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Berlin-Dahlem – Herbst 1957

Herbert sitzt wieder vor seiner Schreibmaschine, starrt auf die Worte auf dem Papier:

»War es wirklich so einfach? Dachte Heiner nur zu viel nach und standen seine neuerlichen Ängste aus der Vergangenheit seiner unbeschwerten Zukunft mit einer wunderbaren Frau im Weg?«

Nicht einmal die Stricksocken können Herberts Füße wärmen, der Tee ist ohnehin auch schon kalt geworden. Der Aschenbecher schon wieder voll, der Rauch dutzender Zigaretten hängt im Arbeitszimmer. Aarons federnde Schritte, die einen leicht schleppenden Eindruck hinterlassen, beleben das Haus. Wie bekomme ich ein erträgliches Ende hin? Die Schultern werden nach unten fallen gelassen. Herbert lässt den Kopf kreisen. Wieder zündet er sich eine Zigarette an, er wollte das Rauchen reduzieren, doch die Einsamkeit frisst ihn auf. Heiners Unterbewusstsein schien die Antwort auf diese Fragen zu kennen, denn plötzlich breitete sich ein wohlig warmes Gefühl in seiner Brust aus und eine Last schien von seinen Schultern zu fallen. Herbert quält sich, er muss nach Worten suchen, findet sie dann belanglos und tippt sie dennoch in seine alte Schreibmaschine, liest das gerade Entworfene, kratzt sich den Kopf, verzieht sein Gesicht, zieht ein fertig beschriebenes Blatt aus der Maschine, legt ein neues ein.

Da war dieses Interview in der Provinz gewesen, ein Reporter, der ihn in die Mangel nehmen wollte – »Sie verstehen sich also als Schriftsteller, ja?« – ihn vorführen – »Na ja, Ihre Leserschaft ist wohl auch liebreizend ...« – um seine Arbeit bloßzustellen – »und wenig gebildet?« – Das war nicht schwer, keiner wusste besser als Herbert, dass seine Bücher nicht zum Pulitzer-Preis taugten. Jedes Wort glich einer Ohrfeige, das Gefühl, zum Schafott geführt zu werden, tauchte vor seinem inneren Auge auf. Die Beleidigungen nahmen kein Ende: »Nun, mir kommen die heutigen Schriftsteller alle sehr weich gespült vor, wissen Sie. Es gibt einige Ausnahmen, zum Beispiel Böll, Grass, Max Frisch. Haben Sie je etwas von Thomas, Heinrich, Klaus oder gar von Golo Mann gelesen?« Sprachlosigkeit lähmte ihn, seine Kehle war wie zugeschnürt. Eine Faust machte sich sekundenschnell in seinem Gesicht breit, hinterließ keine Spuren. Er schrieb für Frauen im mittleren Alter, seichte Geschichten, ohne besondere Tiefe, aber wer verlangte im Moment danach? Seine Bücher ähnelten den buntkitschigen Heimatfilmen, welche landab und landauf über die Leinwände flimmerten. Kulissen mit schönsten Farbaufnahmen von den Bergen Deutschlands und Österreichs. Auch Seeblick wurde alternativ gezeigt, selbst die Lüneburger Heide kam nicht zu kurz. Es war so einfach, die Republik zu beglücken. Eine der wenigen Ausnahmen war »Die Sünderin« mit Hildegard Knef. Der Film behandelte Prostitution und Selbstmord und Hildegard Knef wurde nach der Premiere zum Freiwild. Kirchen, Verbände und Moralapostel glaubten, sich ereifern zu dürfen. Menschen demonstrierten vor den Lichtspiel-Theatern, wollten die Aufführung verhindern. Hildegard Knef gab Interviews, bei einem wurde es ihr zu bunt, die Moral waberte, machte sich breit, alle sollten ein biederes Leben führen, über Sexualität wurde seit der Weimarer Republik nicht mehr geredet. Da saß sie also, aufrecht, gerade, zog an ihrer amerikanischen Zigarette, inhalierte tief, blies aggressiv den Rauch heraus. – »Gibt es tatsächlich, sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, keine wichtigeren moralischen Themen zu diskutieren als die vermeintliche Sittenlosigkeit der ›Sünderin‹?« – In diesem Moment, so wurde danach berichtet, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Also ist es zur Mode geworden, Reales außen vor zu lassen. Die Menschen wollen essen, wenn möglich reisen, sie sparen auf Möbel oder einen Fernseher, der Volkswagen steht natürlich auch auf der Wunschliste. Nur nicht erinnert werden an vergangene Zeiten. Schwamm drüber. Und so schlimm war das Ganze doch auch wieder nicht. Herbert suchte eine Antwort auf die Fragen des Reporters. Dieser saß lauernd in einem Sessel, an seiner Pfeife ziehend, tief einatmend, verströmte er einen wohligen Vanillegeruch. Genüsslich umschlossen breite, blaurote Lippen, auf der oberen befand sich eine dunkelbraune Warze, das Mundstück. Einen alten Rollkragenpullover, der, zu eng, seine dicke Brust betonte, trug der Wichtigtuer. Herbert überlegte, das Interview auf die Spitze zu treiben. Eine filterlose Zigarette wurde in die schwarze Spitze gesteckt, ein süffisantes Lächeln aus dem Hosenbund in das Gesicht gezaubert. Unmerklich drückte Herbert seinen Rücken durch: »Wissen Sie, das Wichtigste beim Schreiben ist der Rotwein, gleich neben meinem Schreibtisch stehen immer mehrere Flaschen, diese werden von meiner Geliebten entkorkt und sobald mir nichts mehr einfällt, mache ich es mir mit meiner Brünetten gemütlich, na, Sie wissen ja, wie wir Künstler so sind, wenn ich mich so bezeichnen darf?« Der Reporter wurde mit Klischees mundtot gemacht. Niemand in Berlin würde sich je für das Interview hier im Kaff interessieren. Der Fragensteller fühlte sich nicht ernst genommen und wiederholte immer wieder: »So können Sie doch nicht auf meine Fragen antworten!« – »Oh doch, es ist nun mal die Wahrheit.« Herbert verließ die Redaktion. Aaron wartete vor dem Wagen. Er öffnete den hinteren Wagenschlag. Belustigt ließ sich ein Kitschromanautor in den Fond fallen.

Ablenkung suchte er, um nicht ein Wort weiter schreiben zu müssen. Sollte er die Ideen anderer Schriftsteller kopieren oder einfach eine neue Geschichte aus seinen alten Büchern zusammenschustern?

»Lauf niemals wieder vor mir fort!«, warnte er sie eindringlich. »Die letzte Nacht war die schlimmste meines Lebens.«

»Nie wieder mache ich so etwas Dummes.«

Sie lehnte sich an seine starke Brust und wusste sich von nun an in Sicherheit.

Der letzte Satz seines neuen Romans ist geschrieben, um das Lektorat und alles andere kümmert sich der Verlag. Wie konnte er nur so ein unbedeutender Schriftsteller von Liebesromanen werden? Nun, er wollte Geld verdienen, viel Geld, das war als Reporter nicht möglich. Die Menschen sehnten sich nach dem Krieg nach seichten Liebesgeschichten, die nur ein Happy End zuließen. Er las jeden der neuen Liebesromane, auch die des neunzehnten Jahrhunderts interessierten ihn, dabei schaute er sich die Struktur der Geschichten an. Er entwarf Biographien für seine Protagonisten, dann kreierte er die passende Umgebung, letztendlich wurde eine junge Frau immer von ihrem Traummann befreit, und das in den unterschiedlichsten Konstellationen.

Aaron machte sich mit dem ersten Manuskript auf der Suche nach einem Verlag, er ließ sich von Zurückweisungen nicht entmutigen und letztendlich wurde er fündig.

Familienlügen an einem Sonntag – Frühling 1927

Der Sonntag verspricht, ein Familientag zu werden. Aaron wird sich an der Ostsee in der Sonne aalen, denkt Herbert in Berlin, während er den Tag mit der Familie verbringen wird. Er schlendert in der Pyjamahose über den Flur mit seinen abgezogenen Dielen und den Teppichen darauf. Der Schlüssel wird ins Schloss gesteckt und noch ehe die Wohnungstür geöffnet wird, ist das Gekläffe des Hundes schon im ganzen Haus zu hören. Komisch, dass sich bisher noch nie einer der Nachbarn beschwert hat – Tante Klara ist wie immer zu warm angezogen, hängt ihren gefütterten Sommermantel auf, streift die Schnürschuhe von den Füßen. Sie hat Schrippen gekauft, wie jeden Sonntag, und setzt schon den Wasserkessel auf den Herd.

Zehn Minuten später sitzen die beiden am reichlich gedeckten Frühstückstisch, Herbert halbnackt. Noch immer kläfft der Hund. Tante Klara redet ununterbrochen. Sie steht auf, öffnet das Fenster, um Luft herein zu lassen, setzt sich, kleckst Marmelade auf ihre Schrippe, steht auf, dreht den Gasherd auf, stellt eine Pfanne darauf. Herbert braucht gar nicht zu erwähnen, dass sie dieses Mal kein Rührei für ihn bereiten muss. Sie kommt zurück zum Tisch, nimmt einen Schluck vom Kaffee, wendet sich gut gelaunt wieder dem Ei zu. Herbert rührt mit dem Löffel in seinem Kaffee, der Hund nervt ihn. Das Rührei wird auf seinen Teller gekippt. Zwei Eier, geschätzte 100 Gramm Butter, kein Wunder, dass ihm jeden Sonntagmorgen der Appetit vergeht. Sein Vater wird heute erscheinen, dieser Tag verspricht nichts Gutes. Tötungsarten für den Köter gehen ihm durch den Kopf, er würde human vorgehen, so ein Hund ist auch ein Lebewesen. Man könnte ihn sich überfressen lassen, bis er platzt – Herbert grinst.

»Nichts geht über einen gemütlichen Sonntagmorgen ...«, Klara, wieder am Tisch sitzend, »nicht wahr, mein Lieber?«. Herzhaft beißt sie ein weiteres Mal in ihre Schrippe. »Und, freust du dich, deinen Vater heute zu sehen?« Tante Klaras Gesicht strahlt, im Moment kann ihr keiner den Tag madigmachen. »Wie wollen wir den Tag verbringen? Hast du dir etwas überlegt? Natürlich gibt es am Abend Spargel, ausgelassene Butter ... oder lieber Sauce Hollandaise? Das wird ein Fest, nee wirklich, ich freu mich so!«

»Tantchen ... vielleicht können wir in den Botanischen Garten gehen. Mir reicht Butter auf dem Spargel, aber Vati will auch gefragt werden, wir werden nicht einfach über seinen Kopf hinweg entscheiden können. Du weißt ja, wie er am liebsten bequem auf dem Sofa sitzt und nichts weiter tut, als seine Bibel zu studieren.«

»Ach ja, der Eddy war schon immer ein bisschen sonderbar, immer saß er auf der Ofenbank, mit der Nase in der Bibel vertieft hat er die Welt um sich herum vergessen, während wir über die Felder liefen, die Äpfel von dem Bäumen pflückten, im See schwimmen gelernt haben. Und das Unterrichten an der Dorfschule, das kann doch einen Mann nicht ausfüllen, aus seinen Schülern kann sowieso nichts Vernünftiges werden ... Ich frage mich, warum er nicht zu uns nach Berlin gekommen ist? Ich habe das doch auch getan, und sieh, was aus mir geworden ist.«

Herbert enthält sich eines Kommentars, beißt in seine dick mit Butter und Marmelade bestrichene Schrippe. Tante Klara holt groß aus und niemand hält sie auf.

»Als deine Mutter gestorben war, boten wir ihm an, mit dir hier in Berlin zu leben, vorerst hätte ich mich um dich gekümmert, arbeiten brauchte ich ja nie, so wie es die Arbeiterfrauen müssen oder die jungen Frauen es auf einmal wollen. Frau Martern hat mir erzählt, dass ihre Nichte sogar Architektur studiert. Zeiten sind das heutzutage! Gott sei Dank hat der Gustav immer gut verdient.« Sie schaut sich im Esszimmer um, es scheint, als wolle sie den soeben ausgesprochenen Satz noch nachklingen hören. »Dein Vater hätte die Chance ergreifen sollen, hier ein neues Leben mit dir zu beginnen. Dein verstorbener Onkel kannte einflussreiche, wichtige Leute, er wäre als Fürsprecher aufgetreten, was meinst du, was alles möglich ist, wenn man Menschen kennt, aber der Eddy wollte ja unbedingt in diesem Nest bleiben. Ich glaube, für dich wäre es erst recht gut gewesen, bei einer liebenden Mutter aufzuwachsen. Wir hätten es uns gut gehen lassen, nicht wahr?«

»Du bist meine Tante.«

»Ach, du weißt doch, was ich meine. Ich denke oft daran zurück, wir besuchten euch, natürlich gab es nur trockenen Kuchen, von einer alten, kurzsichtigen, dicken Landfrau gebacken, der ständig die Nase lief. Wer weiß, was die alles in den Teig getan hat. Ich hab dich immer in meine Arme schließen müssen, du wolltest gar nicht, dass ich dich wieder loslasse.«

»Tatsächlich? Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Wirklich nicht? Und dann dieser Kirchenkram! Nein, mein Junge. Heiligabend, Ostern, Pfingsten, na gut, aber doch nicht jeden Sonntag in die Kirche latschen. In meinen Augen kann so etwas nur schädlich sein.«

»Ich hatte auch meine guten Zeiten in der Kirchengemeinde. Ich habe noch immer den Weihrauchgeruch in der Nase. Und du musst zugeben, die Katholiken halten einen ehrfürchtigen Gottesdienst. Nur glauben konnte ich ihnen irgendwann nicht mehr.« Herberts Gesicht scheint Erinnerungen wahrzunehmen.

»Dein Vater hat ein Recht, zu erfahren, wie es um dein Studium steht. Also, wirst du ihm reinen Wein einschenken?« Klara mustert ihn streng über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.

»Tantchen, das geht nicht, es ist zu früh. Vati wird mich enterben!«

»Wenn das alles ist, dann hast du ja nichts zu befürchten.«

Es hat geläutet.

Klara und Herbert sind überrascht, erheben sich. Der Hund hört endlich auf, nach der Wurst vom Tisch zu betteln. Die Beamtenwitwe schaut noch mal schnell in den Garderobenspiegel, bevor sie die Wohnungstür öffnet. Klaras Bruder betritt den Flur.

»War das eine Bahnfahrt, du glaubst gar nicht, wer sich alles auf den Weg in die Hauptstadt macht. Nun ja, wo ist mein Sohn?«

Klara hält ihrem Bruder die Wange hin.

»Vielleicht begrüßt du mich erst einmal, bevor du die Wohnung stürmst ... bist früh dran ... immerhin verpasst du doch sonst nie deinen Gottesdienst ...?« Sie flüstert ihm ans Ohr: »Er ist im Esszimmer ... beim Frühstück«, und dann wieder lauter, »zieh erst mal den Mantel aus ...«

»Nun...«, Eddy kommt Klaras Wunsch nach, hängt sein Mantel auf, dreht sich zu ihr um, »gestern war ich noch in der Dorfschule, heute Morgen im Gebet zu meinem Gott versunken ... du siehst, es ist alles im Lot«, dennoch straft er seine Schwester mit dem üblichen herablassenden Blick, sobald er sich auf den Arm genommen fühlt. Welten prallen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die resolute, praktisch denkende und handelnde Klara und Eddy, der schnell überforderte Dorfschullehrer, der an seinen unumstößlichen christlichen Werten festhält.

Die beiden laufen in die Küche, wo Herbert und sein Vater sich mit einer Umarmung begrüßen.

»Eddy, setz dich. Wir haben noch gar keine richtigen Pläne für den heutigen Tag geschmiedet, dein Sohn hat den Botanischen Garten vorgeschlagen, aber jetzt gibt es erst mal frischen Kaffee.«

»Junge, erzähl doch mal, wie es dir so ergangen ist. Ich weiß so wenig von dir.«

»Ach Vati, da gibt es nicht viel zu erzählen, immer das Gleiche.«

»Dass ich nicht lache: ›immer das Gleiche!‹. Und warum kommst du dann mitten in der Nacht nach Hause?«, fällt Klara in das Gespräch ein.

»Tantchen, du übertreibst ... ich konnte nicht schlafen und da bin ich halt noch mal runter.« Herbert ertappt sich dabei, dass er zu laut und zu aufgeregt reagiert. »Wie geht’s denn so in Hohenfinow?« Er muss das Thema wechseln: »Ist die Trude vom Hagener Hof immer noch scharf auf dich?«

»Herbert, mäßige dich, oder habe ich dich so erzogen?« Ein Vater-Satz, den Herbert immer wieder vor die Füße geworfen bekommt. »Also wirklich ... nach dem Tod deiner Mutter war jede Frau für mich tabu. Deine Wortwahl gibt mir eh zu denken.«

»Soso, und bevor sie das Zeitliche segnete, da warst du wohl kein Kind von Traurigkeit?« Die Schwester grinst.

»Klara, wie kannst du nur? Manchmal frage ich mich, ob Berlin für euch der richtige Ort ist. Nicht mal gedacht habe ich an andere Frauen.«

Klara schenkt Kaffee ein und setzt sich zu den Männern.

»Herbert, also?« Der Vater lässt nicht nach.

Herbert weiß, dass er früher oder später Farbe bekennen muss: »Die Arbeit im Antiquariat macht viel Spaß, ich komme mit vielen Menschen in Kontakt, so etwas kann man ja immer gebrauchen. Natürlich berate ich jeden Kunden individuell, es gibt oft anregende Gespräche, unsere Kundschaft ist sehr gebildet. Und weit fahren muss ich da auch nicht, ich kann dir den Laden ja mal zeigen, ist gleich um die Ecke. Herr Salomon ist sehr zufrieden mit mir.«

»Und das Studium, kommst du gut voran? In deinen Briefen berichtest du mir nie, wie es an der Universität so vor sich geht. Ein Vater will doch wissen, wie sich sein einziger Sohn macht. Theologie ist nicht irgendetwas, du wirst einmal sehr viel Verantwortung übernehmen müssen. Wie sind denn deine Professoren? Sind sie mit dir zufrieden? Vor allem, wenn du Predigten halten wirst, musst du vor den Kommunisten warnen. Kann ja politisch jeder denken, wie er will, aber ohne Gott und seine Herrlichkeit, da sehe ich schwarz.«

Herbert fühlt sich unwohl, nicht nur, weil er noch immer vorgibt, Theologie zu studieren, sondern auch, weil die Bewunderung für seinen verschrobenen Vater längst der Realität gewichen ist. Wie wird sein Vater reagieren, wenn er von seinen politischen Träumen erfährt? Natürlich muss er es ihm irgendwann erzählen, doch bitte noch nicht heute. Der Vater reißt ihn aus seinen Gedanken.

»Sag mal, was hältst du denn so von den Kommunisten? Haben die schon mal versucht, dich von ihren abstrusen Vorstellungen zu überzeugen?«

Herbert verschluckt sich an seinem heißen Kaffee.

»Jetzt reicht es aber mit den Diskussionen!« Zum Glück schaltet Klara sich ein. »Wie werden wir den Tag denn nun verbringen? Was haltet ihr davon, in den Zoo zu gehen, da kann man sich so schön entspannen und bekommt noch jede Menge zu sehen.«

Herbert lächelt seiner Tante dankbar zu.

»Sag mal, Herbert, wie verbringst du eigentlich deine Freizeit?« Eddy holt seine Bonbondose aus der Hosentasche und bietet seinem Sohn ein Lutschbonbon an. »Ich hoffe, du bleibst standhaft. Wer zu etwas Höherem auserkoren ist, so wie du es bist, und daran lasse ich keinen Zweifel aufkommen, der hat ein großartiges, gottgefälliges Leben vor sich und sollte voller Dankbarkeit niederknien und dem Herrn jederzeit zuhören und ihm folgen.« Sein Vater ist in seinem Redeschwall oft nicht zu stoppen, genau wie seine Schwester, was er natürlich weit von sich weisen würde. »Was ich sagen will, ist: Es gibt genug junge Frauen, die einem gestandenen Mann den Kopf verdrehen wollen. Heutzutage haben die ja schon merkwürdige Ideen. Die neueste Mode scheint auf einmal die Selbstbestimmung zu sein. Berufstätig sind sie, einige studieren sogar.« Er glaubt, ihn vor Protestanten, Nudisten, Juden, Frauen, sollten diese nicht als Nonnen ihr Leben verbringen wollen, Alkoholikern, Freidenkern, Gewerkschaftlern, Spiritisten, aber auch Bruderschaften warnen zu müssen. »Auf einer Litfaßsäule habe ich eine Plakatwerbung gesehen und dort rauchte ein blonder ›Vamp‹, so sagt man doch wohl.« Klara beginnt, den Frühstückstisch abzuräumen. »Damit nicht genug, ich will gerade die Straße überqueren, da hupt eine Frau mit ganz kurzen Haaren im Automobil, sodass ich zur Seite springen musste. Ganz ehrlich, so etwas Verrücktes hat die Welt noch nicht gesehen.« Der Vater ist empört und schaut Herbert tief in die Augen: »Also, was sagst du dazu?«

»Ach Vati! Worüber du dir Gedanken machst?« Herbert sucht nach Auswegen, sucht nach Wörtern. »Neben meinem Studium und der Arbeit im Antiquariat bleibt mir doch gar keine Zeit für Frauen ...« Er muss noch mehr auf die Frauen eingehen. »Die Damen hier in Berlin sind halt so ... Bei der holden Weiblichkeit bleibe ich standhaft ... bisher hat mich noch keine rumkriegen können und das wird auch so bleiben.«

»Gehst du denn auch regelmäßig in die Kirche? Du weißt, wie wichtig das ist, um ein ehrfürchtiges christliches Leben zu führen. Ich will doch nur das Beste für dich.«

Herbert fühlt sich wie in einer Klosterzelle, deren Wände bedrohlich auf ihn zu kommen. Der Vater mit seinen gestrigen Ansichten lässt ihn wütend werden.

»Vati, ich bin nicht so ... so, wie du mich haben willst!« Bevor Herbert sich versieht, ist der Satz schon aus ihm heraus, er könnte sich auf die Zunge beißen. Dieses Mal hat er sich aus der Reserve locken lassen. Herbert atmet tief durch, sieht Klara an, sieht in ihrem besorgten Gesicht ihre Befürchtungen, dass er und sein Vater heute aneinandergeraten werden. Herbert hört sie sagen: »Also, seid ihr so weit? Die Sonne scheint, wir werden uns einen schönen Tag machen.«

»Was willst du mir sagen, Herbert? Raus mit der Sprache! Du weißt, ich bin tolerant.«

Das Wort »tolerant« hat Herberts Vater mit ekelverzerrtem Gesicht ausgespuckt. Tausend Speichelbläschen haben dieses Wort begleitet, treffen Herberts Gesicht. Er friert, eisig ist die Stimmung in dem behaglich eingerichteten Esszimmer. Aber dann steigt eine unglaubliche Hitze in ihm auf und löst den Gefrierzustand ab. Er fühlt sich in die Ecke gedrängt. Was kann er tun, wie seinen Vater beruhigen und ihn auf andere Gedanken bringen, wissend, dass er nicht über sich und Aaron sprechen kann und dass für ihn nur das Studium der Zeitungswissenschaft infrage kommt? Wie soll er mit seinem Vater über seine politischen Überzeugungen reden?

Herberts Vater steht auf, sein Gesicht ist puterrot. Er presst die Hände zusammen, es scheint, als kämpfe er mit sich selbst. Explodieren oder implodieren steht zur Wahl, ist es zu verhindern? Herberts Vater bleibt unbewegt, seine Arme hängen inzwischen an ihm hinab, alles, was er sich für seinen Sohn erträumt hat, ist in wenigen Minuten weggebrochen. Herbert schaut seinem Vater ins schmerzverzerrte Gesicht. Dieses Gesicht wandelt sich zu einem glatten Antlitz, auf welchem man auszurutschen droht, sobald man sich dieser Fläche ausliefert. Vorsicht ist geboten.

»Herbert, ich glaube, wir müssen uns mal aussprechen, und zwar in aller Ruhe. Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.«

Geflüstertes Heucheln zwingt zum genauen Hinhören. Nicht einmal der Hund wagt mehr zu bellen.

»Vati, nein, es ist alles in Ordnung, das ... das ist mir nur so rausgerutscht, ehrlich.«

»Herbert, bitte mach mich nicht wütend. Dein Studium ist nicht so selbstverständlich, wie du glaubst. Nur weil ich weit weg auf dem Dorf lebe, kannst du mich nicht hinters Licht führen. Ich bin kein Dorftrottel.«

Herbert ist sich seiner Abhängigkeit mehr als bewusst. Der monatliche Scheck erlaubt es ihm, nur ein paar Stunden in der Woche zu arbeiten, sodass genug Zeit für das Studium, für die Schauspielgruppe, und seit Neuestem, für Aaron und dessen verrückte Eskapaden bleibt. Herbert wird von verzerrten Bildern umnebelt, Aaron, der schönste Mann, der ihm je begegnet ist und der sich ausgerechnet für ihn interessiert, sein Lachen, sein Selbstbewusstsein. Valentin, Regisseur der Theatergruppe, Kommunist ohne Wenn und Aber, ein Vorbild, streng und doch gerecht. Seine Professoren, die Vorlesungen, das Wissen, dass jede Staatsform unbestechliche Reporter braucht, die sich nicht beirren lassen und sich nur der Wahrheit verpflichtet fühlen. Herbert fühlt sich umarmt, wie viel Liebe, Zuneigung, Interesse wird ihm entgegengebracht. Eine innere Ruhe erwächst auf einmal aus ihm heraus.

»Vati.« Er sucht nach den richtigen Worten, ist sich darüber im Klaren, dass er viel verliert, wenn er sich für die Wahrheit entscheidet. Wie wäre es mit ein bisschen Wahrheit? Seine Augen finden sich in denen von Tante Klara wieder, die ihm sagen, dass er hierbleiben kann, was auch geschieht.

»Ich studiere Zeitungswissenschaften. Es tut mir leid, aber ich habe gespürt, dass mein Interesse für etwas ganz Neues gewachsen ist. Als Reporter kann ich die neue Sache mit vorantreiben. Kommunisten kämpfen für eine große Veränderung in der Gesellschaft. Menschen hungern, sind arbeitslos, werden von Vermietern auf die Straße gesetzt. Glaubst du, da kann ich mein Leben demütig Gott widmen, meine Augen verschließen vor all der Not?« Bleib ruhig, ruft sich Herbert zur Ordnung, seine Stimme zittert, sein scheinbares Selbstbewusstsein ist ihm kurzzeitig abhandengekommen, muss noch mal hervorgekramt werden. »Wenn es losgeht, bin ich ganz vorne mit dabei!« Herbert hat sein Ideal herausgeschrien, mit kräftiger Stimme. Sein Herz rast, aber sein Kopf ist wie befreit. Jedes Wort, das seinem Mund entsprungen ist, ist wahr. Es sollte reichen, mehr will er nicht erzählen, nichts von seiner großen Liebe.

Eddy hört und will es nicht glauben, sieht dabei in das entschlossene Gesicht seines Sohnes, beinahe zwanzig Jahre laufen vor seinen inneren Augen ab. Er allein hat ihn aufgezogen, gegen alle Widrigkeiten. Er will es nicht und dennoch rutscht ihm die Hand aus. »Herbert verzeih«, will er sagen, doch die Worte bleiben im Hals stecken. Erschrocken zieht er die Hand zurück, die auf der Wange seines Jungen einen Abdruck hinterlässt hat.

Herbert hat nicht mit der Ohrfeige gerechnet. Sein Vater hatte ihn doch nie zuvor geschlagen. »Vati, es war dein Traum, den ich dir erfüllen sollte ... ich kann das nicht, es tut mir leid.«

Sie sehen sich an, fremd sind sie sich in diesem Moment, und wissen es, unausgesprochen. Liebe ist manchmal nicht genug.

»Du mit deiner Kirche ...!«, Herbert schlägt verbal um sich. »Ich scheiße auf das ganze Getue, ich will nichts mehr damit zu tun haben, nur dass du es weißt!«

»Junge, so kannst du nicht mit mir reden!« Eddy stürmt aus dem Esszimmer, nimmt seinen Mantel vom Garderobenhaken, schreit: »Deine Beleidigungen treffen mich nicht so sehr wie die Lügen, die du mir seit Langem in deinen Briefen an mich schreibst.«

Noch bevor die Wohnungstür zuschlägt, ruft Herbert ihm hinterher: »Frag doch den Thälmann, der könnte dir schon sagen, wie es um unsere Sache steht!«

Eddy hört den Satz an der Wohnungstür zerschellen. Er steht auf dem Hausflur, ist durchzogen von Traurigkeit. Er dreht sich um, will die Klingel betätigen, lässt es, weiß, dass jetzt kein Gespräch möglich ist.

Das Zuknallen der Tür lässt Klara zusammenzucken, sie seufzt, schaut auf den Hund in seinem Korb, welcher schon eine Weile nicht mehr gebellt hat, und die Ohren hängen lässt.

»Nun«, seufzt sie, »warum muss ich es so nebenbei erfahren, dass du nicht mehr Theologie studierst? Du kannst doch mit mir reden, ich habe dir doch noch nie den Kopf abgerissen.« Klara wirkt nachdenklich. »Natürlich kannst du so lange hier wohnen bleiben, wie du möchtest. Ist doch sowieso nur eine vorübergehende Phase bei dir mit den Kommunisten. Alle, die nach Berlin kommen, spielen erst einmal verrückt. Das ist das Tempo dieser Stadt, jeder Neue will da mithalten. Ich nenne es immer das ›Berlin-Delirium‹, irgendwann geht das von ganz allein vorbei.«

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