zum Beruf machen konnte. Allerdings hatte sie auch nie verlangt, dass ihr Sohn aufgab, nur erwartet, es ausschließlich als netten Zeitvertreib zu betrachten. Menschen, die richtiges Geld damit machten, waren in ihren Augen „anders“. Anders als er? Wie musste man als erfolgreicher Schriftsteller denn sein? Brachte man Texte schneller zu Papier? Hatte man genialere Eingebungen? Bekam man bessere Aufträge? War man ein Typ Mensch, aus dem sich eine Art Marke aufbauen ließ, und dafür geeignet, zu sämtlichen Themen, die das Land bewegten, etwas zu sagen zu haben? Oder ging es ihr darum, dass sie ihrem Sohn das Künstlerdasein nicht zutraute, weil sie sich mit ihm verglich und ihm des Öfteren ihre eigenen Schwächen und Unfähigkeiten vorhielt? Steckte in ihr auch etwas, das zeit ihres Lebens herauswollte, ohne von ihrem Umfeld akzeptiert worden zu sein? Menschen, die nie machten, was ihnen am Herzen lag, bestraften gerne unbewusst ihre eigenen Kinder, sobald diese ihre Träume auszuleben versuchten. Doch was zum Teufel konnte er dafür, dass sie kein selbstbestimmtes Leben geführt hatte?

Manchmal wünschte er sich ein Umfeld herbei, das eine weniger typisch österreichische Ansicht vertrat und außergewöhnliche Begierden und Ideen unterstützte, anstatt sie schlicht im Keim zu ersticken. Wann immer er zu Besuch bei Freunden in den USA war, schwappte ihm eine Motivation, seine Träume zu verwirklichen, entgegen, die er gierig aufsaugte wie ein Schwamm das Wasser. Nach jeder Rückkehr aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten gelang es ihm, Wochen davon zu zehren und in den Steinen, die ihm in den Weg gelegt wurden, zu bewältigende Herausforderungen zu erkennen. Doch irgendwann ebbte diese Begeisterung wieder ab, und er war im heimischen Alltag angekommen, der entmutigende Floskeln und eine zweifelnde Umgebung nach sich zog. Nicht nur einmal spielte er mit dem Gedanken, der Heimat den Rücken zuzukehren und sein Glück woanders zu versuchen. Was allerdings brachte es ihm auf seinem Lebensweg, Autor zu werden, der an eine Sprache und daran verknüpft an einen Buchmarkt gebunden war, wenn er in einem anderen Land weilte? Früher oder später wäre er, selbst wenn er von woanders aus schrieb und seiner Kreativität Raum zur Entfaltung bot, doch wieder gezwungen, sich mit denselben, nicht aufgeschlossenen Leuten abzugeben.

Tobias Gielding arbeitete als Auftragsschreiber, als Ghostwriter. Er formulierte, was andere nicht zu Papier bringen konnten. Schrieb er deswegen im Namen von Fremden, weil er selber über keinen Bekanntheitsgrad verfügte? Und obwohl ihn ab und an eine Zusage erreichte, plagten ihn aufgrund der schwer unterbezahlten Aufträge seit Jahren Zweifel darüber, wie lange er sich diesen Luxus würde leisten können.

Zwischen den mäßig erfolgreichen Projekten, die er stets fristgerecht ablieferte, ohne frenetischen Beifall dafür zu kassieren, bastelte er beharrlich an seinen eigenen Geschichten, die er eines Tages einem Verlag anzubieten plante. Viel zu voreilig hatte er vor mittlerweile zehn Jahren sein Glück auf die Probe gestellt und einen Vertragspartner für seinen ersten Krimi gesucht. Ab und an flatterte immer noch eine inhaltslose Absage herein, die sich weder genauer auf sein Werk noch auf den Grund für die Ablehnung bezog. Mehr als ein Standardschreiben war er nicht wert, und das schien schon das höchste Maß an Aufmerksamkeit zu sein, das man ihm angedeihen ließ.

Erst jetzt fand er Klarheit darüber, dass es damals zu früh für diese Initiative gewesen war. Sein Schreibstil hatte sich in den letzten Jahren radikal weiterentwickelt – sonst hätte er es bis dato nicht geschafft, seine Kunden zufriedenzustellen. Dennoch fehlte ihm seiner Meinung nach das gewisse Etwas, das zugegebenermaßen einen Autor ausmachte. Hin und wieder nahm er sich frühere schriftstellerische Ergüsse zur Hand, die in den Untiefen seiner digitalen Ablage verschwunden waren. Seine Reaktion reichte von erstaunter Begeisterung bis hin zu entsetzter Scham. Teilweise war ihm tatsächlich entfallen, was er alles kreiert hatte – von Kurzgeschichten über Drehbücher oder Krimis, jedoch allesamt unvollständig, unausgereift und nicht bis zum Ende in jedes verwinkelte Detail durchdacht. Manches überraschte ihn positiv, und er war der Meinung, dass er es gegenwärtig nicht mehr ähnlich gelungen hinbekommen würde. Mittlerweile hatte sich eine Enttäuschung in ihm ausgebreitet, die ihn regelmäßig alles hinterfragen ließ. Was war mit der Theorie, dass man Dinge, die man gerne tat, auch gut machte? Wann würde sich seine Beharrlichkeit im Laufe all der düsteren Phasen endlich rentieren und er seine Selbstzweifel beseitigen können?

Während sein Laptop in die Gänge kam, wurde er sich seiner Mittelmäßigkeit bewusst. Wieder einmal. Dennoch konnte er sich nichts anderes vorstellen und würde seine Zweifler und sich selbst schon eines Besseren belehren. Er war 33 Jahre alt und hatte sich vorgenommen, noch vor seinem auf ihn zurasenden halbrunden Geburtstag einen Bestseller für einen bekannten Autor zu schreiben. Kam dann ans Tageslicht, beispielsweise durch die Indiskretion seitens eines Verlagsmitarbeiters, dass er hinter dem Erfolg stand, konnte der Weg zu seiner eigenen Story nicht mehr so weit sein wie davor.

Der Begriff Bestseller war, nach dem zu urteilen, was er alles schon aus der Buchszene vernommen hatte, ohnehin Interpretationssache. Manche bedienten sich der Definition, wenn von einem Buch mehr als 100.000 Exemplare verkauft wurden. Andere teilten die Ansicht, es ginge um einen überdurchschnittlich hohen Verkauf innerhalb eines festgesetzten Zeitraums im Vergleich zu den weiteren Titeln, die am Markt waren. Wieder andere richteten sich nach den Bestseller-Listen diverser Tageszeitungen oder Magazine, die weiß Gott wo ihre Zahlen bezogen. Für ihn ging es mehr darum, endlich selber mit seiner Leistung zufrieden zu sein. Womöglich brauchte er seine eigene Definition dafür. Momentan war er weit davon entfernt.

Schon seit Tagen wartete er auf eine positive Antwort des Verlags. Die auf seine ungeduldige Rückfrage hin eintreffende Nachricht, die Prüfung der Angelegenheit dauere eben ihre Zeit, stellte ihn langsam nicht mehr zufrieden. Er brauchte diesen Auftrag. Der Vorwurf in Lilos Augen war nicht länger auszuhalten. Täglich wuchs er zu etwas Unerträglichem heran.

„Wenn das nichts wird, musst du dir einen Job suchen. Ich kann langsam nicht mehr alleine für alle Kosten aufkommen“, lauteten ihre Worte. Sie war im Recht, und das wusste sie. In den letzten Jahren hatte sie so viel akzeptiert – seine häufige geistige Abwesenheit, kombiniert mit einem niedrigen Lebensstandard –, dass er ihr das schuldete. Fiel die Antwort des Verlags negativ aus, wurde er dadurch zum Handeln gezwungen und würde sich vorübergehend anderweitig Geld beschaffen müssen. Er hasste diesen Gedanken. Er war Schriftsteller. Warum gab man ihm keine Chance?

Nicht nur einmal hatte man ihm einen großen und anständig bezahlten Auftrag in Aussicht gestellt, der ihm außer Zeitaufwand und Unmengen an Hoffnung seinerseits nichts weiter gebracht hatte. Die Zuversicht, dass es das nächste Mal klappen würde, brachte ihn nicht voran, denn Folgeanfragen, die sich daraufhin realisierten, blieben aus. Einmal war sogar eine Anfrage für ein Theaterstück hereingekommen, aber anschließend im Sand verlaufen, nachdem er ein noch so faires Angebot gelegt und wiederholt nachgefragt hatte, ob schon eine Entscheidung getroffen worden war. Nicht einmal eine ablehnende Antwort hatte ihn erreicht. Als das Stück zwei Jahre später in einem kleinen Theater in seiner Nähe aufgeführt wurde, war ihm die Ankündigung dazu untergekommen und hatte ihn daran zurückerinnert. Weder eine Ab- noch eine Zusage zu erhalten, ärgerte ihn mehr als ein konkret formuliertes „Nein“, das wenigstens ein Ende seines stetigen Hoffens bedeutet hätte. Dann könnte er mit etwas abschließen, ohne länger eine Art unerledigte Aufgabe in seinem Hinterkopf umherschwirren zu haben.

Nach einer kurzen Pause, in welcher er den Computer keines Blickes gewürdigt hatte, zeigte sein Posteingang drei neue Nachrichten. Bevor er die Mails genauer inspizierte, wurde ihm klar, dass sich eine des Biber-&-Benson-Verlags darunter befand.

Es stimmte, Peter hatte geantwortet. Gewöhnlich rief er mit guten Neuigkeiten an und schrieb mit schlechten zurück. Musste er sich nun endgültig einen Job suchen, um die ausständigen Rechnungen bezahlen zu können?

„Kommst du zum Essen?“ Lilo rief ihn jedes Mal, bevor sie fertig gekocht hatte. Eigentlich meinte sie: „Kommst du zum Essen, nachdem du den Tisch gedeckt, den Wein eingeschenkt und die Musik eingelegt hast?“ Seine Ehefrau liebte Romantik, das alles diesbezüglich vorzubereiten, war jedoch letztendlich sein Job. Er wollte die Mail aber unbedingt lesen, auch wenn ihm deren Inhalt womöglich den Appetit verdarb.

Sehr geehrter Herr Gielding,

Ihr Exposé hat uns sehr zugesagt, und wir freuen uns aus diesem Grund, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir den Ghostwriting-Auftrag für Frau P. H. an Sie erteilen.

Bitte verzeihen Sie, dass ich für eine Zusage nicht anrufen kann – ich befinde mich mitten in einer Besprechung, wollte Ihnen die freudige Nachricht jedoch sofort übermitteln. Ich erlaube mir, Sie morgen Vormittag telefonisch zu kontaktieren.

Herzlichst, Peter Biber

Tobias Gielding traute seinen Augen nicht, und auch die zweite Aufforderung seiner Frau, zum Essen zu kommen, änderte nichts an seiner versteinerten Haltung vor dem Computer. Er konnte es nicht fassen, dass er den Biber-­&-Benson-Verlag mit seiner Idee hatte überzeugen und begeistern können. Er war der neue Ghostwriter von Paula Hogitsch, und das mit seiner eigenen Geschichte.

„Du wirkst irgendwie durcheinander. Was hast du denn?“

Lilo merkte, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmte. Er zog den Korken heraus und blickte sie lächelnd an, während er den Wein auf der Küchenanrichte abstellte.

„Alles in Ordnung?“

Sie hatte sich mit seiner sonst introvertierten und stets leicht mürrischen Art in der letzten Zeit abgefunden und fragte ihn nicht länger nach den Gründen seines Unmuts. Mittlerweile wusste sie genau, dass ihn die wirtschaftliche Lage ebenso belastete wie sie selbst, und wollte nicht jedes Mal wieder von Neuem damit anfangen. Die beiden setzten sich zu Tisch, doch bevor sie das Essen anrichtete, reichte ihr Tobias ein volles Glas Rotwein. Lilo sah ihr immer noch lächelndes Gegenüber verwirrt an. Ihr erwartungsvoller Blick verlangte nach einer Erklärung.

„Wir trinken auf die unerwarteten Momente, die einen Tag besonders machen!“

Beide nippten am Wein, und bevor sie ihre Vermutung aussprechen konnte, fiel er ihr ins Wort.

„Ich hab den Auftrag. Peter ruft mich morgen an, damit wir alles Weitere besprechen können.“

„Wirklich … damit hab ich nicht gerechnet“, stammelte Lilo, während sie mechanisch und wie geistesabwesend Kartoffeln, Gemüse und Fleisch auf den Tellern verteilte. Dann riss sie sich zusammen und sagte: „Ich muss mich bei dir entschuldigen.“ Ihre Augen wichen den seinen aus und wandten sich rasch dem Essen zu. „Ich hab nicht mehr daran geglaubt, dass du es schaffst. Es tut mir leid.“ Sie meinte es ernst.

Auch wenn Lilo wusste, dass Tobias beim Schreiben Glück empfand, hatte sie darin bis zu jenem Zeitpunkt nur ein Hobby gesehen und nicht erwartet, dass er damit tatsächlich erfolgreich wurde.

„Schatz, das ist eine großartige Sache, und ich will, dass du dich freust. Ich verstehe dich ja. Es ist nicht leicht, an jemanden zu glauben, der so oft Absagen bekommen hat wie ich. Aber jetzt möchte ich glücklich darüber sein, dass ich diese Chance erhalten habe.“

„Und wie geht es jetzt weiter? Ich meine, kriegst du Vorgaben, wie lange hast du Zeit, wie funktioniert das alles?“

„Das werde ich hoffentlich morgen erfahren“, antwortete er mit hochgezogenen Augenbrauen. Obwohl ihm all die Rahmenbedingungen, die dieser Auftrag mit sich brachte, unbekannt waren, machte sich zu seiner Überraschung keine Form der Nervosität bemerkbar, sondern vielmehr eine Art Vorfreude, die er in beruflicher Hinsicht so noch nie erlebt hatte. Die Tatsache, dass Peter Biber den finanziellen Aspekt bei seiner Zusage vollkommen ausgeklammert hatte, überraschte ihn. Hieß das automatisch, dass sie sein Angebot akzeptierten? Übertrieben hoch war sein Preis nicht angesetzt. Es war durchaus realistisch, dass es so durchging. Wahrscheinlich aber war dies Thema des Telefongesprächs am nächsten Tag oder des bevorstehenden persönlichen Treffens.

Lilo blickte ihn an, nachdem sie das erste kleine Stück Fleisch auf ihre Gabel gespießt hatte, und hielt inne.

„Was denkst du?“, fragte sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

„Keine Ahnung. Ich bin sprachlos. Gerechnet habe ich selber nicht damit.“ Er trank einen großen Schluck Wein, als verschaffte ihm der Alkohol mehr Klarheit darüber, was soeben passiert war.

„Na ja, du bist einfach gut“, entgegnete sie und nahm ihren ersten Bissen.

Nie zuvor hatte sie so etwas zu ihm gesagt. Obwohl eine längst überfällige Anerkennung guttat, war er doch überrascht. Jetzt erst, nach dieser Auftragserteilung, wurde es ihr bewusst, dass in ihm Talent schlummerte? Oder war es jene Art von Kompliment, die ihrer Meinung nach nun sein musste, damit sie ihren Beitrag in Sachen Unterstützung ihres Ehemannes geleistet hatte?

„Das ist lieb von dir“, entgegnete er. Nichts lag ihm ferner, als deswegen einen Streit zu entfachen, weil er in den vergangenen Jahren, als die gewinnbringenden Schreibjobs ausgeblieben waren, anerkennende Sätze so bitter nötig gehabt hätte. Doch mittlerweile durchschaute er ihre Art und hielt davon Abstand, solche Aussagen auf die Goldwaage zu legen, die zu ihren Ungunsten aus dem Gleichgewicht geriet.

Tobias Gielding genoss den Abend mit seiner Gemahlin an der Seite, doch gedanklich war er woanders. Bei einer anderen Frau. Bei einer Persönlichkeit, die man kannte. Bei einer Erfolgsautorin, deren Werk er schreiben würde.

Kapitel 5 – Das Kunstwerk

Juli 1991

Die Tür stand offen. Mit einem lauten „Hallo?“ betrat sie das Atelier von Roman Berger, seines Zeichens Maler und Installationskünstler. Er war ihr von ihrer Freundin empfohlen worden, da sie ihr Interesse an einem Porträt von sich bekundet hatte. „Er wird deine Seele nach außen kehren“, so Brigitta. Folglich schlich sie ins Atelier eines völlig Fremden, der trotz fix vereinbarten Termins offenbar nicht anwesend war und seine Räumlichkeiten unverschlossen hinterlassen hatte.

„Herr Berger!?“ Paula drang zögernd weiter vor und passierte unzählige Bilder und Skulpturen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Abstrakte Malerei, Gesichter von Menschen, Zeichnungen von wilden Tieren, Gebilde aus Holz – all das befand sich in einem unverschlossenen, riesigen Raum.

„Wer is’ denn des?“ Zwischen zwei Staffeleien tauchte ein älterer Mann mit zerzaustem Haar und Brille auf der Nase auf. Paula war zutiefst erschrocken und versuchte ohne Erfolg, eine verständliche Erklärung abzugeben.

„Brigitta hat … Porträt von mir … Herr Berger?“

„Die entzückende Schriftstellerin!“ Roman Berger schrie den Satz in Richtung der vor ihm an die Wand gelehnten Leinwand. Er hatte eindeutig auf den Termin mit ihr vergessen. „I hob so vü zum Tuan – entschuldigen’s, gnä Frau.“ Mit einem verlegenen Lächeln versuchte der Maler seine Verwirrtheit zu überspielen. Noch bevor er ihr einen vornehmen Handkuss mit den Worten „Küss die Hand, Gnädigste“ erteilte, nahm er sich die Brille von der Nase.

„Herr Berger, es freut mich sehr.“ Paula lächelte, blickte dabei aber in ein erstauntes Gesicht. „Stimmt etwas nicht?“

„Entschuldigen’s bitte. Sie san a Augenschmaus – i hob jo ka Auhnung ghobt. De liabe Brigitta hat so von Ihna gschwärmt, oba sie hod maßlos untatriebn. De Augen, der Mund … und Ihre rote Blusn passt Ihna perfekt. Afoch entzückend!“

So wie Roman Berger die Worte mit seinem ausgeprägten Wiener Dialekt formulierte, klang es über alle Maßen ehrlich in ihren Ohren. Was hätte der in die Jahre gekommene Künstler auch davon, ihr zu schmeicheln, wenn er nicht tatsächlich so empfand? An Aufträgen mangelte es ihm nicht, wie ihr bekannt war. Paulas Gesichtsfarbe änderte sich spürbar, doch sie freute sich auf das Ergebnis und konnte es kaum erwarten, Steffen zum Geburtstag ein Porträt von sich zu überreichen.

„Kumman’s!“ Der Künstler nahm Paulas Hand und führte sie in Form einer Erkundungstour durch sein Atelier. Immer wieder blieb er an ausgewählten Stellen stehen und deutete wortlos auf Porträts bekannter Persönlichkeiten, ohne deren Identität zu erwähnen.

„Oh, ist das etwa…?“ Paula rang um den Namen, der ihr beim besten Willen nicht über die Lippen kam. „Die vom Opernball?“

Roman nickte nur und ergänzte: „Noch ihrm ersten.“

„Und das ist der Skifahrer, oder?“ Wieder bestätigte er ihren Verdacht mit einem energischen Kopfnicken.

„Oh entschuidigen’s, Gnädigste. Woin’s an Kaffee?“

Paula nahm das Angebot gerne an und kam während des Nippens daran langsam in Stimmung.

„Und jetzt gaunz stü“, flüsterte der Künstler – er hatte sie sofort und auf der Stelle malen wollen. Im Schein der Lampe, die ihm Licht für seine Arbeit spendete, funkelte das Rot ihrer Lippen mit dem ihrer Bluse um die Wette und harmonierte mit dem Dunkelbraun ihrer schwungvollen Locken.

Paula sah die Rückseite einer Leinwand vor sich sowie die Augen und einen Teil von Romans Gesicht. Sie unterstand sich, nur eine Sekunde den Blick von ihm abzuwenden. Das Atelier um sie herum blendete sie vollständig aus.

„Großortig“, lobte Roman seine neue Muse immer wieder. Eine so attraktive Frau hatte er schon lange nicht mehr in seinen Räumlichkeiten begrüßen dürfen. Er konnte sich nicht daran erinnern, je ein ähnlich ansprechendes Gesicht einer jungen Dame auf einer Leinwand verewigt zu haben.

„Brigitta hod erzöht, dass du Biacha schreibst.“ Roman versuchte, eine Konversation in Gang zu bringen, um die herrschende Stille zu durchbrechen.

„Das ist richtig“, antwortete Paula mit so wenig Mimik wie möglich, um den Maler nicht von seinem Pinselschwung abzulenken. „Mein erster Roman, ‚Nebel über dem See‘, wurde schon veröffentlicht und hat sich sehr gut verkauft. Mein zweiter, ‚John Beauclair‘, ist gerade in der Postproduktionsphase. Ich denke, auch er könnte erfolgreich werden.“

„Großortig!“ Paula überlegte, ob er damit auf das eben Gesagte reagierte oder sich selbst für seine Darstellung ihrer Züge auf der Leinwand gelobt hatte.

Der Zeiger einer Wanduhr, die ebenso selbst gebastelt aussah wie alles andere im Atelier, zeigte 18:52 Uhr an. Konnte es sein, dass sie bereits seit drei Stunden in ihrer Position verharrte, ohne einen Anflug von Langeweile, körperlichen Beschwerden oder Durst zu verspüren? Roman verhielt sich in ihren Augen erstklassig. Er gab ihr mit seinen Kommentaren immer wieder das Gefühl, eine Inspiration zu sein, was es ihr erleichterte, weiterhin stillzusitzen. Steffen würde begeistert sein, wenn er in der darauf folgenden Woche das Porträt in Händen hielt. Wo er es wohl aufhängen würde?

„Des woa’s! Wir haum’s!“ Der Maler war am ganzen Körper verschwitzt. Obwohl mindestens 45 Jahre älter als Paula, fand sie ihn trotz seiner zeitweisen Verwirrtheit nicht unattraktiv. Lag das an der Vielzahl an netten Worten, mit welchen er sie in den letzten Stunden überhäuft hatte? Paula liebte Komplimente über ihr Äußeres und empfand diese nicht selten als sinnlichen Reiz.

„Derf i vorstön? De einzigortige, wundervolle und entzückende Paula Hogitsch.“ Roman nahm sie an der Hand und führte sie auf die andere Seite der Leinwand. Sie war überwältigt. Sollte das etwa sie sein? Hatte er in nur drei Stunden dieses Porträt von ihr erschaffen? Paula fehlten die passenden Worte.

„Du brauchst nix sogn. Es woa mia a Voiksfest. A Muse wie du hod si scho laung nimma in mei Atelier vairrt.“

Sie bemerkte, wie sie der Künstler lächelnd anblickte, doch sie schaffte es kaum, ihren gebannten Blick vom Gemälde abzuwenden und sich anständig zu bedanken.

Paula wollte Steffens Geburtstag ganz besonders gestalten und seine miserable Laune der letzten Tage durch eine gelungene kleine Feier vertreiben. Eine Sachertorte, seine Lieblingsmehlspeise, stand im Kühlschrank bereit, und das Geschenk befand sich eingepackt auf dem Tisch. Jetzt lag es an ihr, ihn aus dem Bett zu bekommen, womit einem schönen Tag zu zweit nichts im Weg stand. Die Anstrengungen der letzten Wochen mussten ihm mehr zu schaffen gemacht haben, als sie angenommen hatte. Es war Mittag, und Steffen schlief immer noch.

Sie versuchte, ihn vorsichtig aufzuwecken, indem sie sanft über seinen Arm strich. Er erwachte sogleich, erwiderte ihr Lächeln aber nur mit einem müden Blick. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Paula wollte sich einmal mehr zu ihm ins Bett kuscheln, doch Steffen drehte sich von ihr weg, stand auf und bewegte sich ins Bad. Seine Laune hatte sich nicht gebessert.

„Ich hoffe, es gefällt dir. Ich hab es vorige Woche machen lassen.“ Paula nahm ihn an der Hand und führte ihn vor die Leinwand – so, wie es der Maler nach Fertigstellung des Werks mit ihr gemacht hatte. Vorsichtig zog sie das Tuch Millimeter für Millimeter nach oben, bis das Gemälde vollständig enthüllt war.

„Hör zu, Paula.“ Steffen trat zurück und stellte sich hinter das Bild. „Ich kann das nicht mehr. Ich muss weg, es geht mir nicht gut.“

Sie verstand kein Wort. War es ihm unmöglich, mit einer Silbe oder nur einem Kommentar sein Geschenk anzusprechen?

„Ich hab’s mir schon längere Zeit überlegt. Heute ist vielleicht nicht der passende Tag, aber ich ertrage es einfach nicht mehr.“ Steffen schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. „Ich verlasse dich, Paula. Ich packe heute noch meine Sachen und ziehe aus. Es tut mir leid.“

Mit diesen Worten kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Sie hörte, wie er anfing, seine Sachen im Koffer zu verstauen. Paula hielt wie versteinert inne und verstand die Welt nicht mehr. Handlungsunfähig fixierte sie die Initialen R.B. auf der rechten Unterseite des Gemäldes, die langsam größer wurden und schließlich verschwammen. In ihrem Kopf war schon seit Wochen angekommen, dass Steffen gehen würde, ihr Herz andererseits hatte es nicht akzeptieren wollen.

Das Wochenende darauf verließ sie zum ersten Mal wieder ihre Wohnung. Sie packte das Porträt, das sie seit Steffens Geburtstag nicht mehr anzusehen vermochte, ohne in Tränen auszubrechen, in ein Tuch und brachte es in ein Antiquitätengeschäft auf der Gumpendorfer Straße im 6. Bezirk, an dem sie auf dem Weg zu ihrem ersten Arbeitsplatz täglich vorbeigegangen war. Bot man ihr kein Geld dafür an, würde sie es dennoch dort deponieren. Sie ertrug es nicht mehr, es weiterhin anzublicken. Es erinnerte sie zu sehr an ihn.

„Grüß Gott!“ Paula rief ins Geschäft hinein, obwohl sie weit und breit keinen Mitarbeiter sichtete. Während sie auf eine Ansprechperson wartete, glitten ihre Augen über die zahlreichen Ausstellungsobjekte – von Vasen angefangen, Skulpturen, Kisten, Gemälde und Geschirr bis hin zu sperrigen Einrichtungsgegenständen. Es war einer jener Läden, in denen zwar kein Kunde Struktur erkannte, ein Mitarbeiter aber immer genau im Bilde darüber war, wo welcher Gegenstand lag.

„Entschuldigen Sie“, von der Galerie meldete sich eine männliche Stimme. „Bitte, kommen Sie nur“, forderte er sie auf, mit ihrem Bild in der Hand zu ihm nach oben zu kommen. Ohne lange Einleitung erklärte Paula ihm, ihr mitgebrachtes Werk verkaufen zu wollen.

Der Mann in seinen Fünfzigern, mit einem Arbeitskittel bekleidet, entfernte das Leintuch vom Bild, nahm seine Lesebrille aus seiner Brusttasche heraus und setzte sie bedächtig auf die Nase, um es eingehend zu mustern.

„Sind Sie das etwa?“ Er sah ihr kurz und prüfend in die Augen, bevor er die Kasse öffnete und ihr einen anständigen Preis für das Gemälde bezahlte. „Es ist hervorragend“, sagte er dann und hielt die bemalte Leinwand ins Licht, während er lächelnd ihr Abbild betrachtete. „Wer ist denn dieser R.B.?“

„Roman Berger.“ Sie schloss die Augen und war einen kurzen Moment lang wieder seine Muse. Ein derart warmes Gefühl, wie es der verrückte Maler in ihr hervorgerufen hatte, war ihr noch von keinem Mann vermittelt worden. Von den schmeichelnden Komplimenten zehrte sie auch jetzt noch, was sie die Trennung von Steffen leichter verschmerzen ließ.

„Hervorragender Künstler“, nickte der Antiquitätenhändler anerkennend. Paula nahm das Geld und schlenderte wie in Trance in ihre Wohnung zurück. An diesem Tag beschloss sie, ihren Heimatbezirk hinter sich zu lassen.

Der Kunstsammler war fasziniert von der Schönheit der jungen Dame. Jahrelang erfreute er sich selber in seinen eigenen vier Wänden an jenem sinnlichen Porträt, bevor er es eines Tages ins Schaufenster stellte und zum Verkauf freigab.

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22 декабря 2023
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9783827184153
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