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2 Die galaktische Einsamkeit


Wer über sein verbleibendes Leben nachdenkt und versucht, die noch vor ihm liegenden Jahre bewusst(er) zu gestalten, der kommt nicht an der Frage vorbei, was Menschsein eigentlich bedeutet (vgl. Wittwer 2014). Diese Frage lauert hinter jeder substanzielleren Suchbewegung. Sie führt uns auf einen schmalen, aber stark begangenen Grad. Auf dessen einen Seite verweisen die nur vernünftig abklärbaren, aber letztlich unbegreiflichen Dimensionen des Menschseins auf uns selbst. Sie lassen uns in der »zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt« (Camus 1967, S. 123) suchend, aber orientierungslos. Wir staunen über die Fragen, die wir aufzuwerfen vermögen, lauschen tief bewegt den sprachlichen Inszenierungen im intellektuellen, literarischen und wissenschaftlichen Angebot der Jahrhunderte und bleiben doch letztlich selbst sprachlos zurück, wenn wir zu durchschauen beginnen, dass alle diese Angebote bloß den Überheblichkeiten einer anthropischen Zentrierung entspringen. Dieser zufolge haben sich das menschliche Denken und Suchen zwar seit Kopernikus kosmisch dezentriert, indem die Menschen erkennen mussten, dass sie nicht das Zentrum oder gar das Maß aller Dinge sind. In ihrem Denken jedoch folgen sie weiterhin einer anthropozentrischen Erkenntnisweise, die mit den Bestecken zu Werke geht, die nur dem Menschen zur Verfügung stehen. Diese Bestecke sind:

•das vernünftig-rational schlussfolgernde Denken und Verstehen,

•die Sprache als Form der Symbolisierung und Überlieferung von Bedeutungen,

•das Sprechen als Möglichkeit, Wissen zu teilen, sich zu einigen, zu verabreden und gemeinsam zu handeln, sowie

•die Schrift als Modus der Verewigung und Überlieferung von Einsichten und Denkformen.

Diese Bestecke sind dauernd in Anwendung. Durch ihren Gebrauch entstehen eine »unermüdliche Aufklärung« und ein »endloser Text«, die unser Bewusstsein immer wieder neu einbetten:

»Ich spreche nicht mehr selber, sondern die Welt benutzt mich als Medium, um sich zu artikulieren. Sie spricht unaufhörlich zu mir, durch mich zu anderen und durch die anderen zu mir.« (Zielinski 2011, S. 39)

Auf der anderen Seite lauern die seichten Deutungen von Aberglauben, Formelhaftigkeit, Esoterik oder Verdrängung, die das Anthropozentrische ihrer Erklärungen gedankenlos ausblenden. Diese verursachen ein Stimmengewirr – doch auch bloß für die Wesen, die Ohren haben, um zu hören, und Augen, um zu lesen. Die Stimmen liefern uns zwar Antworten, können diese aber nicht beweiskräftig und wirklich tragfähig belegen. Zudem grenzen sie aus, indem sie unterscheiden zwischen denen, die der Bewegung folgen, und denen, die dies nicht tun. Das vorliegende Buch bevorzugt die vernünftige Reflexion eines philosophischen »Was können wir wissen?« und meidet die seichten Gewässer. Es ist dennoch nicht der Versuch, den überlieferten philosophischen Positionen eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr ist seine Absicht eine lebenspraktische – zunächst ausgehend von dem Staunen über die Lage, in der wir uns eigentlich befinden, ganz unabhängig davon, ob wir uns noch im Aufbruch befinden oder bereits beim Schreiben der letzten Kapitel unserer Restbiografie angekommen sind:

»Irgendwann vor 10, 15 oder 20 Milliarden Jahren mag sich jener unvorstellbar gigantische Urknall ereignet haben, von dem die Kosmologen annehmen, dass er die Geburtsstunde unseres (bekannten) Weltraums ist – mit Milliarden von Galaxien und Sonnensystemen, mit ungezählten Planeten, Monden und Kometen … Irgendwann vor vier, fünf oder sechs Milliarden Jahren wird sich jenes Sonnensystem gebildet haben, dessen dritter Planet Erde genannt wird, dieser abgeplattete Rotationsellipsoid, der sich täglich um seine Achse dreht und einmal im Jahr in einer elliptischen Bahn um die in einem der beiden Brennpunkte ›stehende‹ Sonne rast. (…) Irgendwann nach der Abkühlung der Oberfläche dieser Erde, die gegenüber der 332.270mal so viele Erdmassen aufweisenden Sonne geradezu ein Winzling ist, formte sich vor zwei, drei oder vier Milliarden Jahren Leben: In einer Art ›Ursuppe‹ aus Wasserstoff, Wasserdampf, Methan, Acetylen, Ammoniak und Cyanwasserstoff entstanden durch ultraviolette Sonnenstahlen, durch die Wärme zerfallender radioaktiver Stoffe und durch unvorstellbar heftige elektrische Entladungen Kohlenstoffverbindungen (z. B. Aminosäuren), die im Wasser der Erdoberfläche zu Eiweiß-, Nuclein- und Kohlenwasserstoffen mutierten. Diese günstigen Umstände gab es nur einmal auf der Erde, so dass unter den jetzigen Bedingungen eine weitere ›natürliche‹ Entstehung von Leben ausgeschlossen ist. Das Leben selbst ging und geht aber weiter: und obwohl Leben immer auch und immer wieder stirbt, ja ganze Lebensarten aussterben bzw. vernichtet werden, gibt es auf diesem Globus weit über eine Million Tier- und etwa 300.000 Pflanzenarten und mittlerweile über sechs Milliarden Menschen.« (Winkel 2005, S. 21)

Beim genauen Blick auf diese Entstehungsbedingungen ergreifen uns Schwindel. Wir beginnen zu verstehen, welchem galaktischen Zufall wir uns verdanken und in welcher Leere wir in einem Milchstraßensystem dahingleiten, das wir nicht mal gerade so »per Anhalter« durchqueren können, um zu schauen, wie es dahinter aussieht: Man bräuchte 100 000 Jahre, um unsere Milchstraße mit Lichtgeschwindigkeit zu durchqueren. Sie besteht aus 100 Milliarden Sternen – eine Zahl, die größer ist als die Anzahl aller auf der Welt verfügbaren Metallmünzen (Brandl 2014). Und doch entstanden aus diesen Bedingungen heraus Wesen, die verstehen konnten, dass es sie gibt, und die sogar die unvorstellbare Zufälligkeit und galaktische Randständigkeit ihrer Existenz erforschen und reflektieren können. Den Zeitpunkt des Auftretens des Homo sapiens datiert man nach dem letzten spektakulären Fund menschlicher Zähne in Israel im Jahr 2010 mittlerweile auf circa 400 000 v. Chr. (vgl. Bothma 2010), nachdem man lange diesen Zeitpunkt auf circa 200 000 v. Chr. datiert hatte. Rainer Winkel schreibt:

»Wir wissen nicht genau, wann und wie die Materie entstand, wann und wie auf unserer Erde aus toter Materie Leben entstand, wann und wie die ersten Menschen auftraten. Irgendwann vor ca. 100 000 Jahren reckte er seinen Kopf in die Höhe und … Wann und wie er entstand, blieb ihm damals ein Rätsel und ist ihm bis heute unklar geblieben – trotz (s)eines gigantisch gewachsenen Wissens und Könnens. Aber warum er da ist, wieso er hier und jetzt lebt, was seinem Leben Sinn verleiht … Diese Fragen haben sich bereits die allerersten Menschen gestellt, auf sie haben sie Antworten gegeben, und mit diesen Fragen im Kopf, im Herzen, im Wissen und Ge-Wissen wird der Mensch sterben, stirbt jeder einzelne von uns – wann und wo und wie auch immer.« (Winkel 2005, S. 22)

Wie gesagt: Philosophen wurden nicht müde, die menschliche Position angesichts dieser Ungeklärtheiten und Unvorstellbarkeiten gehaltvoll zu bestimmen. Und sie beließen es dabei auch nicht bei der erkenntnistheoretischen Frage »Was kann ich wissen?«, sondern sie verfolgten auch die von Immanuel Kant (1724–1804) aufgeworfenen weiteren Fragen einer stärker lebenspraktischen Philosophie:

•»Was soll ich tun?«,

•»Was darf ich hoffen?« und

•»Was ist der Mensch?« (vgl. Ingensiep/Baranzke/Eusterschulte 2004).

Diese Fragen markieren auch den Horizont, den die restbiografische Reflexion durchstreift – ergänzt und präzisiert allenfalls durch die pädagogische Leitfrage jeglicher Persönlichkeitsbildung »Wie man wird, wer man sein kann?« (vgl. Arnold 2016). Am Anfang aller Deutungen stehen nämlich die Fragen nach dem Denken und der menschlichen Wahrnehmung (»Was kann ich wissen?«) und die Einsicht in die Banalität und Durchschaubarkeit unserer Ich-Zustände. Diese verdanken ihre Substanz keiner ontologischen Gewissheit, sondern dem Wirken kognitiv-emotionaler Mechanismen, die sich in evolutionären Anpassungsprozessen über Jahrtausende so und nicht anders herausgebildet haben. Sie sind zwar bis zu einem gewissen Grad durchschaubar, konstituieren aber nachdrücklich das Selbstbewusstsein des Menschen, d. h. seine »Gedanken besonderer Art«, mit denen er sich »in Beziehung zu dem Ganzen der Welt (setzt)« und »ins Nachdenken über sein Selbstsein gezogen wird« (Henrich 2016, S. 9). Dies bedeutet: Wir können zwar die eigene Berechenbarkeit durchschauen, uns ihren Wirkungen aber nur schwer entziehen. Es lebt sich leichter, wenn wir uns die galaktische Einsamkeit zumindest mit selbstgemachter Gewissheit plausibler ausgestalten, als uns ganz dem verwunde(r)ten Staunen eines Immanuel Kant hinzugeben, der über den »bestirnte(n) Himmel über mir« genauso sprachlos blieb, wie über »das moralische Gesetz in mir« (Kant 1920, S. 205).

Ähnlich verfahren die Menschen auch mit ihren ethischen, religiösen und anthropologischen Suchbewegungen. Die kantsche Frage »Was soll ich tun?« muss ebenso ohne eine ontologische Basis entschieden werden, wie seine Frage »Was darf ich hoffen?«. Beide bleiben ohne eine Seinsbegründung, wie sie die Ontologie verspricht. Konkret bedeutet dies, dass das Sein, das menschliche, wie das galaktische, unbestimmbar bleibt, da zu ihm nur mittels der Wahrnehmungs- und Denkformen Stellung genommen werden kann, die es selbst in der Koevolution mit diesen Gegebenheiten hervorgebracht hat. Dazu zählen neben unseren Sinnesorganen auch die Sprachen und unsere kulturell geprägten Verhaltensgewohnheiten. Diese sind nicht in einem ontologischen Sinne »richtig«, bloß weil wir sie hervorgebracht haben. Sie haben sich allenfalls – bis auf Weiteres – als überlebenssichernd und orientierend erwiesen. Nüchtern betrachtet sind wir bloß mit uns selbst beschäftigt, wenn wir Stellung nehmen, hinterfragen oder nach Orientierungen suchen, und wir finden die Kohärenz, die uns trägt, auch bloß in uns und unserer Art zu denken, zu fühlen und zu handeln. Der Zugang zu einer Wirklichkeit hinter dem Offensichtlichen bleibt uns verschlossen. Gleichwohl öffnet sich die Wirkung dieser Verschlossenheit etwas für den, der um sie weiß.

Diese Einsicht ist ernüchternd. Wenn wir nicht verstehen können, was das Sein von uns verlangt, können wir uns bloß zu einer Position entscheiden. Gleichwohl fällt diese Entscheidung weniger grundsätzlich, streng oder gar unverrückbar aus, wenn wir verstanden haben, wie wir uns beständig treu bleiben und wiederholen. Bloß erkenntnis- und beobachtungstheoretische Ignoranz kann um die Wirklichkeit kämpfen, und nur wer den begrenzten Zeithorizont verdrängt, taugt zum Dienen oder zum Herrschen. Beides muss ihm zur Farce geraten – eine Einsicht, welche Montaigne (1533–1592) zu der Feststellung führte:

»Wer sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr. Für den hat das Leben kein Übel mehr, der die Wahrheit einsieht; das Leben aufgeben ist kein Übel.« (Montaigne 1976, S. 16)

Diese Befreiung von der Sorge ist zugleich der Beginn der Zivilisation mit ihren vornehmsten Maßstäben und ihrem Humanismus. Sie verdankt sich einer ethischen Motivation, keiner ontologischen Klärung – beides zu verschränken, d. h. die Ethik mit überzeugenden Argumenten aus einer Ontologie zu folgern, hat sich bislang als unmöglich, ja verhängnisvoll erwiesen. Die Maßstäbe eines zivilisierten und humanen Lebens können jedoch unser Tun auch leiten, wenn wir uns für sie entschieden haben. Und sie können auch unsere Hoffnungen speisen. Dabei nehmen wir als »genuine Weltfremdlinge« (Welsch 2012, S. 8) die Welt in Besitz, um bewusst das zu tun, was wir bereits immer tun konnten: die Welt mit unseren Konstruktionen und nach unseren Maßgaben zu erschließen – zunächst für uns und ohne anmaßende Geltungsversprechen für andere. Dieses Vorgehen ist nicht frei von Selbstwidersprüchlichkeit, wie Wolfgang Welsch in Erinnerung ruft: Wenn wir davon ausgehen müssen,

»dass unsere Erkenntnisverfassung nur eine menschenspezifische und nicht eine universale ist und dass unsere Erkenntnismöglichkeiten deshalb limitiert sind, so dass wir nicht die Welt-an-sich, sondern nur eine von uns Menschen konstruierte Welt erkennen können« (ebd., S. 53),

können wir letztlich nicht begründen, warum es sich so verhält und wie wir das belegen könnten. Welsch fragt deshalb zu Recht:

»Aber woher weiß diese Denkform eigentlich, dass es sich so verhält? Wie vermag sie ihre eigenen Basisannahmen zu rechtfertigen? Sie kann es nicht, und sie versucht es auch gar nicht. Sie kann gar nicht wissen, dass ihre Grundannahmen zutreffen; dergleichen wirklich zu wissen ist durch den Zuschnitt dieser Konzeption ausgeschlossen.« (ebd., S. 53 f.)

Unsere galaktische Einsamkeit ist somit eine doppelte: Wir wissen nicht, weshalb uns die Evolution hervorgebracht hat und welchem Zweck sie dient, gleichzeitig können wir uns über diese Fragen auch nur im Binnenraum unserer Sprach-, Erfahrungs- und Lebenswelt austauschen – ohne die Sicherheit, dass wir mit unseren Erkenntnissen tatsächlich über diesen Binnenraum hinaus reichen. Diese Selbstwidersprüchlichkeit, dass in konstruktivistischen Konzepten »mehr als sichere Erkenntnis vorgestellt wird, als man plausibel im Kontext konstruktivistischer Positionen belegen kann« (de Haan/Rülcker 2009, S. 61), kann jedoch nur demjenigen als »Problem« aufstoßen, der mit der Dezentralisierung des Menschseins seine Schwierigkeiten hat. Er verfolgt selbst eine grenzüberschreitende Intention und glaubt an die Möglichkeit universalisierbarer sowie objektiv gültiger Aussagen über das Sein oder über das, was man über das Sein zu erkennen vermag, ohne diese privilegierte Möglichkeit allerdings überzeugend herleiten und glaubwürdig letztbegründen zu können. Auch er hofft ohne Glaubwürdigkeit.

Wir bleiben in unserer galaktischen Einsamkeit – erklärenden Sprachspielen lauschend, die uns jedoch nicht wirklich durchdringen und die die Grenzen unserer Lebenswelt und unseres Planeten nicht zu überschreiten vermögen.

Zu letztbegründenden Fragen gibt es zahlreiche Vorarbeiten und Anregungen aus der Philosophie, kann diese doch geradezu als die Gesamtheit aller systematischen Bemühungen um Letztbegründungen angesehen werden. Einige dieser Positionen kennenzulernen, ist das Ziel der vor uns liegenden Suchbewegung. Es geht dabei um die nüchterne Fokussierung des Lebenszieles, auf das wir uns alle zubewegen – meist ohne Begriffe, Erklärungen und Konzepte, die uns das Erwartbare und (noch) Mögliche in den Blick zu nehmen helfen. Ontologische Ernüchterung kann uns dabei helfen, unsere restbiografische Orientierung »ohne Geländer« zu denken und zu gestalten, um eine Formulierung von Hannah Arendt aufzugreifen, welche auch diese Aufgabe, vor die sich jeder Mensch gestellt sieht, treffend zu charakterisieren scheint (vgl. Ahrendt 2006). Dabei entstehen Begriffe, Konzepte sowie auch zahlreiche »grenzunterschreitende« Vorschläge (vgl. Wolandt 1971, S. 171). Diese geben nicht vor, Gewissheiten zu stiften, wo diese nicht zu haben sind. Und sie trösten nicht, indem sie das Menschsein einer Seinslogik einordnen, die mit den menschlichen »Bestecken« nicht erschließbar ist. »Ohne Geländer« heißt: nüchtern und mit großem Mut, zwar ungetröstet und untröstbar, aber gleichwohl kreativ.

Meist gehen wir erschrocken und sprachlos mit den Zusammenbrüchen und Todesfällen in unserer näheren Umgebung um und versinken nicht selten in Ratlosigkeit, wenn uns selbst erste Schwächungen und Einschränkungen erreichen, ohne das Bewusstsein, dass es gerade diese Begrenzung des Lebens ist, die ihm seinen tieferen Sinn zu stiften vermag. Und gleichzeitig belächeln wir die späten Aufbruchsversuche, die wir ebenfalls beobachten können: die verspäteten Bemühungen, nochmals von vorne zu beginnen, oft mit einer späten Elternschaft einhergehend, oder die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen, sich selbst und anderen mithilfe von Kosmetik oder gar Schönheitschirurgie einen anderen restbiografischen Verfügungsrahmen vorzutäuschen.

Solche Bemühungen mögen lächerlich anmuten. Sie mögen auch Ausdruck einer Vorstellung von Leben und Menschsein sein, die die Gewissheit ihres eigenen Verfallsdatums ausblendet. Wir sind offensichtlich kaum in der Lage, aus dem Blick auf das eigene Ende unserem Leben einen Sinn und eine Orientierung zu stiften. Aber haben wir etwas Substanzvolleres anzubieten als eine mehr oder weniger fatalistische Untergangsgeschichte? Könnten diese Inszenierungen einer andauernden Lebendigkeit nicht auch Ausdruck eines »trotzigen Dennoch« sein? Dies zumindest ist die Grundhaltung des Existenzialismus, für den dieses Dennoch sogar zu einer »Versteifung« wird, wie der Lebensphilosoph Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) sie charakterisierte. Für ihn war diese Haltung jedoch ungeeignet, das Ganze der menschlichen Existenz zu erfassen, sie »entartet zu einer Haltung trotziger Versteifung, die weltlos in sich selber kreist, unfähig, die Realität außer dem Menschen zu begreifen und seine Aufgabe in ihr zu erfüllen« (Bollnow 2009, S. 269).

Doch was ist dieses Ganze der menschlichen Existenz? Ist es in seiner biografischen Figur ausreichend erfasst, wenn wir mit ihm das Sein des Menschen in einer Lebenszeit in den Blick nehmen und danach fragen, welche Deutungen ihn sicherer zu einem absehbaren Endpunkt zu tragen vermögen? Dieser Blick lässt vieles offen, wie z. B. das eigene Sein im Raum. Weder seine galaktische Einsamkeit wird ihm erträglicher noch die Zufälligkeit seiner historischen und regionalen Existenz. Diese herauszunehmen aus den denkbaren Erklärungsversuchen mag verkürzend anmuten, aber haben wir bei nüchterner Abwägung unserer Möglichkeiten eine andere Wahl, als die, das Transzendente aus unserer Positionsbestimmung vollständig auszuklammern, um uns im Hier und Jetzt zu versteifen?

»Im Kern geht es doch um die Frage, wie wir uns in unserer Zufälligkeit selbst bewusst werden können« – so der Zwischenruf eines Teilnehmers in dem erwähnten Seminar. »Mir gelingt dies – ehrlich gesagt – nicht. Ich weiß, dass ich mich zu jemand ganz anderem entwickelt hätte, wenn ich auf einem anderen Kontinent oder in einem anderen Zeitalter geboren worden wäre, und das macht mich nervös. Und ich kann auch nicht wirklich umgehen mit der Einsicht, dass dieser Planet, auf dem wir leben, in acht Milliarden Jahren von der Sonne verschlungen werden wird. Zu der Frage ›Wozu dann das Ganze?‹ habe ich keine Antwort, ich bin aber verwundert darüber, dass ich diese Frage aufwerfe. Irgendetwas in mir möchte nicht, dass das Menschliche untergeht: Wahrscheinlich das Gefühl, nicht umsonst gelebt zu haben! Wenn alles dereinst vergeht, frage ich mich, wozu wir dann noch hier einige Jahre zubringen sollen, wenn es nicht dieses verdammt schöne Leben zu leben gäbe! Gleichzeitig ist mir bewusst, dass dieses Leben nicht für alle Menschen schön ist. Es gibt Krieg, Hunger und Leid!«


Zweite Etüde: Der spirituelle Selbstreflektor
Versuchen Sie, die folgenden Fragen des spirituellen Reflektors auf sich wirken zu lassen, und spüren Sie, welche Haltung Sie zu ihnen haben! Malen Sie dann ein Bild, in welchem Sie dieser Haltung Ausdruck verleihen.
»Wachheit für letzte Fragen« (von Hentig 2004, S. 77) •Gibt es Gott – d. h. einen Schöpfer des Universums und Herrn der Geschichte? •Hat die Welt einen Sinn, einen Plan? •Was ist dieser Sinn, worin offenbart er sich? •Was ist meine Bestimmung in ihm? Warum bin ich? •Warum bin ich ich? •Bin ich frei, von jenem Plan abzuweichen? •Wohin führt das? •Was kommt danach?
»Schattenakzeptanz« (sensu Verena Kast) •Was ist es, was mich am Gegenüber stört?Was genau löst dieses Stören aus?Wie reagiere ich normalerweise auf solche Störungen?Welche »alten Bekannten« melden sich dabei zu Wort?Wie begrüße ich diese?Wo trage ich das Störende selbst in mir?Was wäre, wenn ich es auch bei mir zulasse? Im Einklang mit den unklärbaren Fragen leben (im Sinne eines durchspürenden Sokrates: »Ich weiß – und ich spüre –, dass ich nicht weiß!«) Zugewandtheit leben und in Beziehung stehenWas suche ich in den anderen?Wie gehe ich auf sie zu?Wie wirke ich (wenn sie offen reden würden)?Was vermag ich zu geben?Nehme ich sie zu ihren Bedingungen wahr?Sind die anderen Teil meiner Inszenierung oder widme ich mich ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen?Welche Rollen besetze ich dabei immer wieder (in unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensphasen)?
Schweigen, nachdem alles gefragt ist (sensu Wittgenstein) •Aus welchem Stoff ist das, was mir gewiss erscheint? •Mit welchen Worten drücke ich meine Gewissheit aus? •Kann ich dabei im Konjunktiv bleiben? •Kann ich »aushalten«, dass alles nur Worte und Texte sind? •Warum möchte ich wissen? •Was wäre, wenn ich unwissend bliebe?

(nach: Arnold 2014b, S. 227, leicht verändert)

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170 стр. 17 иллюстраций
ISBN:
9783035507430
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