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1.1.1Greift Moreno die Katharsis von Freud und Breuer auf?

In den Jahren 1880 und 1881 entdeckte der Wiener Arzt Josef Breuer eine neue Behandlungsmethode, als er die hysterische Störung einer seiner Patientinnen zu heilen versuchte. Ihr Fall wurde später von ihm unter dem Pseudonym Anna O. berichtet (Breuer u. Freud 1895, S. 15–21). Die neuartige Technik, mit der es Breuer gelungen war, ihre Symptomatik zum Abklingen zu bringen, nannte er Katharsis. Für die Namensgebung werden ihm wohl seine Kenntnisse in Altgriechisch und sein Philosophiestudium zupassgekommen se in. Zunächst ließ es Breuer mit der kathartischen Methode bei seinem Erfolg im Fall der Anna O. bewenden. Etwa ein Jahrzehnt später konnte allerdings der Wiener Arzt und Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, sein Interesse daran erneut wecken und ihn dazu bewegen, sie gemeinsam mit ihm zu erforschen. Bereits 1893 präsentierten sie ihre Ergebnisse im Zentralblatt für Neurologie unter dem Titel Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene – vorläufige Mitteilung.9 1895 folgten dann die Studien über Hysterie (s. Breuer u. Freud 1895).

Doch was ist unter der darin beschriebenen kathartischen Methode zu verstehen? Freud erklärte dazu in einem Vortrag, den er am 11. Januar 1893 in der Sitzung des »Wiener med. Club« hielt, dass sie einem der heißesten Wünsche der Menschheit entgegenkomme, nämlich dem Wunsch, etwas zweimal tun zu dürfen. Wenn jemand ein psychisches Trauma erfahren habe und ihm verwehrt gewesen sei, darauf genügend zu reagieren, lasse man ihn bei dieser Behandlungsmethode das Gleiche ein zweites Mal erleben, jetzt aber in Hypnose, und nötige ihn dazu, die Reaktion zu vervollständigen, sich nun des Affekts der Vorstellung zu entledigen, der früher sozusagen eingeklemmt gewesen sei.10

Die kathartische Methode befreit also von Affekten, die eingeklemmt waren, weil nicht genügend auf sie reagiert werden konnte. Das wird nun in Hypnose nachgeholt. Der Betroffene bekommt auf diese Weise eine zweite Chance, seine Reaktion auf den Affekt zu vervollständigen und sich dadurch seiner zu entledigen. Was dabei geschieht, wird deshalb von Breuer und Freud nicht nur Katharsis, sondern auch Abreaktion genannt (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 179). Beide vergleichen es metaphorisch mit dem Aufschließen einer versperrten Türe (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 212).

Im Fall Barbara geschah im Prinzip das Gleiche. Nur ereignete sich die Abreaktion dort nicht auf einer Bühne in der Innenwelt, zu der die Hypnose Zugang verschaffte. Vielmehr stand eine solche hier in der Außenwelt des Stegreiftheaters. Wo auch immer die Bühne verortet sein mag, ihre Bretter bedeuten jedenfalls eine Welt, 11 in der eingeklemmte Affekte – Moreno spricht von Konfliktsituation en – auf eine unschädliche Weise abreagiert bzw. ausgespielt und ausgelebt werden können. Dadurch gelinge es, so auch der Psychodramatiker Eberhard Scheiffele, sich von nicht ausgedrückten Emotion en zu befreien, ohne befürchten zu müssen, andere hiermit zu verletzen (vgl. Scheiffele 2008, p. 152). Das Betreten der Bühne öffnet, um im Bild von Breuer und Freud zu bleiben, sozusagen eine versperrte Tür, um sich »einen der heißesten Wünsche der Menschheit« zu erfüllen, nämlich den, »etwas zweimal tun zu dürfen« und jetzt »die Reaktion zu vervollständigen« (Freud u. Breuer 1925a, S. 11). Als Freud seiner Zuhörerschaft am 11. Januar 1893 die kathartische Methode erklärte, war Moreno nicht einmal vier Jahre alt. Die Entwicklung seines Psychodramas lag noch vor ihm. Später wird er dessen Effekt als eine wahnsinnige Passion beschreiben, eine Aufrollung des Lebens im Schein, die nicht wie ein Leidensweg wirke, sondern den Satz bestätige, dass jedes wahre zweite Mal die Befreiung vom ersten sei (vgl. Moreno 1988, S. 89; vgl. Moreno 1924, S. 77).

Die Übereinstimmung mit den von Freud gewählten Worten ist verblüffend. Beide reden davon, dass etwas ein zweites Mal erlebt werde und dadurch befreiend wirke. Und es gibt noch einen weiteren Punkt, in dem Moreno und Freud konform gehen: die Bewertung des Effekts der Katharsis. So wenden Breuer und Freud in ihren Publikationen zur kathartischen Methodee inschränkend ein, dass diese nur vorübergehend entlaste, weil sie die Bedingungen unbeeinflusst lasse, die den eingeklemmten Affekt en ursächlich zugrunde lägen. Sie wirke symptomatisch, aber nicht kausal. Anstelle der beseitigten Symptome könnten folglich wieder neue entstehen (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 186; 1925a, S. 24). Auch Moreno sieht in der Katharsis keinen kurativen Behandlungserfolg, sondern lediglich »eine vorbeugende Maßnahme gegen das ›irrationale Handeln‹ im Leben selbst« (Moreno 1988, S. 60; vgl. Moreno a. Moreno 1959, p. 98).

Der Vergleich macht es deutlich: Moreno hat mit seinem Katharsisbegriff auf die Wortbedeutung bei Breuer und Freud zurückgegriffen. Ganz in ihrem Sinne versteht er sie als ein Ausspielen, ein aktives und strukturiertes Ausleben, das zwar nur vorübergehend, nichtsdestotrotz sehr effektiv von Affekt en befreit, die zu irrationalem Handeln führen können. Doch das ist nicht das Einzige, wozu Morenos Katharsis in der Lage ist …

1.1.2Morenos Katharsis geht über die von Breuer und Freud hinaus

In Morenos Psychodrama soll sich die Katharsis keineswegs auf die Abreaktion beschränken. Sie bedeutet hier weit mehr, als sich einiger Affekte zu entledigen. Wäre das nämlich ihr alleiniger Gewinn, bestünde darin, so Moreno, auch eine Gefahr. Denn die Abreaktion trüge nicht dazu bei, Symptome zu heilen. Allenfalls würden sie in ihrer Ausprägung gelindert, blieben aber grundsätzlich erhalten, oft sogar hartnäckiger als zuvor.12 Daher erschöpfe sich, wie die Psychodramatiker Christoph Hutter und Helmut Schwehm erklären, die Katharsis bei Moreno nicht in der Abreaktion (vgl. Hutter u. Schwehm 2012, S. 160). Hier geschehe deutlich mehr. So bestätigt es auch der Psychodramatiker Eberhard Scheiffele. Vorrangiges Ziel der Katharsis in Morenos Psychodrama sei nicht, bestimmte Affekte, sondern eher Blockaden und Hemmungen loszuwerden (vgl. Scheiffele 2008, p. 111). Genau dazu befähigt dort der Schein der Bühne. Er gewähre die Freiheit des Ausdrucks, erlaube, frei zu handeln, wie es einem gerade in den Sinn komme, so Moreno (vgl. Moreno 1988, S. 78). Hier könne man alles Hinderliche – veraltete Vorstellungen und Gewohnheiten, Konditionierungen oder Rollen – hinter sich zurücklassen (vgl. Moreno 1947, p. 66; vgl. Scheiffele 2008, p. 64) und stattdessen volle und ungehemmte schöpferische Spontaneität erfahren (vgl. Moreno 1946a, p. 111; 1988, S. 78). Denn nicht Schnelligkeit oder gar Impulsivität charakterisieren bei Moreno die Spontaneität (vgl. Moreno et al. 2000, p. 12), wie es die Wortbedeutung von spontan – »aus eigenem Antrieb« – nahelegen könnte. Vielmehr erkennt er in ihr die Bereitschaft (vgl. Moreno 1946a, p. 85, 111), frei zu handeln, alte, ausgetretene Pfade verlassen und angemessene Antworten auf neue Situationen bzw. neue Antworten auf alte Situationen finden zu können (vgl. Moreno 1946a, p. XII, 50; 1953, p. 42; 1988, S. 34). Im Erleben seiner vollen und ungehemmten schöpferischen Spontaneität habe das eigene Ich, wie Moreno erklärt, die Gelegenheit, sich zu finden und wieder zu ordnen, die Elemente zusammenzusetzen, die durch tückische Kräfte auseinandergehalten waren, sie zu einem Ganzen zu fügen und ein Gefühl von Macht und Erleichterung zu gewinnen, eine Katharsis der Integration, eine Reinigung durch Vervollständigung (vgl. Moreno 1988, S. 83; 1950, p. 4). Sie bereichere das eigene Leben, alles, was man getan habe und tue, um den Aspekt des Schöpfers (vgl. Moreno 1988, S. 89).

Deshalb spricht Moreno auch von kreativer Katharsis (vgl. Buer 2010, S. 50). Sie vervollständigt, indem sie sämtliche kreativen Kräfte schöpferisch wirksam werden lässt, auch solche, die im Leben draußen blockiert waren (vgl. Leutz 1974, S. 141). Nichts muss mehr zurückgehalten werden. Alles darf kreativ Gestalt annehmen. Der Schein der Bühne werde, so Moreno, zur Entfesselung des Lebens (vgl. Moreno 1924, S. 77 f.; 1988, S. 89) oder, wie es an anderer Stelle bei ihm heißt, zu einer »totalen Inszenierung des Lebens«.13 Kein Weg ist hier versperrt. Jeder kann sich hier schöpferisch ganz erleben. Moreno spricht von Reinigung durch Vervollständigung (Moreno 1988, S. 83). Wir könnten auch Heilung dazu sagen. Von der Wortbedeutung her ist Heilung nämlich als ein »Ganz-Werden« zu verstehen. Doch Moreno geht sogar darüber noch hinaus. Für ihn heißt »Ganz-Werden« zugleich »Gott-Werden«. Denn in Gott sei alle Spontaneität Kreativität geworden (vgl. Moreno 1953, p. 39). Der Mensch erfährt also bei More no mit der Katharsis durch Vervollständigung nicht nur Heilung, sondern geradezu Vergöttlichung. So lässt sich auch sein Ausspruch verstehen, dass er täglich Gottes Komödiant werde, um im Wahn himmlischen Lebens Gott zu sein (Moreno 1919, S. 49) – ein Gedanke, der auf uns vielleicht etwas befremdlich wirken mag, für jemanden wie Moreno, der aus der jüdischen Tradition der Chassidim stammte (vgl. Geisler 1 989, S. 45), jedoch völlig natürlich war. Denn der jüdische Mensch gelte dort gerade deshalb als Ebenbild Gottes, so die Psychodramatikerin Friedel Geisler, weil er die Welt »gottgleich« kreativ und spontan schöpferisch gestalte (vgl. Geisler 1989, S. 55).

Ein solches »Gott-Werden« verändert die Perspektive. Und das wirkt sich zweifellos auf den »Gott-Gewordenen« aus. Wie genau, erklärt Moreno so: Auch beim zweiten Mal im Psychodrama werde – zum Schein – gesprochen, gegessen, getrunken, gezeugt, geschlafen, gewacht, geschrieben, gestritten, gekämpft, erworben, verloren, gestorben. Doch derselbe Schmerz wirke auf Spieler und Zuschauer nicht mehr als Schmerz, dieselbe Begierde nicht mehr als Begierde, derselbe Gedanke nicht mehr als Gedanke, sondern schmerzlos, bewusstseinslos, gedankenlos, todlos (vgl. Moreno 1924, S. 75–78; 1988, S. 89). Wenn jetzt alles möglich sei, dann sind die einstigen Qualen gegenstandslos geworden, wirken nun sogar lächerlich. Daher bringe, wie Moreno ergänzt, das erste Mal durch ein solches zweites Mal zum Lachen. Jede Gestalt aus Sein werde durch sich selbst in Schein aufgehoben und Sein und Schein gingen in einem Lachen unter (vgl. Moreno 1924, S. 75–78; 1988, S. 89). Dies sei das wahre zweite Mal, was vom ersten befreie (vgl. Moreno 1924, S. 77; 1988, S. 89). Jenes wahre zweite Mal kann allerdings nur vom ersten befreien, wenn es auf der Bühne des Psychodramas in einer besonderen Realität stattfindet.

1.1.3Surplus Reality ist notwendig für Morenos Katharsis

Der Schein der Bühne soll dazu befähigen, frei zu handeln, wie es einem gerade in den Sinn kommt, ohne dafür ernsthafte Folgen tragen zu müssen (vgl. Moreno 1988, S. 78). Eines ist klar: Unsere Alltags realität kann hier kaum gemeint sein. Jene Realität, die Moreno für sein Psychodrama fordert, sprengt zweifellos ihren Rahmen, geht weit über sie hinaus. Deshalb gab er ihr wohl auch den Namen surplus reality. Das Wort surplus wurde von ihm nämlich in Anlehnung an den Begriff des Mehrwertes – engl. surplus value – bei Karl Marx verwendet (vgl. Moreno 1965, p. 212). Danach würde Surplus Reality so etwas wie »Mehrwert-Realität « bedeuten. Moreno selbst übersetzt sie in seinem Werk Gruppenpsychotherapie und Psychodrama mit »Überschuss-Realität « (vgl. Moreno 1988, S. 83). Leider hat er nur wenig zu ihr geschrieben. Angesichts der zentralen Bedeutung, die die Surplus Reality für sein Psychodrama hat, mag das durchaus überraschen (vgl. Moreno et al. 2000, p. ix; vgl. Watersong 2011, p. 18). Fügen wir zusammen, was über sie in Morenos Schriften zu finden ist, dann soll sie den Menschen mit einem »Mehr« an Realität versehen, als ihm das Leben erlaubt (vgl. Moreno 1988, S. 93), ihm eine neue, erweiterte Erfahrung von Wirklichkeit vermitteln (vgl. Moreno 1950, p. 4; 1988, S. 83). Denn Realität und Fantasie stünden hier nicht in Konflikt (vgl. Moreno 1946a, p. a.; 1946b, p. 249; 1953, p. 82), ganz im Gegenteil: In der Surplus Reality werde die Imagination zur Realität der Bühne (vgl. Moreno 1965, p. 212; vgl. Watersong 2011, p. 18). So beschreibt sie auch Morenos dritte Ehefrau – Zerka Toeman Moreno (vgl. Moreno et al. 2000, pp. 1 f., 20) –, die die Arbeit ihres Mannes über Jahrzehnte als Co-Therapeutin und Mitautorin begleitete. Ergänzend fügt sie hinzu, dass die Surplus Reality die Darstellung jener Dimensionen, Rollen, Szenen und Interaktionen erlaube, die das Leben weder zulassen konnte noch kann und die es vermutlich auch in Zukunft nicht gestatten wird (vgl. Moreno 1979, S. 33; vgl. Moreno et al. 2000, p. 5). Geschehe dies, bewirke das sog ar die tiefste Form der Katharsis (vgl. Moreno et al. 2000, p. 18).

Die Surplus Reality gestaltet sich also offenbar getreu dem Motto »anything goes«. Ein wenig mag das an die Methode des Brainstormings zur Ideenfindung erinnern. Nur dass diese hier nicht gedanklich in den Raum gestellt, sondern bereits in die Tat umgesetzt präsentiert werden. Doch Vorsicht …

1.1.4Schein ist nicht gleich Sein

Was im Schein der Bühne funktioniert, muss im Leben draußen keineswegs gelingen. Das »anything goes« mag für die Surplus Reality des Psychodramas gelten. Anzunehmen, dass es auch auf die äußere Realität zutrifft, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Auch das Brainstorming kreiert zunächst ein Feuerwerk an mitunter tatsächlich recht abstrusen Ideen, von denen dann einige wirklich in die Lage versetzen können, ein real gegebenes Problem zu lösen. Diese herauszufinden, ist ja gerade Sinn und Zweck der Übung. Doch nicht jede der dabei aufkommenden Ideen stellt sich hernach als erfolgreiche Strategie heraus. Das trifft auch auf die kreativen Lösungswege in Morenos Psychodrama zu. Um diejenigen auszumachen, die sich angemessen in die äußere Realität implementieren lassen, bedarf es der Realitätsprobe (vgl. Leutz 1974, S. 78). Wird auf sie verzichtet, besteht die Gefahr, dass wir mit den Lösungsmöglichkeiten der Surplus Reality im Leben draußen gehörig auf die Nase fallen. Eine schmerzliche Erfahrung, die Moreno bereits im Alter von viereinhalb Jahren machte.

Damals habe er mit Nachbarskindern im Keller seines Elternhauses Gott und Engel spielen wollen. Alle hätten sie gemeinsam Stühle zusammengetragen und diese auf einen großen Tisch bis knapp unter die Kellerdecke getürmt. Er habe in dem Spiel Gott sein wollen. Die anderen hätten ihm dabei geholfen, auf den obersten Stuhl zu klettern und dort Platz zu nehmen. Singend seien sie dann um den Tisch gelaufen, ihre Arme wie Flügel um sich schlagend. Plötzlich sei von einem der Kinder die Frage an ihn gerichtet worden, warum er selbst nicht flöge. Moreno habe daraufhin seine Arme ausgebreitet und sich nur einen Augenblick später mit einem gebrochenen rechten Handgelenk auf dem Boden wiedergefunden (vgl. Moreno 1946a, p. 2).

Eindrücklich führt uns diese Geschichte die Bedeutung der Realitätsprobe vor Augen. In der Surplus Reality lassen sich spontan kreative Lösungswege ausprobieren, von denen der eine oder andere sogar geeignet sein mag, erfolgreich in der äußeren Realität umgesetzt zu werden. Dies aber bedarf stets der Überprüfung. Werden die gefundenen Lösungswege kritiklos auf das Leben draußen übertragen, besteht die Gefahr, kläglich mit ihnen zu scheitern, sich gar mehr Probleme einzuhandeln, als vorher bestanden.

Und einen weiteren Stolperstein gilt es zu umgehen. Moreno war sich dessen Existenz durchaus bewusst. Zwar steht bei ihm die integrative Katharsis zweifellos im Vordergrund. Daneben kommt in seinem Psychodrama allerdings weiterhin auch die Abreaktion vor (vgl. Masserman a. Moreno 1960, p. 19 f.; vgl. Krüger 1997, S. 74 f.; vgl. Hutter u. Schehm 2012, S. 160). Hierbei führt Handeln zur Entladung angestauter Affekte (siehe Abschnitt 1.1.1). Von einer solchen Abreaktionskatharsis14 in einer Psychodrama-Sitzung, die nach Morenos Tod an seinem Schaffensort in Beacon, im Staat New York, stattfand, berichtet der Arzt und Psychologe Andreas Ploeger.

Ein 35-jähriger Arzt hätte dort beklagt, sich in der Schule von seiner Lehrerin ungerecht behandelt und gegenüber seinen Mitschülern zurückgesetzt gefühlt zu haben. Daraufhin wären Szenen aus seiner Schulzeit auf die Bühne gebracht worden. Sie hätten ihm deutlich gemacht, dass es nicht die Lehrerin war, die ihn zurückgewiesen hatte. Er hatte sie nur wie seine Mutter erlebt, die ihm die Geschwister ständig vorgezogen und ihn hintangestellt hatte. Auch diese Kränkungen wären in Szene gesetzt worden. Dabei hätten sich die anderen Gruppenteilnehmer vorbehaltlos auf seine Seite gestellt und den Jungen in seiner Wut auf die Mutter bestärkt. Dann wäre er aufgefordert worden, sich die Mutter vor der eigens dafür präparierten rückwärtigen Wand des Bühnenraumes vorzustellen, um an ihr nun seine angestauten Aggression en abzulassen. Ermutigt durch die Zurufe der Leiterin und der anderen Teilnehmer, hätte er dieser dann bis zur Erschöpfung wüste Beschimpfungen sowie eigens dort für solche Aktionen bereitgehaltene verbeulte Bleche entgegengeschleudert. Am Ende der Sitzung hätten alle Beteiligten das Wohlgefühl geteilt, »reinen Tisch« gemacht zu haben (vgl. Ploeger 1983, S. 33).

Dieses Fallbeispiel von Ploeger illustriert prägnant, welch zweischneidiges Schwert die Abreaktionskatharsis tatsächlich ist. Einerseits gelingt es mit ihr sehr erfolgreich, Dampf abgelassen. Das wirkt zunächst einmal erleichternd – und zwar nicht nur für den, der sein Thema eingebracht hat, sondern auch für die anderen. Ploeger vergleicht das Gefühl, das sich hernach zumeist bei allen einstelle, mit der Zufriedenheit einer siegreichen Sportmannschaft (vgl. Ploeger 1983, S. 34; 1990, S. 95 f.).

Andererseits werden die angestauten Affekte in der Abreaktionskatharsis nur ausagiert. Damit verhindert sie leider nicht, dass sich künftig wieder neuer Druck aufbaut. Dazu müsste es ihr gelingen, an dessen Entstehungsbedingungen anzusetzen und diese zu bearbeiten (vgl. Ploeger 1983, S. 33). Das jedoch bleibt außen vor. Die daraus resultierende Gefahr sei, so Ploeger, offenkundig: Der Konflikt zwischen dem Klienten und seinen Bezugspersonen werde geschürt anstatt gelöst, die Front unnachgiebig verhärtet anstatt infrage gestellt, der Klient einseitig gegen seine Angehörigen gestärkt (vgl. Ploeger 1983, S. 32; 1990, S. 94). So kommt am Ende einer solchen Sitzung zu Recht die Frage auf, wie der Klient denn wohl in Zukunft mit jenen umgehen wird, an denen er soeben seine Affekte derart heftig abreagiert hat (vgl. Ploeger 1983, S. 32 f.; vgl. Scheiffele 2008, S. 152). Ein Problem, das Moreno schon erkannt hatte (siehe Abschnitt 1.1.1). Auch für ihn trug die Abreaktion nicht dazu bei, Symptome zu heilen. Sie würden allenfalls in ihrer Ausprägung gelindert, blieben aber grundsätzlich erhalten, oft sogar hartnäckiger als zuvor (vgl. Moreno 1950, p. 9). Aus diesem Grund wandte sich Freud später selbst von dieser Form der Katharsis ab. Sie wirkte eben nur symptomatisch, nicht kausal. Die Bedingungen, die den eingeklemmten Affekt en ursächlich zugrunde lägen, blieben unbeeinflusst (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 186; 1925a, S. 24).

Freud war nicht der Einzige, der andere Wege einschlug, nachdem er die Abreaktionskatharsis eine Weile praktiziert hatte. Auch Ploeger machte zunächst Erfahrungen mit ihr. Allerdings wendete er dabei keine Hypnose an, wie Breuer und Freud es noch getan hatten. Ploeger war am Psychodrama interessiert. Erste Gehversuche auf diesem Terrain machte er ab 1961 an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen im Rahmen der dortigen stationären Psychotherapie. Seitdem ließ ihn das Psychodrama nicht mehr los. Mit seinem Wechsel an die RWTH Aachen setzte er es ab 1969 als Oberarzt der Abteilung für Psychiatrie und von 1977 bis zu seiner Emeritierung als Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Medizinische Psychologie ein. Wie Ploeger erklärt (vgl. Ploeger 1979, S. 841; 1983, S. 15), hättener und seine Mitarbeiter anfangs in Tübingen versucht, biografische Begebenheiten eines der Klienten der Therapiegruppe im Stegreifspiel zu reproduzieren und auf diese Weise die damit einhergehenden Konflikte zu entschärfen. Die Wirkweise sei die Katharsis, also die entlastende Abreaktion emotional-affektiver Stauungen gewesen, die der Betreffende im Leben draußen, aus welchen äußeren oder inneren Gründen auch immer, nicht zu entladen vermochte. Hierzu sei er erst durch die beschützende Scheinwelt des Psychodramas befähigt worden. Denn diese Welt habe ihn vor ernsthaften Bedrohungen bewahrt, die sich sonst bei affektiven Entladung en im Leben außerhalb der Therapie einzustellen pflegten. Bis hierher wären sie noch ganz Moreno gefolgt. Aber dann hätten sie sich dazu veranlasst gesehen, neue Wege zu beschreiten. Die Wende in ihrer Psychodrama -Technik habe ungewollt der Psychoanalytiker Wolfgang Loch herbeigeführt (vgl. Ploeger 1983, S. 10). Loch war damals Inhaber des ersten Lehrstuhls für Psychoanalyse und Psychotherapie in Deutschland. Diesen hatte man eigens für ihn an der Universität Tübingen eingerichtet. Seinerzeit seien von ihm, so Ploeger weiter, Balint-Gruppen15 für Mitarbeiter durchgeführt worden. Die Anregungen, welche er ihnen dort gegeben habe, hätten sie gelehrt, das Psychodrama aus der Sicht der Psychoanalyse zu beurteilen. Noch in Tübingen hätten sie deshalb damit begonnen, es grundlegend umzugestalten. Diese Ve ränderungen seien dann später an der RWTH Aachen fortentwickelt worden (vgl. Ploeger 1983, S. 10, 15).

Nun ist Moreno ebenfalls mit der psychoanalytischen Sichtweise konfrontiert worden. Freud kannte er sogar persönlich, weil er einmal dessen Vorlesung besucht hatte (vgl. Moreno, Moreno a. Moreno 1964, pp. 16 f.). Dieser verabschiedete damals jeden einzelnen seiner Hörer persönlich an der Türe und nutzte dabei die Gelegenheit, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln (vgl. Schur 1973, S. 9). Dabei soll er Moreno gefragt haben, was er mache, was seine beruflichen Interessen seien. Moreno habe ihm geantwortet:

»Nun, Dr. Freud, ich beginne, wo Sie aufhören … Sie analysieren die Träume (der Menschen). Ich gebe ihnen den Mut, wieder zu träumen. Ich lehre sie, wie sie Gott spielen können« (vgl. Moreno 1946a, pp. 5 f.; vgl. Hutter u. Schwehm 2012, S. 96).

Das klingt nun nicht gerade so, als ob Moreno damals bereit gewesen wäre, sich auf Freuds Sichtweisen einzulassen oder diese gar in sein Psychodrama zu integrieren.

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9783849782672
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